Der Archivar der Welt von Lia Tilon

Der Archivar der Welt von Lia Tilon - Astrolibrium

Der Archivar der Welt von Lia Tilon

Was kann die Fotografie? Gut, das klingt nach einer einfach zu beantwortenden und schon häufig gestellten Frage. Sie lichtet die Realität ab, hält Erinnerungen fest und ist für den Menschen so etwas wie eine ausgelagerte Festplatte unseres Gehirns. Wir sind auf Fotos angewiesen, um uns längst verstorbene Verwandte vor Augen zu halten und lieben es in unseren eigenen analogen oder digitalen Fotoalben zu blättern. Fast jedes Bild ist mit der Überschrift „Weißt Du noch“ versehen. Und früher? Ganz zu Beginn der Geschichte der Fotografie? Da brachte sie unbekannte Welten zu den Menschen nach Hause. Sie zeigte Bilder von Kontinenten, Gebirgen, Flüssen und Landschaften, in die man wohl selbst nie reisen würde. Aber Fotografie zur Völkerverständigung? Hat man davon jemals etwas gehört?

Die in Holland geborene Autorin Lia Tilon weiß darüber sogar ein ganzes Buch zu schreiben. Einen Roman, um genau zu sein. Bei näherer Betrachtung jedoch wird klar, dass es erst einer umfangreichen Recherche bedurfte, um im Weiteren fiktional agieren zu können. „Der Archivar der Welt“ ist nicht nur ein durch historische Quellen belegter großer literarischer Wurf. Man kann sich während des Lesens selbst auf Spurensuche begeben und wird schnell fündig. Es hat die beschriebenen Personen wirklich gegeben. Es hat das wahnwitzig anmutende Projekt, die ganze Welt auf Bildplatten festzuhalten gegeben und die damals entstandenen Fotografien sind bis heute erhalten. Nichts ging verloren. Nur ist vielleicht die Idee des Schöpfers dieses Archivs vielleicht ein wenig in Vergessenheit geraten. Lia Tilon hat einen Roman vorgelegt, der einer Pionierleistung gleicht.

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Der Archivar der Welt von Lia Tilon

Sie erzählt die Lebensgeschichte des Bankiers und zu seiner Zeit wohl reichsten Mannes in Europa Albert Kahn. Neben seinen wirtschaftlichen Erfolgen träumte Kahn einen unfassbaren Traum. Er wollte ein Archiv des Planeten erschaffen. Er wollte alle Erdteile fotografisch erschließen und dazu Fotografen in die Welt entsenden. Es waren die ersten Farbfotografien, die im Jahr 1908 eine Vision auslösten, die den Bankier bis zu seinem Lebensende verfolgen sollte.

„Hass schlägt keine Wurzeln“, dozierte Kahn mit viel Aplomb, „wenn wir in der Lage sind, dem Fremden ins Gesicht zu sehen. Wie ungewohnt dieses Gesicht auch sein mag, wir werden immer etwas von uns selbst darin erkennen. Wenn
der Andere erstmal in Farbe fixiert ist, kümmern wir uns um ihn.“

Was für ein humanistischer Ansatz, welch zutiefst völkerverständigendes Denken in Zeiten, in denen Europa den Rest Welt lediglich in koloniale Parzellen aufteilen wollte. Und was für eine Philosophie, in die er seinen ganzen Reichtum steckte, um Menschen einander näher zu bringen. Von 1908 bis zu seinem Tod im Jahr 1940 folgten zahllose Fotografen und abenteuerlustige Weltreisende seinem Ruf. Mehr als 75000 Fotografien sind das Ergebnis eines Mammutprojekts, das die Welt bis dahin nicht gesehen hatte.

