Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Zerstörung von Cécile Wajsbrot - Astrolibrium

Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Werfen wir heute einen aufmerksamen Blick auf unser Land, dann fragt man sich, ob unsere Gesellschaft mit ihrem Wertevorrat langsam zersetzt wird. Man stellt sich die Frage, wie Deutschland aussehen würde, wenn Menschen an die Macht kämen, deren Ansichten nichts mit unserem demokratischen Grundverständnis zu tun haben. Es wird zum Horrorszenario weltoffener Menschen, akzeptieren zu müssen, dass eine Haltung um sich greift, die an die braune Ideologie der Nazis von einst erinnert. Beschneidung von Kultur, Ausgrenzung von Minderheiten, Einschränkung der Pressefreiheit und eine Abkehr von der historisch verankerten Verantwortungskultur gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus gelten schon jetzt als erklärte Ziele einer Partei, die sich als einzige Alternative für unser Land präsentiert und Menschen im Schleppnetz fängt.

Was, wenn sie an die Macht kämen? Was, wenn wir den Moment verpassen würden, noch aktiver gegen das Alternativlose in ihren Ansichten vorzugehen? Was, wenn wir in einigen Jahren mit verwunderten Augen auf ein Land blicken, das auf der Strecke der Geschichte den Rückwärtsgang eingelegt hat? Was, wenn wir unterschätzen, welches Ausmaß von Zerstörung schon heute an den Grundfesten unserer Demokratie rüttelt? Es ist extrem bitter zu erkennen, dass meine Ängste die Hoffnungen einer großen Zahl von Menschen sind. Menschen, die in meinem Umfeld leben und auf den Punkt warten, an dem wir alle nicht wachsam genug sind. Was ist, wenn man einen Roman liest, dem ein solches Szenario zugrunde liegt? Ein Roman, der aus der nahen Zukunft zu seinen Lesern spricht. Aus einer Zeit nach der Zerstörung der Demokratie. Einer Zeit, in der der Machtwechsel vollzogen ist, man auf den Trümmern der Vergangenheit die Diktatur errichtet hat, die sich so deutlich abgezeichnet hat? Dann muss man einfach lesen.

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Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Cécile Wajsbrot ist es gelungen, mit Zerstörung eine Dystopie zu verfassen, die in der Konstruktion eine zeitlose Relevanz erlangt. Das gelingt durch ein Höchstmaß an Anonymität in den Rahmenbedingungen ihrer Geschichte. Konkret wird sie nur selten und genau das lässt uns den Spielraum, den wir benötigen, um das Horrorszenario auf unsere Gesellschaft zu übertragen. Konkret ist Paris als Schauplatz. Das war es schon. Was sich genau zugetragen hat, wie es sich entwickelte und wann es wirklich begann, ist nicht erkennbar. Fest steht, dass sich Frankreich in einer Diktatur befindet. Konkret zu erkennen sind die Einschränkungen, die der Bevölkerung auferlegt sind und aus all diesen Fakten lässt sich ein erstes Mosaik einer Ideologie ableiten, die das Leben der Menschen in klare Bahnen lenkt.

Und diese Einschränkungen machen das Leben der anonymen Protagonistin zur Qual. Sie, die ihr ganzes Leben dem Lesen und Schreiben gewidmet hatte, findet sich in einem politischen System wieder, das ihr den Lebensraum raubt. Nichts ist mehr so, wie vor der Machtergreifung der (ebenso anonymen) Diktatoren. Jede Einschränkung ist ein Schlag in ihre intellektuelle Magengrube.

* Bücher werden konfisziert,
* das Schreiben wird verboten,
* die Kultur erfährt einen inhaltlichen Bildersturm,
* seichte Unterhaltung wird zum Programm, echte Inhalte verschwinden,
* die Grenzen sind geschlossen,
* Pflicht-Apps machen soziale Medien zum überwachten Raum,
* die freie Meinungsäußerung ist abgeschafft,
* die Vergangenheit hat ausgedient,
* alles, was älter ist, als 10 Jahre ist zu vernichten
* dazu gehören Familienfotos, Briefe und persönliche Aufzeichnungen
* nur noch die Zukunft zählt,
* das Gedenken an die Opfer von einst wird abgeschafft,
* es gibt nur noch Sieger und Verlierer im System,
* die persönliche Vergangenheit jedes Einzelnen wird gelöscht,
* das Denken wird zerstört…

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Zerstörung von Cécile Wajsbrot

All ihrer Waffen beraubt, versucht sich die Liebhaberin der geschriebenen Worte an die Anfänge zu erinnern. Sie sieht die Zeit vor sich, in der die Dialoge in den sozialen Medien zusehends hasserfüllter wurden, in der Fakenews die Welt eroberten und sich Parolen Raum verschafften, mit denen den ewig Gestrigen der Kampf angesagt wurde, und von der Chance derer die Rede war, die bis jetzt keine Zukunft hatten. Sukzessive breitete sich das neue Denken aus. Der Freundeskreis schrumpfte, Kommunikation in jeder Form wurde zum Wagnis und die Menschen um sie herum waren zufrieden, weil die Zeit so unterhaltsam war. Theater dienten nur noch dem Seichten, im TV sah man nur noch die Berieselung fürs Volk und die Restaurants waren gut gefüllt. Erst als man am eigenen Leib spürte, was es bedeutet, der eigenen Vergangenheit zu entsagen, ist die Stimmung in eine allmächtige Tristesse gekippt. Was dagegen tun? Wie agieren?

Hier kommt ihre Stimme ins Spiel. Wenn die „Weiße Rose“ keine Flugblätter gehabt hätte, wie hätte der Widerstand ausgesehen? Was kann man tun, wenn man sich nicht mehr mit geschriebenen Worten wehren kann? Wen erreicht man? Hier kommt ihr eine Aufforderung einer Gruppe anonymer Widerständler als greifbare Alternative vor. Man muss sich mit der Stimme wehren. Sie sei ausgewählt. Einen Sound Blog sollte sie mit ihren Erlebnissen füllen. Geheime Aufnahmen, die ausgestrahlt würden. Gegengewicht zur Zensur des geschriebenen Wortes. Verbindlich, konkret, die Zusammenhänge und Konsequenzen beschreibend. Und so beginnt sie schließlich zu sprechen. So bekommt sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie fühlt sich einem Netzwerk zugehörig und denkt, auf diese Art und Weise, ihren Beitrag zur Befreiung des Landes leisten zu können.

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Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Diese Dystopie ist wie ein Manga-Comic. Die Gesichter sind nur konturiert, lassen in jeder Hinsicht jedoch den Freiraum, das Szenario mit der selbst empfundenen Realität zu füllen. Man erfährt nichts über die Ideologie der Diktatur, der Widerstand bleibt fast unsichtbar. Die Umgebung verschwimmt in der Anonymität und so bleibt eine Dystopie, die ihre Leser mit jedem Satz in die eigene Welt katapultiert. Hier ist kein Platz, um zu behaupten, das sei an den Haaren herbeigezogen, leben wir doch heute in einer Welt der Symptome, die Cécile Wajsbrot in der Phase vor der Zerstörung beschreibt. Hier geht es um die Angst jedes Einzelnen, das Momentum zu verpassen, in dem man noch etwas hätte verhindern können. Das ist ein großer französischer Roman, der unter dem Eindruck der Gelbwesten-Bewegung entstand, und die Französische Revolution in ihrer radikalen Form einer Volkserhebung tief verinnerlicht hat. Paris mit der eigenen Stimme zu befreien, was für eine Idee. Was für eine Motivation.

Dieser Roman steht für begeistertes und erschrockens Lesen. In der Anonymität der Rahmenbedingungen liegt seine Stärke. Niemand wird dieses Buch lesen und dann einer Diskussion auf Facebook zu Umweltthemen, Rechtsradikalismus, der Leugnung des Holocaust oder Corona-Disputen folgen, ohne an Cécile Wajsbrot zu denken. Im Hier und Jetzt fühlen wir die zerstörerischen Tendenzen ihres Romans. Wir werden im tiefsten Inneren an den Wurzeln unserer Wertvorstellungen gepackt. Wir schauen uns unsere kleine Welt an und hinterfragen, was sie ohne Erinnerung wert wäre. Was sie uns noch bedeuten würde, wenn alles, was älter als zehn Jahre ist, nicht mehr greifbar wäre. Selten hat ein Roman eine solche Aktualität durch die Auslassung konkreter und kritisierbarer Fakten erreicht. „Zerstörung“ ist ein Weckruf, der lange nachhallt.

Zerstörung von Cécile Wajsbrot - Astrolibrium

Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Genau diese Stärken wurden dem Buch im „Literarischen Quartett“ angekreidet. Es sei „so wahnsinnig unkonkret“, „seltsam unpolitisch“ und nur als „Angstpsychose“ zu verstehen. Hier griff die Diskussion für mich zu kurz. Es ging kaum noch darum, Leser für ein Buch zu begeistern oder sich über dessen Relevanz auszutauschen. Für mich ging es lediglich darum, wer seine Meinung eloquenter formulieren kann. Das geht am Ziel eines solchen Formates vorbei. Selten habe ich beim Lesen so gelitten, selten hat mich ein Buch so bewegt und in der Realität nicht mehr losgelassen. Als Redakteur von „Literatur Radio Hörbahn“ habe ich mich gefragt, was meine Sound-Blog-Beiträge heute bewegen oder verändern könnten. Die Poly-Anonymität und die Vagheit dieser Dystopie sind die Schlüssel zu ihrem Erfolg. Und das in einer Zeit, die ganz zufällig in einer virusbedingten Isolation verhaftet ist, die der Ansteckungsgefahr mit vergifteten Ideen in „Zerstörung“ so sehr entspricht. Aber hören Sie selbst. Mein PodCast zum Buch.

Zerstörung von Cécile Wajsbrot - Die Rezension fürs Ohr - Astrolibrium

Zerstörung von Cécile Wajsbrot – Die Rezension fürs Ohr – Ein Klick genügt…

Gäbe es etwas an diesem Roman zu kritisieren, dann vielleicht die Tatsache, dass es sich um ein Buch handelt. Was wäre das für ein Hörbuch. Wie intensiv könnte die Gänsehaut sein, den Sound Blog quasi als Ohrenzeuge zu erleben. Wie intensiv wären wir an die Stimme einer Frau gefesselt, die ihre geschriebenen Worte zu den Akten legt und sich hörbar neu erfindet. Vielleicht wird ein Hörbuchverlag auf das Werk aus der Feder von Cécile Wajsbrot aufmerksam. Vielleicht geht auch der Wallstein Verlag den neuen Weg angesichts der zeitlosen Dimension dieses Werks.

Zerstörung von Cécile Wajsbrot - Astrolibrium

Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Dieses Logbuch in Tönen wäre ein herausragender moralischer Kompass für all jene, die einen Leitfaden für Widerstand in einer Diktatur suchen. Die Autorin hat für diese Form des Widerstands die Metapher eines Leuchtturms treffend verwendet. Das Lichtsignal bestreicht das ganze Land. Nicht alles wird erhellt, aber es kommt und geht regelmäßig. Es zeigt Gefahrenzonen auf und verhindert Tragödien. Ein einzelner Leuchtturm reicht nicht aus. Sie sind Teil einer Gruppe. Für Cécile Wajsbrot befindet sich der bedeutendste Leuchtturm inmitten von Paris. Ich sah das Lichtsignal von der Spitze des Eiffelturms. Ich glaube an seine Macht…

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Zerstörung von Cécile Wajsbrot

Ein Nachtrag:

Die Dystopien von einst scheinen uns einzuholen. Sie werden in der Tradition von George Orwell und Ray Bradbury heute fortgesetzt von Autoren und Autorinnen, denen es darum geht, uns wachzuhalten. Das beste Beispiel ist hier „Zerstörung“ von Cécile Wajsbrot. Ich würde dieses Buch im Buchhandel neben „Fahrenheit 451“ dekorieren und Lesern die Chance eröffnen, sich diesen sozialkritischen Zukunftsszenarien noch intensiver zu nähern. Moralische Wegweiser und Frühwarnsysteme in dieser Qualität gehören zu den Ausnahmeerscheinungen auf dem Buchmarkt. Ich halte sie für extrem relevant. Hier geht´s zur brandaktuellen Buchvorstellung

Fahrenheit 451 von Ray Bradbury - Astrolibrium

Fahrenheit 451 von Ray Bradbury