„Die Poesie der Hörigkeit“ von Lea Singer

Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer - AstroLibrium

Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer

„Er ist dick, hässlich – aber es ist hoffnungslos, heute wie vor 20 Jahren habe ich den Eindruck einer schrecklich starken geistigen Verwandtschaft mit ihm, ehrlich gesagt, habe ich Angst… Es ist eine Art Gehirnvergiftung…“

Dorothea (Mopsa) Sternheim über Gottfried Benn an Betty George im September 1952

Faszination bis zur Hirnvergiftung. Zeilen, die viel andeuten, ohne etwas zu verraten. Zeilen aus der Feder einer Frau, deren Leben von der obsessiven Zuneigung zu einem Mann geprägt war, der sich ihr nie zugeneigt hatte. Zeilen aus der Feder von Dorothea Sternheim, die jeder nur liebevoll Mopsa nannte. Zeilen, die am Ende ihres bewegten Lebens zeigen, wie sehr sich das Gift der Leidenschaft in Körper und Geist eingenistet hatte und wie hilflos sie dieser fatalen Begierde gegenüberstand.

Fünfunddreißig Jahre, nachdem sie Benns Stimme zum ersten Mal gehört hatte, beendete sie einen Brief an ihn, wieder voller Ausflüchte und Unwahrheiten, mit dem Satz:

„Ich lege mich dem Meister zu Füßen.“

Dorothea (Mopsa) Sternheim an Gottfried Benn im Oktober 1952

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Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer

Die beiden Zitate lassen auf eine lebenslange verzweifelte Leidenschaft schließen, die in ihrer Einseitigkeit unerwidert blieb. Eigentlich der perfekte Stoff für einen Roman, sollte man meinen. Wenn man jedoch die Namen der beiden Protagonisten betrachtet, dann ahnt man schnell, dass es hier keiner Fiktionalisierung bedarf, wenn man über die Widersprüchlichkeit von Gefühlen schreiben möchte. Lea Singer hat sich dieser beiden Menschen angenommen und ihnen in ihrem aktuellen Buch „Die Poesie der Hörigkeit“ ein literarisches Denkmal gesetzt, an dem man jederzeit rütteln darf.

Lea Singer stellt nicht so sehr die Hörigkeit oder die Obsession ins Zentrum ihrer Geschichte. Sie nähert sich dem Dichter Gottfried Benn und „Mopsa Sternheim, der Tochter des Bühnenautors Carl Sternheim, behutsam und versucht zu erklären was aus heutiger Sicht nicht erklärbar scheint. Tagebücher, Briefwechsel und Gedichte sind die Basis für die wuchtige Aussagekraft ihres Buches. Menschenkenntnis, tiefe Empathie, das Verständnis des historischen Kontextes und die Fähigkeit, Ursache und Wirkung in ihre molekularen Bestandteile zu zerlegen, machen aus einer geheimen Obsession das Psychogramm einer verzweifelt einsam Liebenden.

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Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer – Mopsa Sternheim mit 12

Ich lerne Mopsa schon im Alter von 12 Jahren kennen und schlage mich schnell auf ihre Seite. Was sie bisher erlebt hat und auch im Jahr 1917 zu erleiden hat, ist prägend für ihr weiteres Leben. Schaut man sich Fotos von Mopsa aus dieser Zeit an, dann fällt ihre tiefe Verletzlichkeit auf, die alles überstrahlt. Die sexuellen Übergriffe ihres Vaters bestimmen ihren Alltag. Es gibt keinen Fluchtpunkt. Es gibt keine Privatsphäre und ihre Mutter Thea verschließt die Augen. Der einzige Mann, der sich nicht für sie interessiert und der nichts von ihr will, ist ein Gast im Hause ihrer Eltern. Gottfried Benn.

Abstoßend wirkt er und doch eilt ihm ein Ruf voraus, der die Frauenwelt seiner Zeit elektrisierte. Thea Sternheim erliegt der Faszination, himmelt den Dichter an und nimmt die Sorgen und verzweifelten Nöte der eigenen Tochter nicht wahr. Auch Mopsa verfällt dem grobschlächtigen Frauenarzt und Schriftsteller ohne sich erklären können, warum. Gottfried Benn ist unnahbar, abweisend und extrem gefühlskalt. Und doch entbrennt ein unsichtbarer Kampf zwischen Mutter und Tochter um einen Mann, der sich in der Rolle des angehimmelten Poeten mehr als gefällt.

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Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer

So beginnt 1917 eine Liebesgeschichte, die uns bis ins Jahr 1954 trägt. Einseitig und unerfüllt ist das Hoffen der jungen Mopsa. Eifersucht gegenüber ihrer Mutter Thea wird zur Triebfeder ihrer eigenen Triebe, die intellektuelle Verehrung für die Poesie des Wortmagiers übersteigt das Fassbare und mit zunehmendem Alter steigt das Maß der inneren Hörigkeit. Fortan ist es ein emotionaler Dämmerschlaf, der Mopsa einhüllt, wie das Leichentuch der Hoffnungslosigkeit. Die Weltgeschichte passt sich Mopsas Leben an. Was in der Depression des verlorenen Ersten Weltenbrandes beginnt, setzt sich in der menschenverachtenden Ideologie des Dritten Reiches fort.

Das Psychogramm Mopsa Sternheims ist so konturiert gezeichnet, dass man früh erkennen kann, wie sehr sie sich im eigenen Leben verstricken wird. Lea Singer führt uns beharrlich, drastisch und in eigenem Sprachrhythmus durch dieses zum Scheitern verurteilte Leben. Immer wieder scheint Mopsa kurz zu erwachen. Immer wieder stößt sie genau in diesen lichten Momenten jenseits der Drogen, der Gefühlskälte gegenüber anderen Männern und der Beziehungsunfähigkeit auf Gottfried Benn. Diese konstante Obsession führt sie in den Untergang.

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Die Poesie der Hörigkeit – Wenn Worte zu lebendigen Bildern werden (hier klicken)

Wo Mopsa Stabilität und Sicherheit sucht, wird sie bitter enttäuscht. Wo sie sich nur anlehnen möchte, trifft sie auf kalte Schultern und wo sie die letzte Chance wittert, Gottfried Benn ihre ewige Liebe zu gestehen, steht ihr die eigene Mutter erneut im Weg. Lea Singer skizziert kein Leben, sie zeichnet es und malt es aus. Wir gehen mit Mopsa in den politischen Widerstand gegen das Dritte Reich, werden mit ihr gefoltert und auch deportiert. Wir werden an ihrer Seite schwer traumatisiert aus Ravensbrück befreit und sagen mit ihr vor Gericht gegen die Täter aus. Doch immer, wenn wir hoffen, sie möge sich von Gottfried Benn lösen können, sehen wir, dass genau dieser Schritt unmöglich ist.

Lea Singers „Poesie der Hörigkeit“ hat eine ganz eigene Melodie, der man sich hingeben muss, wenn man Mopsa Sternheim kennenlernen möchte. Der Stil ihres Romans ist poetisch und verzaubernd, als würde die Autorin Traum und Alptraum mit Worten zu einer Geschichte verdichten. Gottfried Benns Gedichte bringen das Fass der überbordenden Gefühle zum Überlaufen, wenn Mopsa in ihnen nach sich selbst sucht. Ein faszinierender Künstlerroman, der in Konstruktion, Aussagekraft und Sprache hörig macht. Die Poesie der Hörigkeit wirkt wie eine Droge im Kampf gegen das Vergessen eines kleinen Mädchens, dem der eigene Vater die Sicherheit der Gefühle genommen hatte. Ein Verlust, den Mopsa nie wieder kompensieren konnte.

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Die Poesie der Hörigkeit von Lea Singer im Dialog mit Der Finsternis entgegen

Auch hier sprechen Bücher miteinander. Der Weg nach Ravensbrück, die Folter in den Kellern der Gestapo in Fresnes und die markerschütternden Schreie, die sie hörte, verbinden Mopsa Sternheim mit den deportierten Widerstandskämpferinnen aus dem Buch Der Finsternis entgegen“. Sie waren zur gleichen Zeit am gleichen Ort und es ist wahrscheinlich, dass sie sich nur durch ihre qualvollen Schreie begegneten. Nur trug Mopsa einen weiteren Dämon in sich: Den Dichter Gottfried Benn, den Folterknecht und Henkersmeister ihres hilfesuchenden Lebens.

Auch Constanze Matthes hat Ihren Blog Zeichen und Zeiten in hellHörigkeit versetzt.

„Giacinta“ von Luigi Capuana und „Die Poesie der Hörigkeit“

Im Schicksal vereint. „Giacinta von Luigi Capuana – Eine verletzte Kinderseele