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Die Fakten sind belegt. In den Collections Albert Kahn Hauts de Seine vereinen die Fotografien die Menschheit zu einer weltumspannenden Vernissage voller Porträts. Sie entstanden in einer Zeit, in der ein Weltkrieg alles zerriss und endeten, als ein zweiter damit begann das Grauen seines Vorgängers zu potenzieren. Sie entstanden in einer Zeit, in der man gegen das Fremde kämpfte, es verteufelte und als unmenschlich und wenig lebenswert erklärte. Albert Kahn schuf die Gegenbewegung zum Populismus im Auge des Orkans. Sein Vermächtnis ist grandios und sehenswert. Ebenso ist das Buch von Lia Tilon lesenswert, weil es eine Metaebene berührt, die wir der Fotografie kaum zugetraut hätten.

Dabei erzählt sie aus der Perspektive des Chauffeurs von Albert Kahn, auf dessen Tagebücher sie bei ihrer Recherche stieß. Genau dieser Alfred Dutertre war von 1908 bis 1940 an der Seite des Visionärs. Eigentlich als Mechaniker und Fahrer. Dann auch als Fotograf und Versuchskaninchen im Umgang mit der komplizierten Technik und den innovativen Verfahren der Farbfotografie. In ihn versetzt sie sich hinein. Ihn seziert sie liebevoll und fördert ein Rollenverständnis zutage, das gerade in der Rückschau auf die Lebensleistung seines Arbeitgebers von bestechender Relevanz ist.

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Da ist und bleibt er der treue Chauffeur, als er Albert Kahn bis kurz vor dessen Tod die Fotos der Sammlung ans Bett bringt und mit ihm in Erinnerungen schwelgt.

„Kahn ist inzwischen so gebrechlich, dass seine Sturheit fast verschwunden ist, und ich kann endlich das tun, wofür ich eingestellt wurde. Es ist meine Aufgabe, ihn sicher an sein Ziel zu bringen.“ 

Lia Tilon hat einen Erzählraum erschaffen, der längst vergangen ist. Ihr Roman ist Abenteuergeschichte, Expeditionsreise und wissenschaftliche Abhandlung zugleich. Im Mittelpunkt ihres Schreibens steht der Mensch. Derjenige mit der Vision, seine Gehilfen und all jene, die abgelichtet wurden. Wir begegnen ihnen und jeder Blick in jedes Auge zeigt, wie sehr Albert Kahn richtig lag. Die Bilder sind entfremdend, verbindend und im tiefsten Wortsinn grenzüberschreitend. Ihre Geschichte ist rund erzählt, flüssig zu lesen und fokussiert die wesentlichen Elemente in gestochen scharfen Farbbildern. Es lohnt sich, ihr zu folgen. Rund um die Welt, in Zelte, Paläste und die Wüste. Es lohnt sich, in seinem Lesen innezuhalten und sich zu überlegen, welche Chancen wir liegenlassen, wenn die Magie der Fotografie zur Banalität verkommt.

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Ein brillanter Roman voller Obsession, visionärer Strahlkraft und Beharrlichkeit. Wer immer noch nicht überzeugt ist, der möge sich einfach nur die Fotografie eines 14-jährigen irischen Mädchens anschauen. Entstanden am 25. Mai 1913. Genannt: „Irish Colleen“. Ihr wahrer Name: Mian. Es ist auch ihre Geschichte, die Lia Tilon erzählt. Es ist eine Geschichte des Stolzes, der Armut und der Ausweglosigkeit. Sie bringt uns das Mädchen näher. So nah, wie das Autochrom mit der Nummer A3640. Lassen Sie sich auf das Buch ein. „Der Archivar der Welt“ zeigt elf weitere Farbfotos, die unsere Sicht auf unsere Welt verändern können…

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Der Archivar der Welt“ von Lia Tilon / dtv Literatur / Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure / mit historischen Fotografien / 272 Seiten / 22 Euro

Ein Gedanke zu „Der Archivar der Welt von Lia Tilon

  1. Pingback: Das Museum der Welt von Christopher Kloeble | AstroLibrium

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