Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt – N. Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Einige Feststellungen seien mir zu Beginn dieser Rezension gestattet:

  • Ja, ich weigere mich seit Jahren erfolgreich, erwachsen zu werden.
  • Ja, ich bin leider völlig normal und deshalb unglaublich langweilig.
  • Ja, ich blicke auf eine Kindheit voller Konjunktive zurück.
  • Ja, ich bin nicht viel mehr als ein „Beinahe-Abenteurer“.
  • Und Ja, ich wünschte mir, es wäre anders gekommen.

Auch ich habe mir, wie so viele andere Kinder, am Ende des Lesens der großen Abenteuerromane gewünscht, ich hätte all dies selbst erlebt. Natürlich hätte es mir Spaß gemacht, an der Seite von Jim Hawkins auf die Schatzinsel zu reisen. Ich hätte sehr viel darum gegeben, mit den verlorenen Jungs in Nimmerland zu leben und Peter Pan zu meinen Freunden zu zählen. Sicherlich wäre ich Alice gefolgt und hätte mich im Wirbelsturm ins Wunderland treiben lassen. Und als Schiffsjunge an Bord der Nautilus hätte Kapitän Nemo seine wahre Freude an mir gehabt.

Hätte. Wäre. Da sind sie: Die Konjunktive meiner Kindheit. Letztlich habe ich es nur lesend in und zwischen den Zeilen in diese Geschichten geschafft. Nichts jedoch war je weiter von meiner gelebten Realität entfernt, als die großen Abenteuer meiner Helden. Wenn ich also heute meinen eigenen Kindern erzählen soll, welche spannenden Dinge ich in ihrem Alter erlebt habe, dann konjunktiviert sich meine Erlebniswelt. Ich hätte fast, ich wäre beinahe und einmal war ich ganz knapp davor… Ja, ich wünschte mir, dass es anders gekommen wäre.

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Und doch habe ich ganz tief in mir drin diese Abenteuer erlebt. Ich kann heute von ihnen erzählen, als hätte ich sie selbst erlebt und meine Kinder haben jetzt die Chance, sich auf die Spuren meiner Jugend zu begeben und meine Helden von einst für sich zu entdecken. Das Lesen selbst ist ein großes Abenteuer. Vielleicht das größte meines Lebens. Ganz ohne Konjunktiv, ohne jedes Vielleicht und Fast. Mein Lesen war und ist real. Mein Königsweg, niemals erwachsen zu werden und auch der schönste Weg, die eigenen Kinder vor einer fantasielosen Welt zu bewahren.

Sie sind es heute, die ihr Leben lesen. Sie sind es, die sich jetzt auf die Suche nach ihren eigenen Helden machen und letztlich sind sie es, die in vielen Jahren zu erzählen haben. Von ihren Konjunktiven, ihren Abenteuern und der kollektiven Schnittmenge aus Jugendbüchern, die sie an der Seite ihrer Eltern erlesen haben und denjenigen, die sie selbst entdeckten. Die Jugendlichen von heute sind die Multiplikatoren von morgen. Sie sind auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben. Sie finden neue Abzweigungen und stoßen in neue Welten vor. So wird unser Lesen um das Lesen unserer Kinder erweitert und zu einer fantastischen Erlebniswelt für unsere Enkel.

Vielleicht werden sie ihren Kindern von Archer B. Helmsley erzählen. Vielleicht ist es genau dieser neunjährige Junge, der Ihnen ans Herz wächst und der ihre Gedanken beflügelt. Vielleicht wird es dann daran liegen, dass sie sich ihm seelenverwandt fühlen. Denn Archer B. Helmsley hat so viel mit ihnen gemeinsam. Eltern, die so langweilig und abenteuerlos sind, wie ihre eigenen. Das Gefühl, im goldenen Käfig zu sitzen, damit nur nichts Gefährliches passiert. Und die unstillbare Lust, die Welt zu entdecken, Grenzen zu sprengen und eigene Erfahrungen zu machen. Auch wenn sie schmerzhaft sind. Nur müsste man dazu einfach mal rauskommen. Das Haus verlassen.

Und genau das ist Archer B. Helmsley nicht möglich.

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Denn Archer darf nicht raus. Seine Eltern schränken seinen Aktionsradius extrem ein und sorgen dafür, dass er nicht auf dumme Gedanken kommt. Diese Gefahr schwebt über ihm, da die Umgebung, in der er aufwächst schon sehr dazu verführen könnte. Nur sollte er keinesfalls auf dumme Gedanken kommen. Jedenfalls aus Sicht seiner Eltern, die alles unternehmen, um Archer eine behütete und möglichst abenteuerarme Kindheit zu ermöglichen. Es wäre ja noch schöner, wenn er seinen Großeltern nacheifern würde. Das gilt es zu verhindern. Mit allen Mitteln.

