Es ist jetzt schon fast sechs Jahre her, da wurde ich von einem Buch angefallen, mit Haut und Haaren verzehrt, und an Geist und Seele extrem verändert wieder in mein Lesen zurückgeworfen. Es war eine Zeit, in der das oberflächliche Lesen von mir Besitz ergriffen hatte und ich auf der Suche nach der ultimativen Inspiration war. Eine Zeit, die für mich immer noch mit einem Jahrhundertsommer in Verbindung steht, der nachhaltig in mir verankert bleibt. Es handelt sich um ein Buch, dessen Erfolg man nicht vorhersah und das sich durch Mundpropaganda, Literaturkritiken und Rezensionen langsam in die Herzen der Leser fraß. Ein Buch, von dem man noch heute spricht, wenn man von dem literarischen Highlight des Jahres 2013 spricht.
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies schlug damals eine Brücke mit hundertjährigem Fundament in eine Vergangenheit, die als der letzte Sonnenstrahl eines Zeitalters galt, bevor die großen Kriege die Welt verdunkelten. Ich hatte viel über die beiden großen Weltkriege, ihre Auslöser und Folgen, Täter und Opfer gelesen und geschrieben. Ich habe oft daran gedacht, wie meine Großeltern diese Zeit empfunden haben könnten und ich habe oft versucht, in mich selbst hineinzuhorchen, ob ich diese Vorboten der Weltuntergangsstimmung wahrgenommen hätte. Niemals zuvor jedoch in meinem Lesen hat mich ein Autor so einfühlsam an die Hand genommen und mir einen Blick in das Kaleidoskop eines Jahres gewährt, das noch heute als der letzte und längst vergangene Moment der Ruhe vor dem großen Sturm gesehen werden kann.
Ich reiste in das letzte jungfräuliche Jahr des 20. Jahrhunderts. Ich begegnete den großen und kleinen, den wichtigen und scheinbar unwichtigen Figuren, ich traf hier auf Menschen, denen ich zuvor nie begegnet war, die mir seitdem zu lieben Wegbegleitern in der Literatur wurden. Jeder Blick in dieses Kaleidoskop zeigte mir eine neue Episode und jede kleine Drehung dieses literarischen Panoptikums veränderte meinen Blick auf die mir bekannte Welt. Ich schrieb wie vom Wahn besessen über dieses Buch. Ich war ihm total verfallen, weil die vielen kleinen Geschichten in der Geschichte mich fesselten und nicht mehr losließen. Warum ich heute, so lange nach dem Lesen dieses Romans wieder zu schreiben beginne? Keine Sorge, ich werde mein damaliges Lesen nicht vor euch ausbreiten, wie einen längst plattgetretenen Teppich.
Ich hatte am Ende des Buches nur einen einzigen Wunsch an den Autor, der sich zur einstigen Artikelserie über seinen Roman übrigens so äußerte: „Welch wunderbare Anverwandlung meines Romans.“ Ich wünschte mir von ihm ein solches Buch für jedes Jahr des vergangenen Jahrhunderts. Ich wünschte mir den Menschen weiter folgen zu dürfen, sie aus der Perspektive des brillanten Erzählers weiter zu beobachten und ihre Geschichte bis zum Ende erlesen zu dürfen. Ein Wunsch, der mir nicht erfüllt wurde. In der Denkwelt des Florian Illies schien es nicht vorstellbar zu sein, das Dunkel jenes 20. Jahrhunderts zu beschreiben, dessen Sonnenuntergang er in unnachahmlicher Weise literarisch zelebriert hatte. Und doch jubiliere ich heute, weil ich gute Nachrichten habe, die ich nicht im Giftschrank der kleinen literarischen Sternwarte verschließen mag.
„1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“. Na, wie klingt das? Florian Illies hat wohl mit dem Jahrhundertsommer niemals abgeschlossen. Wie wir heute erfahren, hat der Erfolgsautor seit dem Erscheinen seines Bestsellers aus dem Jahr 2013 weiter recherchiert, nach großen und kleinen Geschichten gesucht und wird diese nun schon am 24. Oktober auf ganzen 274 Seiten auf den hungrigen Buchmarkt bringen. Für mich ist das ein wahres Fest fürs Lesen. Und nicht nur das. Ich habe mich mit dem Hörbuch wieder in den Jahrhundertsommer zurückgezogen, um aufzufrischen, was nun auch als Hörbuchfassung seine Fortsetzung erfährt. Ich tauche wieder ein und veranschauliche mir, auf was ich mich besonders freue.
