Eroberung von Laurent Binet

Eroberung von Laurent Binet - Astrolibrium

Eroberung von Laurent Binet

Was wäre, wenn? Eine Frage, die sich hervorragend als Ausgangssituation für das literarische Schreiben eignet, weil sie die Seele von der Last der Realität befreit. Und sind diese lästigen Fesseln erstmal abgelegt, kann man fabulieren, was das Zeug hält. Was wäre, wenn? Eine Frage, die Laurent Binet extrem umgetrieben haben muss, bevor er auch nur die ersten Worte zu seinem neuen Roman Eroberung fand. Er, der ansonsten so realitätsverbundene, preisgekrönte französische Schriftsteller, muss sich darüber im Klaren gewesen sein, was er wagt, wenn er pure Geschichtsfälschung in den Mittelpunkt seines Schreibens rückt. Was wäre, wenn? Eine Frage, die bisher nicht konsequenter gestellt wurde, als in diesem Husarenritt durch die Weltgeschichte. Das ist keine Utopie, keine harmlose Anpassung historisch verbürgter Gegebenheiten an die Erfordernisse eines Romans. Das ist eine Neufassung der Geschichte. Es ist eine literarische Revolution, die Binet hier vom Stapel lässt.

Da hatte er sich einen tadellosen Ruf erworben, mit „HHhH“ im Jahr 2010 den Prix Goncourt gewonnen und sich als Autor etabliert, dem man glauben konnte, was er uns erzählt. Zu den Höhepunkten der literarischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gehört zweifelsohne seine brillante Geschichte „Himmlers Hirn heißt Heydrich„, die uns ins besetzte Prag entführte und zu Zeugen des Attentats auf den Vordenker der „Endlösung“ und Vollstrecker des Holocausts werden ließ. Was Binet jetzt jedoch in „Eroberung“ von uns verlangt, ist die völlige Abkehr von allem, was uns historisch heilig ist. Vergessen wir Jahreszahlen, vergessen wir Chroniken und die verbrieften Fakten der Weltgeschichte. Drücken wir einfach mal den Reset-Knopf im Zentrum des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit und starten das System neu.

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Eroberung von Laurent Binet

Laurent Binet dreht mit der Präzision eines französischen Fantasten an ein paar Stellschrauben der historischen Realität. Damit stößt er zugleich einige Denkmäler vom Sockel. verursacht einen heftigen Bildersturm auf die politische, soziale, kulturelle und religiöse Welt, wie wir sie kennen, und legt die Wurzeln zu einem Gedankenspiel über die Welt, wie sie heute aussehen würde, wäre sein Roman kein ironisches Fake voller „alternativer Wahrheiten“. Die Wikinger waren niemals in Südamerika? Falsch! Kolumbus hat Nordamerika entdeckt und ist gesund heimgekehrt? Falsch! Die Kultur der Inkas wurde durch spanische Eroberer ebenso vernichtet, wie das gesamte Volk? Falsch! Luther schlug in Wittenberg 95 Thesen zur religiösen Erneuerung an die Tür der Schlosskirche? Falsch! Die Geschichte Europas im 16. Jahrhundert war geprägt von dynastischen Fehden großer Königreiche im Wechselspiel mit dem Machtgehabe der katholischen Kirche? Falsch! Alles war ganz anders, glaubt man „Eroberung!

Es ist die Saga von Freydis Eriksdottir, die den Lauf der Welt verändert. Schon der erste Teil des Romans verändert unsere Geschichte total. Und dies alles, um mit einem kleinen Detail die Basis für den komplexen Rest jener Geschichte zu legen. Was, wenn die Wikinger mit ihren wendigen Drachenbooten die sagenhaften Küsten Südamerikas erreicht hätten? Was, wenn sie dort zwar Unheil gestiftet hätten, aber auch die Kunst der Eisenverarbeitung an die dortigen Urvölker weitergegeben hätten? Was, wenn die Entdecker der folgenden Jahrhunderte nicht nur auf Inkas stoßen würden, die im Gold baden, sondern eben auch noch stahlharte Waffen besäßen? Ja, was? Und was, wenn Christoph Kolumbus eben nicht in Nord-, sondern in Südamerika an Land gegangen wäre? Und schließlich die Gretchenfrage: Was, wenn die Inkas auf Europa neugierig geworden wären?

(Anm. Hier kommt es natürlich nicht zu den eigentlichen vier Reisen von Kolumbus. Ob er Hispanola, Kuba, die Bahamas oder das Festland betrat, ist bei Binet nicht relevant. Er ist da. Das reicht aus. Und dann nimmt das Verhängnis seinen Lauf.)

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Eroberung von Laurent Binet

Binet bleibt keinen Beweis schuldig. Er legt uns die Fragmente der Tagebücher von Kolumbus vor, die dessen Scheitern belegen. Er lässt es uns mit eigenen Augen lesen, wie der große Entdecker seine Schiffe verliert und in der neuen Welt stirbt. Und dann folgen schon die Atahualpa-Chroniken, in denen die Inkas von der Völkerwanderung berichten, die im 16. Jahrhundert einsetzt. Bestens informiert, ausgestattet und bis an die Zähne bewaffnet landen sie mit drei Schiffen und 300 Mann / Frau Besatzung plus ein paar Lamas im Hafen von Lissabon, um dem reichen Europa einen kleinen Besuch abzustatten. Hier nimmt die Eroberung ihren Lauf. Hier kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, weil nun alle Räder des binet´schen Räderwerks ineinandergreifen. Die Inquisition wird weggeweht, der Inka Atahualpa wird zum Machtfaktor in Spanien und die Herrscher Europas zittern wie Espenlaub.