Archers Großeltern sind das genaue Gegenteil von Langeweile. Sie gelten als die bekanntesten Naturforscher und Entdecker in ihrem Land und das ganze Haus ist voll mit Exponaten aus aller Welt. Die Weidengasse 375 gleicht einem Museum und in jeder Ecke des Hauses finden sich ausgestopfte exotische Tiere und weitere Zeugnisse der Abenteuer der beiden Abenteurer. Und Archer stößt ins gleiche Horn. Der Apfel ist nicht weit vom Stamm gefallen, nur wurde er aufgesammelt und weggesperrt. Dumme Gedanken sind einfach zu gefährlich.

Das hat das Schicksal seiner Großeltern deutlich gezeigt. Seit ihrer letzten großen Expedition gelten sie als verschollen. Zuletzt sah man sie auf einem Eisberg. Seitdem haben sich ihre Spuren verloren. Das Forscherleben ist einfach zu gefährlich, als dass man es nun akzeptieren würde, Archer in die Fußstapfen seiner berühmten Großeltern treten zu lassen. Langeweile ist angesagt. Schulalltag, lernen, aufräumen, lesen, einen wohlerzogenen Eindruck vermitteln und auf keinen Fall auffallen. So plätschern Archers Tage dahin.

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt“ von Nicholas Gannon beginnt genau da, wo die Langeweile erdrückend zu werden scheint. Alles haben seine Eltern bedacht, nur nicht den inneren Willen ihres Sohnes, nicht nur selbst Abenteuer erleben zu wollen, sondern seinen Großeltern zur Hilfe zu eilen. Denn, dass beide noch leben ist für Archer völlig sicher. Als das Reisegepäck seiner vermissten Großeltern im Haus abgegeben wird, gelingt es ihm einen kleinen Koffer mit den Reiseaufzeichnungen in seinem Zimmer zu verstecken. Zwei Jahre waren seit ihrem Verschwinden vergangen und Archer ist inzwischen elf. Alt genug, den Koffer genau zu untersuchen.

Sein Inhalt führt Archer zu weiteren Entdeckungen. Die aufgezwungene Passivität verwandelt sich in aktives Suchen und langsam reift ein Plan. Tatenlosigkeit – das war einmal. Archer beginnt seine große Flucht in die Welt in kleinen Schritten zu denken. Er weiß genau, dass er keinen Verdacht erregen darf und ganz langsam, Schritt für Schritt wagt er es, seine Welt um ein paar Inseln zu erweitern, die seinen Eltern völlig harmlos erscheinen. Archer findet Freunde, knüpft Kontakte, gibt vor, gemeinsam zu lernen und niemand kommt auf die Idee, dass bei diesen Besuchen im neuen Umfeld der Plan zu einer gewagten Rettungsaktion entsteht.

Oliver J. Glub ist der erste Fluchthelfer in den Plänen von Archer. So sehr sich die beiden Jungs auch unterscheiden, so sehr begeistert sie die Aussicht auf ein Abenteuer und die Chance, dem langweiligen Alltag ein Schnippchen zu schlagen. Als dann auch noch Adélaide de Belmont in der Nachbarschaft einzieht, weht ein Hauch von Paris im beschaulichen Rosewood. Aber was führt eine elfjährige Balletttänzerin hierhin und ist sie vielleicht der Schlüssel für die beiden Jungs, den entscheidenden Schritt weiter zu gehen? Aus einem Trio beginnt ein Team zu werden.

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Nicholas Gannon gelingt ein fulminanter und fantasievoller Auftakt zu einer Reihe im Coppenrath Verlag, die im Herbst 2017 ihre Fortsetzung findet. Der Autor erzählt nicht nur eine der opulentesten Abenteuergeschichten für junge Leser, er illustriert sie auch in unnachahmlicher Weise. Das Eintauchen in die Welt des Archer B. Helmsley ist ein literarisches Wohlfühlprogramm von Format. Die Protagonisten werden von ihm so plastisch beschrieben und gezeichnet, dass es eine wahre Freude ist, ihnen durch die Abenteuer zu folgen.

Dem Coppenrath Verlag gelingt es, dem Jugendbuch ein so wertiges Äußeres zu verleihen, dass man als Leser denkt, es gerade aus dem Koffer der verschwundenen Forscher befreit zu haben. Und den Illustrationen gelingt es, zu vertiefen, was zuvor in wundervoller Sprachatmosphäre erlesen wurde. Kein Jungenbuch. Kein Mädchenbuch. Und ganz gewiss nicht ausschließlich ein Kinder- und Jugendbuch. Jeder Leser kommt auf seine Kosten und ich selbst kann es kaum erwarten, bis „Die höchst wundersame Reise zum Ende der Weltweitergeht.

Ein perfektes Buch für die Abenteurer von heute. Wie ich schon einleitend schrieb: Sie sind es heute, die ihr Leben lesen. Sie sind es, die sich nun auf die Suche nach ihren eigenen Helden machen und letztlich sind sie es, die in vielen Jahren zu erzählen haben. Ich denke, viele junge Leser von heute werden ihren Kindern später einmal von Archer, Oliver und Adélaide erzählen. Sie werden dieses Buch wie ihren Augapfel hüten und irgendwann einmal sagen können: „Fast wäre ich mal ein echter Naturforscher geworden.“ Und wer weiß,….

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon

Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt von Nicholas Gannon