Dabei sind es nicht nur neue Geschichten, auf die ich hoffe. Ich bin mir sehr sicher, dass Rilke immer noch Schnupfen hat (einer der Running-Gags dieses Sommers), ich denke mir, dass Klimt nach wie vor völlig nackt unter seinem Kittel malt und porträtiert und ich weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass die Blauen Reiter und Franz Marc immer noch bestrebt sind, Else Lasker-Schüler unter ihre zarten Arme zu greifen. Dies waren Geschichten, die mich 2013 prägten, meine Suche nach Blauen Pferden und Zeugnissen einer besonderen literarischen Freundschaft lostraten. Es war dieser Sommer des Jahrhunderts, den man noch heute bei AstroLibrium in allen Ecken aufspüren kann. Wenn mich jemals ein Buch beeinflusst hat, dann dieses. Wenn ich in meinem Lesen ein einziges Mal beim Aufspüren einer Fährte aus einem Buch geweint habe, dann hier. Unvergessen bleibt mir ein absolut magischer Moment, in dem ich auf Fotos eines jungen Mädchens stieß, die Florian Illies eigentlich nur am Rande erwähnt hatte. Wahrhaft verwunschene Bilder…
Die Fotografien eines britischen Colonels, der seine Tochter Christina in zeitloser Schönheit am Strand für die Ewigkeit festhielt, haben das Bild von diesem Sommer geprägt. Diese Bilder strahlten nicht nur eine geradezu majestätische Zeitlosigkeit aus, sie machten dieses junge Mädchen für alle Epochen dieser Welt unsterblich. Die Wahl ihrer Bekleidung allein ist in den frühen Jahren der Farbfotografie Grundlage für diesen emotionalen Meilenstein. Rot. Erst seit kurzer Zeit war man in der Lage, diese Farbe zu reproduzieren, aber genau bis zu diesem Zeitpunkt war es niemandem gelungen, diese Farbtöne auf solch beeindruckende Art und Weise mit Leben zu füllen. Randgeschichte könnte man sagen. Es ist viel mehr. Es ist ein Mosaikstein außerhalb des Mosaiks. Das ist der Spielraum der Inspiration, in dem wir uns so gerne ausleben.
Vielleicht versteht man jetzt, worauf ich mich wirklich freue. Es sind die Seiten des Lesens neben diesem Buch, von denen ich jetzt noch keinen Schimmer habe, die mich aber vielleicht erneut verändern und prägen werden. Es sind Geschichten, auf die mich Florian Illies direkt stößt, während er mir indirekt ganz andere Wege weist. Ich möchte euch schon heute einladen, zurückzublicken, die Artikel von damals zu lesen und mich zu begleiten, wenn der Autor weitererzählt. Ich kann es kaum erwarten, mich wieder in das Jahr 1913 fallenzulassen. Ich kann es kaum erwarten, neue rote Fäden zu finden und sie zu einem Lesemuster zu vereinen. Ich werde das neue Buch lesen und hören. Ich werde wie von einem Wahn besessen sein und mich außerhalb der Geschichte auf Geschichten zubewegen, die ich jetzt noch nicht kenne. Wird das ein goldener Herbst.
Die Lesereise aus dem Jahr 2013 in meinem AstroLibrischen Archiv:
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Die Reise in ein besonderes Jahr
„Das Blaue Pferd“ von Franz Marc… mit anderen Augen…
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Verwunschene Bilder
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – In memoriam Else Lasker-Schüler
Unter dem Schlagwort 1913 findet man alle Einflüsse auf mein heutiges Lesen…
Die Reise geht weiter: „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte„
Jetzt, kaum drei Jahre nach meinen Lese-Erlebnissen im Jahr 1913, spannt Illies den Bogen weiter. Elf Jahre statt einem einzigen liegen seinem Buch zugrunde. Elf Jahre, die sich vielleicht auch zum Begriff eines letzten Sommers vereinen lassen, weil nach ihm ein umso längerer Winter folgte, als noch Jahre zuvor.
Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls – 1929 – 1939