Wie beim Domino-Day fallen nun die historischen Steine in einer Kettenreaktion, die uns sprachlos macht. Das 16. Jahrhundert wird im intensiven Hochwaschgang von allem historischen Ballast befreit und anschließend in Inka-Farben getunkt. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Als Leser kann man nicht anders, als sich diesem Bildersturm begeistert anzuschließen. Ja, wir wissen es natürlich besser. Klar. Alles ist erstunken und erlogen. Aber es ist gerade dieses Wissen, das uns aufjauchzen lässt, weil wir im Geiste jeden Schritt dieser brillanten Geschichtsfälschung nachvollziehen können. Als dann auch noch in Wittenberg die „95 Sonnenthesen“ ans Kirchenportal geschlagen werden, ist klar, was mit Europa passiert. Das große Zeitalter der Inka hat gerade erst begonnen und von Thomas Morus über Erasmus von Rotterdam bis hin zu Thomas Müntzer gehen die Gelehrten und Belesenen dem Inka Atahualpa auf den Leim.

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Eroberung von Laurent Binet

Es bereitet riesiges Vergnügen, Binet in seine ironische Geschichtsfälschung zu folgen. Er stellt unser Wissen auf die Probe und verleiht unserer Fantasie Inka-Flügel. Wir spinnen weiter, was er erzählt. Wie würde Europa heute aussehen, welche Bauten würden das Gesicht des Kontinents prägen und wem würden die Menschen huldigen? Wundervoll skurril, herrlich abgedreht und doch so wundervoll erzählt, dass man sich gerne voller Schadenfreude zurücklehnt und den Untergang der Inquisition beobachtet. Der Originaltitel des Romans lautet „Civilizations“ und erinnert nicht umsonst an einige etablierte Computerspiele, in denen es um die Simulation gesellschaftlicher Prozesse geht. Einmal falsch abgebogen, ein falsches Land angesteuert und eine Muskete oder ein Schwert dem Falschen in die Hände gedrückt, und schon ändert sich alles. Binet hat hier als auktorialer Gott agiert. Alle Geschicke der Welt lagen in seiner Hand. Und ich denke, er hat das Beste draus gemacht. Literatur. Ein neues Narrativ für die Inka, denen der Untergang zumindest vorerst erspart bleibt.

Eroberung ist ein meisterhaft konstruiertes historisches Spiegelkabinett, in dem die faktische Realität auf den Kopf gestellt, verzerrt, gedehnt und verdreht wird, bis man vor der spiegelverkehrten Abbildung der Welt- und Kulturgeschichte steht. Es ist Binets literarisches Können, das verhindert, dass wir uns als Lesende in diesem Irrgarten der gespiegelten Wahrheiten verlaufen. Was wäre, wenn? Eine Frage, die lange nach dem Lesen widerhallt…

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Eroberung von Laurent Binet

PS: Es ist geplant eine Verfilmung als Serie entstehen zu lassen. Ich bin davon überzeugt, dass „Eroberung“ auch die Bildschirme erobern wird. Bleiben wir einfach gespannt…

Historisch gilt es aus meiner Sicht noch einiges richtigzustellen. „Die Eroberung Amerikas“ von Franzobel ist ein entscheidender Schritt, um Binets Spiegelkabinett zu verlassen. Der historische Roman erscheint am 25. Januar 2021 bei Zsolnay und liegt mir schon vor. Ich folge Pizarro nach Peru und werde berichten!

Eroberung von Laurent Binet und Die Eroberung Amerikas von Franzobel - Astrolibrium

Eroberung von Laurent Binet und Die Eroberung Amerikas von Franzobel

13 Gedanken zu „Eroberung von Laurent Binet

  1. Mir hat das Buch auch riesiges Vergnügen bereit, vor allem die Vorstellung, dass Heinrich VIII. die Sonnenreligion annimmt, um mehrere Frauen haben zu dürfen…
    Kleiner Einwand: Kolumbus ist sowohl im Roman als in der Realität weder in Nord- noch Südamerika, sondern auf der Insel Hispaniola an Land gegangen (heutige Dominikanische Republik). Das Volk, auf das er trifft, sind die dortigen Ureinwohner, die Taino. Die wurden tatsächlich von den Spaniern fast völlig ausgelöscht.

  2. Ich habe vor einiger Zeit eine Besprechung im Radio zu dem Buch gehört und war da schon begeistert. Kurz war es wieder aus dem Blick geraten, danke fürs erneute Aufmerksammachen! Ich habe bislang noch nie ein Buch mit alternativer Geschichtsschreibung gelesen (die echte ist ja meist schon unglaublich), daher interessiert es mich sehr. Jetzt hast du aber auch das Buch von Franzobel angesprochen… schwierige Wahl, vielleicht ist Binet ein bisschen unterhaltsamer. Viele Grüße!

    • Ich bin dankbar für Franzobel, der mein Wissen jetzt wieder ordnen kann. Fake-History kann den Geist ganz schön fordern. Binet interessieren keine Fakten. Er verlegt den Tsunami von Lissabon mal eben 200 Jahre nach vorne, weil er die Katastrophe braucht. Da muss man dann erstmal wieder rausfinden…

  3. Pingback: "Eroberung" von Laurent Binet | Der Leser | Literaturblog

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