„Das letzte Mal habe ich meinen Vater im Juni 1994 gesehen.“
So beginnt der Roman „Die Verlassenen“ von Matthias Jügler. Es ist die Stimme eines zurückgelassenen Sohnes, die sich hier Bahn bricht und uns unmittelbar in eine Geschichte zieht, die schon mit diesem einen Satz einen Sog erzeugt, dem man kaum mehr entfliehen kann. Es ist die Gefühlslage eines damals Dreizehnjährigen, der schon bis zu diesem Tag des Verschwindens seines Vaters ein Leben hinter sich hat, in dem emotionale Brüche zum Alltag gehörten. Es ist der Rückblick auf dieses Leben, der alle Wunden beschreibt, die unverheilt geblieben sind.
„Ich war viele Jahre der festen Meinung, dass es derlei Momente schon des Öfteren in meinem Leben gegeben hatte: Mutter, die 1986 starb, da war ich fünf, oder Vaters Verschwinden 1994, dann die Müdigkeit und die Schmerzen.“
Es ist der inzwischen erwachsene Johannes Wagner, der nach der Wahrheit und den Antworten auf die immer noch offenen Fragen seines Lebens sucht. Jetzt, in einer entscheidenden Lebensphase ist es wichtiger denn je zu erfahren, was damals wirklich mit seinen Eltern passiert ist. Johannes wird selbst Vater. Nur zu verständlich, dass er seinem eigenen Vater auf die Spur kommen muss. Dass die Antwort in einer Kiste mit Büchern seines Vaters im eigenen Keller auf ihn wartete, erkennt er erst, als er genau dort auf einen Brief stößt. Adressiert an seinen Vater. Abgestempelt in Norwegen und datiert auf den Mai 1994. Also nur wenige Wochen vor dessen Verschwinden.
Es sind entscheidende Zeitscheiben unserer Geschichte, die Matthias Jügler ins Zentrum seines Romans rückt. Es ist eine Kindheit in der DDR, die wir durch seine Erzählung hautnah miterleben dürfen. Es ist der ungeklärte Tod einer Mutter und eine lähmende Trauer, die von einem Vater Besitz ergreift. Es ist eine Kindheit, die für das spätere Leben von Johannes die Grundsteine legt. Brüchig und instabil. Selbst als die Wende alles verändern sollte, stand immer noch die Mauer zwischen seinem Leben vor und nach der Wiedervereinigung. Tiefe Gräben, die nicht zugeschüttet werden konnten und Verwerfungen, die zeitlebens spürbar sein würden. Es ist die wachsende Distanz, die es Johannes ermöglicht, seine Geschichte zu erzählen. Seine damalige Beziehung zur Mutter seines Sohnes längst gescheitert. Jasper, sein Sohn, inzwischen selbst fast erwachsen und eher ein Besucher im Leben seines Vaters. Erst jetzt brechen all jene Dämme der Vergangenheit, die ein Erzählen und Verarbeiten möglich machen.
Matthias Jügler beschränkt sich nicht auf die literarische Aufarbeitung einer Zeit, die nicht nur zwei Länder, sondern auch Menschen getrennt, wiedervereinigt und doch zerrissen hatte. Er schreibt keinen Wende-Roman. Er lässt uns an einem gelebten und doch nicht gelebten Leben teilhaben, das sich anders entwickelt hätte, wenn nicht… Ja, wenn sich die Vergangenheit hinter dem Eisernen Vorhang anders abgespielt hätte. Er erzählt von einem Kind der DDR, einem Heranwachsenden in einem neuen Land, vom Verschwinden des Vaters und dem Leben bei der Großmutter. Er erzählt vom Tod der Mutter im alten Land. Er erzählt vom Leben des erwachsenen Johannes Wagner, das durch die Dunkelkammer der Vergangenheit selten im Licht gebadet ist. Davon erzählt Matthias Jügler auf eine Art und Weise, die seinen Roman zum absoluten Pageturner werden lässt.
Der Verlassene berichtet aus seiner Perspektive und lässt all jene, die sein Leben tangierten als „Die Verlassenen“ auftreten. Die Spannung wächst ins Unerträgliche. In Rückblicken beleuchtet Matthias Jügler alle Ereignisse, die das Leben von Johannes prägen sollten. Eine Reise nach Norwegen soll Licht ins Dunkel bringen. Eine Reise zu der Frau, die seinem Vater damals jenen Brief schrieb. Warum hat er seinen Sohn im Jahr 1994 verlassen? Warum fehlt jede Spur von ihm? Was ist vor der Wende mit der Mutter geschehen? Wie hängt alles zusammen? Matthias Jügler lässt am Ende seines brillanten Romans keine Frage offen. An Stellen, an denen wir seine Erzählstimme im Tonfall seines Protagonisten erwarten, tauchen plötzlich Dokumente im Buch auf. Wir finden Fotos, handgeschriebene Notizen, inoffizielle und geheime Berichte einer Zeit, die noch heute für einen allwissenden und allmächtigen sozialistischen Staat steht.
Man muss bei Rezensionen gut darauf achten, nicht zu spoilern. Und doch ist es auch wichtig, Romane ein wenig einzuordnen, um ihnen zu den „richtigen„ Lesern zu verhelfen. „Die Verlassenen“ erzählt keine Familiengeschichte, in der es um Klischees von Beziehungsgeflechten geht. Dieser Roman ist aufgrund der gewählten Zeitscheiben ein zutiefst empathisches Bild in einem politisch explosivem Umfeld. Er zeigt auf, wie sehr sich ein diktatorischer Staat im eigenen Leben einnisten kann. Es geht hier auch um System-Mitläufer, bewusst Handelnde und bedenkenlos Agierende. Der Grund für das Verschwinden des Vaters ist durch die Vergangenheit in der DDR geprägt. Es ist bedrückend und ernüchternd, immer mehr Details zu erfahren, die das Leben damals dominiert und beeinflusst haben. Die Nachwirkungen sind immer noch spürbar. In der Konstruktion des Romans liegt ein tiefer Zauber. Nichts ist vorhersehbar, alles wirkt so wahrhaftig und echt und an keiner Stelle kann man auch nur eine kleine Pause in sein Lesen bringen.
Am Ende stellt Matthias Jügler seinen Protagonisten vor die entscheidende Wahl seines Lebens. Am Ende steht die große Frage, ob Rache und Vergeltung heilsam für die eigene Zukunft sein können. Der Autor hat hier relevante Schlusspunkte gesetzt, die auch nach dem Lesen Bestand haben. Ich bin gespannt, wie wir handeln würden, wenn wir vor diese Wahl gestellt würden und die Möglichkeit hätten, uns schmerzhaft für alles zu rächen, was uns widerfahren ist. Ein mehr als lesenswerter Roman, der Licht in die Dunkelkammer eines Lebens bringt, das so oder anders sicher tausendfach gelebt und durchlitten werden musste. Und doch bleibt die Hoffnung, denn:
„Hinter den Wolken ist der Himmel immer blau.“
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