Folgt mir in den „Zebrawald“ von Adina Rishe Gewirtz

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Zebrawald von Adina Rishe Gewirtz

„Mrs. Roberts Idee, während der Ferien drei Wünsche zu verwirklichen, gefiel mir so gut, dass ich jedes Jahr vor den Sommerferien meine drei Wünsche aufschrieb. Und so lauteten meine echten Wünsche:

    1. Größer werden
    2. Ein Abenteuer erleben
    3. Meinem Vater begegnen

Keiner dieser Wünsche war bisher in Erfüllung gegangen.“

Darf ich Euch Annie vorstellen? Nun, eigentlich hat sie sich gerade selbst vorgestellt, aber am Ausmaß unerfüllter Wünsche sollte man einen jungen Menschen nun wirklich nicht festmachen. Annie ist elf Jahre alt und lebt zusammen mit ihrer Großmutter und ihrem neunjährigen Bruder Rew inmitten der fast unberührten Landschaft am Rande des kleinen Städtchens Sunshine. Und nein, bevor Ihr fragt, das ist nicht so idyllisch, wie es klingt.

Denn außer der Großmutter „Gran“ ist niemand da, der sich auch nur annähernd um die Geschwister kümmert. Ihre Mutter hat sie schon vor Jahren verlassen und vom Vater wird nur eine kurze, aber umso schmerzvollere Geschichte erzählt. Bis auf ein paar Schulfreunde, gibt es wenig Kontakt in der Gegend und der einzige Reichtum, den sich die Geschwister teilen, ist der vor der Haustür beginnende Zebrawald mit seiner einzigartig verträumten Stimmung.

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Zebrawald von Adina Rishe Gewirtz

Weiße Birken und schokoladenbraune Eichen umgeben das kleine Häuschen, das so weit abseits der normalen Wege liegt, dass noch nicht einmal ein Briefträger regelmäßig vorbeischaut. Und da ist es nur völlig klar, dass gerade in den Schulferien die bedrückende Einsamkeit des Waldes und die Langeweile wie zarte Pflanzen inmitten des Zebrawaldes zu wuchern beginnen.

Wenn man die drei Wünsche von Annie genau liest, dann erkennt man schon, wie sie sich seit Jahren fühlen muss. Sie empfindet sich als zu klein und das Leben, das sie mit Gran und Rew führt ist nun wirklich nicht mit dem ihrer Freundinnen zu vergleichen. Und, wenn dann auch die eigenen Wünsche unerhört in der Tiefe des Zebrawaldes verhallen, dann bleibt von der eigentlichen unbeschwerten Jugend nicht mehr viel übrig.

„Denn selbst wenn ich einen Zaubertrank trinken und ein paar Zentimeter wachsen würde, selbst wenn wild gewordene Revolutionstruppen durch die Straßen des verschlafenen Städtchens Sunshine marschieren würden und sich damit meine ersten beiden Wünsche erfüllt hätten, war und blieb mein Wunsch Nr. 3 unerfüllbar.

Ich konnte meinem Vater nicht begegnen. Mein Vater war tot.“

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Wie man mit einem solchen Leben zurechtkommt, werdet Ihr fragen. Die eigene Mutter abgehauen und der Vater bei einer Schlägerei ums Leben gekommen und ziemlich isoliert von der Außenwelt? Annie hat ihren eigenen Weg gefunden. Sie flüchtet sich in ihre Fantasie und erzählt ihrem Bruder die wildesten Geschichten vom gemeinsamen Vater. Er sei Geheimagent, Astronaut und immer in geheimnisvollen Missionen unterwegs. Sie baut eine Mauer aus Lügen um ihre Einsamkeit und lenkt damit auch Rew ein wenig von seinem inneren Schmerz ab.

Der Zebrawald ist die perfekte Umgebung für einen Rückzug in die eigene Welt und wenn Annie etwas in ihrem Leben gelernt hat, dann dieses Leben, das auf Lug und Trug aufgebaut ist, mit weiteren erfundenen Geschichten zu untermauern. Im Lügen ist sie Meisterin und ihr großer Lehrmeister ist kein geringerer als Robert Louis Stevenson. Denn sein legendärer Jugendroman „Die Schatzinsel“ ist das absolute Lieblingsbuch der beiden Geschwister. Und könnte Annie nicht so gut lügen, es wäre ein wertloses Buch.

Denn in ihrem Exemplar fehlt das komplette erste Drittel des Romans um Jim Hawkins, Long John Silver und den geheimnisvollen Piratenschatz. Kein Problem für Annie. Sie erfindet den Anfang einfach neu und erzählt diese Geschichte ihrem jüngeren Bruder. Bei langen Streifzügen durch den Zebrawald entsteht auf diese Art und Weise eine weitere große Lüge, die mit den beiden Kindern viel gemeinsam hat. Man weiß genau, wo man gerade ist, hat aber eigentlich keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist.

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Zebrawald von Adina Rishe Gewirtz

Als eines Tages ein fremder Mann in ihr Haus eindringt, verändert sich das Leben von Gran, Annie und Rew auf einen Schlag. Nach einer Gefängnisrevolte in der Gegend des Waldes hat es einer der Verbrecher geschafft, vor der Polizei bis zu ihrem Haus zu flüchten. Und nun sitzen sie alle fest. Sie sind Geiseln eines geflohenen Sträflings im eigenen Haus. Die Tür verschlossen und keine Seele weit und breit, die auch nur zufällig vorbeikommen könnte. Hoffnungslos.

Doch als Annie ganz langsam bewusst wird, dass dieser fremde Mann ihr gar nicht so fremd erscheint, beginnt ihre Welt und damit ihr sorgsam erfundenes Lügengeflecht in sich zusammenzubrechen. Andrew Snow, so der Name des Flüchtlings, sieht nicht nur Rew sehr ähnlich, er verhält sich auch gegenüber Gran mehr als merkwürdig. Und als dieser Mann nach einigen Tagen zum ersten Mal etwas vom „Admiral Benbow“ erzählt, jener legendären Spelunke, in der sein Lieblingsbuch „Die Schatzinsel“ beginnt, erkennt Annie, wen sie da vor sich haben muss.

Im Zebrawald sieht alles schwarz und weiß aus. Die heftigen Kontraste bestimmen die gesamte Atmosphäre. Doch wie im Leben zeigen sich nun plötzlich Schattierungen, die zwischen diesen beiden Extremen liegen. Und Farbe entsteht dort, wo vorher nur eine grobe Skizze eines Lebens zu erkennen war. Annie steht erst am Rande des Erkennens, doch sie wird von diesem Andrew Snow viel mehr erfahren, als den Beginn der „Schatzinsel“.

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Zebrawald von Adina Rishe Gewirtz

Adina Rishe Gewirtz gelingt mit ihrem ersten Jugendbuch „Zebrawald“, gerade bei cbt erschienen, ein wundervolles Zusammenspiel einer modernen Erzählung mit einem der größten Jugendbuchklassiker der Literaturgeschichte. Wie kann man sein eigenes Leben führen, wenn man das erste Drittel nicht kennt? Wohin führt einen der Weg, wenn man keine Wurzeln hat? Warum ist man so, wie man ist? Und wie tief sitzt der Schlag, wenn man der Realität ins Auge schauen muss? Fragen eines Erwachsenwerdens, die von der Autorin einfühlsam und fesselnd aufgegriffen und beantwortet werden.

Mein Weg in den „Zebrawald“ war ein langsamer. Ich habe mich ganz vorsichtig herangetastet und versucht, in die Welt der beiden Geschwister einzutauchen. Ich habe mit ihnen über „Die Schatzinsel“ gefachsimpelt, habe mit ihnen darüber diskutiert, wer hier der Gute und der Böse ist, und was genau dazwischen liegt. Als sich die Tür des Hauses hinter Andrew Snow schloss, wurde mir klar, dass der „Zebrawald“ eine ganz eigene „Schatzinsel“ ist und man erst auf Gold stößt, wenn man die größten Gefahren überstanden hat. Die Wahrheit ist auch hier der größte Schatz!

Dieser Roman könnte als Theaterstück mit nur wenigen Requisiten aufgeführt werden. Ein paar Bäume und ein kleines Haus. Die Magie der Geschichte entsteht durch die Hauptfiguren, ihre Dialoge und das große Familiengeheimnis, das so tief inmitten des Zebrawaldes verborgen scheint. Ich habe selten ein Jugendbuch gelesen, das mit einem so überschaubaren „Bühnenbild“ und doch mit einer solch großen Portion Liebe und Einfühlungsvermögen den Weg direkt ins Herz seiner ewig jungen Leser findet. Wenn ihr die Schatzinsel liebt, dann wandert doch mit mir in den Zebrawald. Und wenn Ihr die Schatzinsel noch nicht gelesen habt – am Ende des Zebrawaldes werdet ihr Sehnsucht nach diesem Klassiker verspüren.

Jugendbücher bei AstroLibrium - Ein erlesener Schwerpunkt

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