
Hard Land von Benedict Wells – Astrolibrium
Da schreibt ein literarischer Jungspund über meine Achtziger Jahre. Da schreibt ein Autor, der in dieser für mich wegweisenden Zeit zur Welt kam über die Gefühle von Heranwachsenden und legt einen Coming-of-Age-Roman vor, der mich im Kern meiner eigenen Erinnerungen berühren und treffen sollte. Er, der 1984 geborene Schriftsteller Benedict Wells, wagt sich in eine Welt vor, die er nicht erlebt hat und die er eigentlich nur aus Filmen und vom Hörensagen kennt. Er möchte mir etwas erzählen, das sich in meiner Seele bis heute festgebrannt hat. Eine Zeit, in der man seine wenigen Freunde noch tatsächlich treffen musste, um etwas Gemeinsames zu erleben. Eine Zeitscheibe mit fest montierten Wandtelefonen und den eigenen Eltern als ständige Mithörer. Eine Zeit der atemlosen Musikaufnahmen mit einem Radiorecorder, Musikkassetten, die ich mit meinem Bleistift zu entwirren hatte und eine Zeit, in der das Internet noch Science Fiction war. Die Zeit von Bruce Springsteen, die Zeit der großen Festivals und die Zeit, in der ich mich in der Eifel so oft am falschen Platz gefühlt habe. Am Arsch der Welt.
Von dieser Zeit möchte er mir erzählen? In seinem neuen Roman „Hard Land„, der gerade das Licht der Bücherwelt erblickt hat. Er, der Jungspund. Mir, dem alten Hasen. Klingt jetzt so, als würde ich ihm das nicht zutrauen. Weit gefehlt, denn hier wagt sich ein literarisches Schwergewicht an ein Thema, dessen Exklusivrechte ich eigentlich für mich reserviert hatte. Zumindest in meinen Erinnerungen. Ich hatte die Befürchtung, in seinem Roman an eine Stimmung erinnert zu werden, die ich vielleicht zum Schutz vor den Geistern von einst ein wenig verdrängt hatte. Die eigene Unsicherheit, das eigene schüchterne Ich auf der Suche nach der großen Liebe und die Fehler, die ich damals schon fast zwangsläufig begehen musste, um erwachsen zu werden. Ich wusste schon vor dem Lesen, dass es eher ein Wagnis für mich war, sein „Hard Land“ zu betreten. In Sachen Wells bin ich nämlich ein emotional gebranntes Kind. Seine Romane „Vom Ende der Einsamkeit“ und „Becks letzter Sommer“ haben mich verändert und mein Lesen beeinflusst. Nachhaltig. Und es sollte erneut so kommen…

Hard Land von Benedict Wells
Willkommen in Grady, Missouri. Herzlich willkommen im Jahr 1984 und willkommen in einer Stimmungslage, die für einen kleinen Ort in dieser Zeit schon fast typisch ist. Ein Diner, ein altes Kino und ein paar Jugendliche, die sich auf ihrem Weg in eine Zukunft nach der Schule auf den Abschied aus der Heimat vorbereiten. Wirtschaftlich befindet sich das Land im Stillstand und die Hymnen von Bruce Springsteen, U2 und Billy Idol klingen mehr nach Abgesang, als nach Aufbruch. Willkommen auch im Gefühl und im Denken von Sam Turner, der uns mit auf die emotionale Reise in den Sommer seines Lebens nimmt. Für ihn stehen die Zeichen nicht auf Abschied. Mit seinen 15 Jahren ist es sicher, dass Grady auch weiterhin sein Lebensmittelpunkt bleiben wird. Und doch ist es genau jener Sommer, der alles verändert. Seine Mutter stirbt, seine Schwester Jean hat schon lange den Absprung in die Welt jenseits von Grady geschafft und das Leben mit dem Vater gleicht dem Leben auf einer trostlosen Insel. Und mittendrin ein unsicher vor sich hin lebender Junge, der nach dem Sinn seines Lebens sucht.
Nur in Sam Turner schreit alles nach Aufbruch. Nur in ihm regt sich der Widerstand gegen die Trostlosigkeit von Grady. Er verändert sich und damit alles. Es ist der Job im Kino, der ihn aus der Tristesse katapultiert, es sind die ersten richtigen Freunde, die er dort findet, und last but not least ist es ein Mädchen namens Kirstie Andretti, das sich zur ersten großen Liebe seines Lebens mausert. Benedict Wells findet schon auf den ersten Seiten seines Romans den richtigen Sound für eine Zeit, die sich in Melancholie aufzulösen schien. Weltschmerz, Perspektivlosigkeit und Abschied hängen in der Luft. Er findet auch den richtigen Sound in der Stimme von Sam Turner, der uns mit seiner Schüchternheit und Unsicherheit für sich einnimmt. Es ist die unverfälschte und extrem authentische Perspektive eines Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die in ihm zu einer großen Geschichte wächst. Es sind seine Worte, die sich festsaugen und sich in der Folge nicht mehr von unserem Leseerlebnis lösen wollen.
„Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex,
dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe.“

Hard Land von Benedict Wells
Benedict Wells erzählt, wie sehr Sam um die Freundschaft zu den Menschen kämpft, die Grady bald verlassen werden. Er nimmt uns mit ins alte Kino und lässt und erleben, wie aus dem wenig akzeptierten Jungen das Herzstück dieser kleinen Clique wird. Wir trauern mit ihm um seine Mutter, um viele Chancen und Träume. Darum, dass auch die Freundschaften, die er jetzt gerade schließt, endlich sind. Nach diesem Sommer bleibt nur er zurück. Universitäten rufen nach Kirstie, Cameron und Hightower. Und ich habe keine Chance, mich nicht mit Sam in dieses magische Mädchen zu verlieben. Sie allein steht für jede Verheißung des Sommers. Sie ist der Lichtblick im Dunkel. Sie ist es, die Sam Turner erweckt. Kirstie verkörpert alle Hoffnung, tiefe Zweifel und jedes denkbare Gefühl. Sich in sie zu verlieben ist wie im Treibsand zu versinken. Unnahbar, vergeben und dann wieder im strahlenden Schein ihrer Persönlichkeit steht sie für die verzweifelt und unglücklich scheinende Liebe. Ihre Worte elektrisieren Sam.
„Ich zähle jetzt langsam von zehn runter, und bei null bist du in mich verliebt.
Du hast keine Chance, es ist ein Zauber, und es dauert nur zehn Sekunden.“
Es ist die Magie dieser Menschen, die uns Benedict Wells in die Herzen schreibt. Es ist der Zauber von Grady, dem wir uns nicht entziehen können. Es ist eine Emotion, die er nicht beschreibt, nicht erzählt und nicht formuliert. Er lässt sie einfach entstehen und in uns wachsen. Das ist Literatur. Nicht zu schreiben, dass jemand traurig ist. Die Leser fühlen lassen, was mit den Menschen passiert, wie sie verändert werden. Wenn es Empathie erzeugendes Schreiben gibt, dann hier. Es sind die vielen Facetten eines Romans über den längsten Sommer im Leben eines jungen Menschen, die mich schon früh im Buch gefesselt haben. Es sind 49 Geheimnisse, die der Überlieferung zufolge in Grady zu entdecken sind. Es sind nicht zufällig 49 Kapitel, die sich Benedict Wells gönnt, um uns mit „Hard Land“ zu vereinen. Es ist die tiefe Poesie seiner Geschichte, die man einatmet und miterlebt.

Hard Land von Benedict Wells
Ich erlebte eine Art von bipolarem Lesen in diesem Roman. Ich wollte der Handlung folgen, wurde jedoch immer wieder in meine Erinnerungen getrieben, um mich an einer Geschichte zu reiben, die Reibungsverluste erzeugt. Der erste Kuss. Die erste trunkene Schwerelosigkeit. Die Verzweiflung angesichts bevorstehender Trennungen. All dies war Teil meines Aufenthalts in Grady, untermalt vom Soundtrack eines Romans, der sich im Herzen verankert, wie die eigene Jugend. Benedict Wells erzählt nicht nur. Er spiegelt eigene Hoffnungen, Träume und Wünsche in seinen Lesern. Sein längster Sommer ist unser längster Sommer. Seine Unsicherheit wird zu der von Sam Turner. Er nimmt uns mit auf eine Reise ins „Hard Land„, die uns nicht unverändert entkommen lässt. Wenn er von der Heimat Grady schreibt, dann zupft er an den Saiten meiner Vergangenheit. Seine Worte erhalten durch unser eigenes Erinnern eine literarische Sprengkraft, der man schutzlos ausgeliefert ist.
„Es war nie wieder so toll, nicht mal, als es danach richtig toll war. Ich meine, es ist in den letzten Jahren fast alles wahr geworden, was ich mir damals erträumt habe. Aber es war trotzdem nie so schön, wie davon zu träumen.“
Vertraut euch Benedict Wells an. Folgt ihm nach Missouri und lasst euch in einen Roman entführen, der seine Leser wie ein furioser Roadtrip durch die eigene Jugend fesselt. Man muss die 1980er nicht erlebt haben, um dieser Magie zu erliegen. Ja, man muss sie nicht selbst erlebt haben, um so darüber zu schreiben. Vielleicht ist es gerade die Distanz zu dieser realen Zeit, die es Benedict Wells ermöglicht hat, über Emotionen und die großen Fragezeichen im Leben zu schreiben. Mich hat er begeistert. Ich habe keine zehn Sekunden benötigt, mich in Kirstie Andretti zu verlieben. Ich habe mich vor dem 49. Kapitel in diesem Buch gefürchtet. Ich wollte das letzte Geheimnis von Grady nicht lüften. Vielleicht war sie genau hier wieder da. Meine Unsicherheit aus einer Zeit, in der sich das Erwachsenwerden noch so abstrakt anfühlte. Am Ende von allem danke ich gerade für dieses Schlusskapitel. Für jedes Wort…
Und wer mir allein nicht glauben mag, so sieht´s aus, wenn eine Jungspundin den Jungspund liest. Der weibliche Blick aufs Buch in der Kategorie KateView:

Hard Land von Benedict Wells – KateView
Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. JETZT.
„In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“
Selten hat mich bereits ein erster Satz so festgehalten – immer ein Zeichen, dass ich ein außergewöhnliches Buch in den Händen halte.
Vertrauensvoll ließ ich mich an die Hand nehmen, bereit, um mit Sam den Sommer seines Lebens zu erleben. Wir reisten gemeinsam in eine Zeit, die weder Benedict Wells noch ich erlebt haben. Und trotzdem SIND wir dort. Der Autor schafft es, dass wir Sam sind. Die Welt mit seinen Augen sehen, seine Gefühle fühlen, seine Gedanken denken, seine Ängste erleben. Jeden Augenblick des Lesens SIND wir in dieser euphancholischen Welt der wunderschönen Worte, der bemerkenswert treffenden Sätze und der ausdrucksstarken Bilder. Jeden Augenblick des Lesens WAREN wir in diesem Sommer – frei, jung, fast schon ein wenig kitschig – genau so muss es sich anfühlen. Sehnsüchtig auf die coolen Kids schauend, im Augenblick lebend.
All die Eindrücke, die warmen Steine des Bahndammes unter den nackten Füßen, der Nachhall des leise in der Ferne verschwindenden Güterzuges, das leise Sirren der Fahrradspeichen, der Geruch des Staubes in der Luft, das Gefühl des kalten Wassers des Badesees. All das war da, während ich mit Sam, Kirstie, Cameron und Hightower unterwegs war. All das, was ich selber nie erlebt habe, erlebte ich jetzt beim Lesen. In meiner eigenen Zeit war ich dafür nicht cool genug, jetzt durfte ich dabei sein.
Der Zauber des Erwachsenwerdens wird einem nicht bewusst, während man ihn selbst erlebt. Erst zurückblickend erkennt man die Dimensionen des eigenen Erlebens, des eigenen Erwachens und das, was einen zu einem selbst macht.
Und dann blicke ich zurück auf mein rappelvolles Leben und sage nur drei Worte:
„Gut gemacht, Benedict!“

Hard Land von Benedict Wells – KateView
Die Artikelbilder zeigen die Taschenbuchvorabausgabe des Rezensionsexemplars. In der Buchhandlung eures Vertrauens findet ihr das Buch in der gewohnten gebundenen Diogenes-Qualität. Mehr Informationen zu „Hard Land„, zu Benedict Wells, zu seinen Tourdaten und Hintergründen zum Roman findet ihr auf der „Hard-Land-Homepage„. Alleine schon der Trailer zum Buch ist sehenswert. Und jetzt, auf nach Grady mit euch.
In meinem Artikel zu Vom Ende der Einsamkeit findet ihr den Weg zum Interview mit Benedict Wells während der Leipziger Buchmesse 2016. Und im Artikel zu allen Radio-Talks in Leipzig ist eine Dia-Show dieses Gesprächs eingebaut. Er prägt meine Sehnsucht nach guten Geschichten bis heute. Die vorgestellten Neuerscheinungen des Frühjahrs stellen sich seiner literarischen Konkurrenz… Seht selbst…

Hard Land von Benedict Wells und mehr…
Update aus gutem Grund:
Gibt es eine Blaupause für Coming-of-Age-Romane? Gibt es ein Strickmuster, an dem man sich als Autor entlanghangeln kann, um im eigenen Werk keine Elemente zu vergessen, die von ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten vorgegeben sind? Mir scheint es fast so zu sein. Wer über das Erwachsenwerden schreibt, muss ein paar Zutaten in den großen literarischen Suppentopf werfen, auf die man absolut nicht verzichten kann. Sonst schmeckt das Ergebnis nicht nach kraftvoller Adoleszenz. Sonst bleibt ein fader Beigeschmack eines unfertigen Gerichts, das eher aufstößt, als genussvoll zu sein. Ich bin jenem Muster gefolgt und habe zwei Bücher aneinander gerieben…
Hier kommt ihr zu einem Vergleich: Grady meets Klein Krebslow…

Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau – Björn Stephan
Und gleich noch ein Vergleich: „Der große Sommer“ von Ewald Arenz
Also – Frisch ans Werk. Blogger (Jahrgang 62) lässt zwei Autoren (Wells / Jahrgang 84 und Björn Stephan / Jahrgang 87) zurück und wendet sich einem Autor zu, der sich als Zeitzeuge der 1980er absolut auf Augenhöhe befindet. Ewald Arenz (Jahrgang 65).
Hier geht´s zur Rezension

Der große Sommer von Ewald Arenz

Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …