Im ersten Teil des Doublefeatures „Reden wir über Simon Stålenhag“ beschäftigte ich mich ausführlich mit der inspirierenden Kraft seiner dystopischen Geschichten und der Serien-Adaption seines illustrierten Romans „Tales from the Loop“. Schön, dass ihr den Weg auch zum zweiten Teil des Specials gefunden habt, denn wie versprochen geht es diesmal um eine Graphic Novel aus der Feder des schwedischen Allrounders mit einer komplexen Geschichte, grandiosen Bildern und zentralen Botschaften, die ich in dieser Art und Weise kaum jemals so eindrucksvoll wahrgenommen habe. Am Ende des ersten Beitrags über Simon Stålenhag schrieb ich:
Wer eher zu einem eigenständigen und „auserzählten“ Stålenhag greifen möchte, der sollte „The Electric State“ lesen. Hier schöpft er aus dem Vollen seiner visionär und kreativ fulminanten Erzählader. Hier brauchen wir keine Verfilmung, hier lässt das Buch keine Frage offen. Es ist nicht nur Hintergrund. Hier wird eine ganze Geschichte in Wort und Bild erzählt. Und was für eine Geschichte.
Heute möchte ich euch dieses großformatige Buch aus dem Fischer TOR Verlag näher vorstellen. Wenn ich unabhängig von der Amazon-Serie „Tales from the Loop“ einen ersten intensiven Zugang zum Werk des schwedischen Meisters suchen würde, „The Electric State“ wäre meine erste Wahl. Und dies aus guten Gründen.
Erstens liebe ich literarische Roadtrips, die mich in Szenarien entführen, die sich nicht statisch und wie kleine Kammerspiele entwickeln, sondern dynamische Reisen im Zentrum aller Handlungsfäden ansiedeln. Zweitens habe ich mit meiner Artikelserie über „Verlorene Mädchen“ in der Literatur ein Universum für mich entdeckt, in dem ich die Suche nach starken und tragischen Protagonistinnen in den Mittelpunkt meines Lesens gestellt habe. Auch im elektrisierten Land bin ich auf ein Mädchen gestoßen, das ganz auf sich gestellt einer gefährlichen Mission folgt und allen Widerständen zum Trotz mit Mut und unglaublicher Konsequenz ihr Ziel erreicht. Der Trailer zum Buch zeigt, wohin die Reise geht, was dieses Roadmovie ausmacht und mit welcher Brillanz uns Simon Stålenhag in eine Welt nach der Apokalypse entführt…
Hier sind wir gelandet. Im Amerika des Jahres 1997. Klingt nach Vergangenheit und längst erlebten Geschichten. Fühlt sich aber gar nicht so an. Es ist ein apokalyptisches Amerika, dem wir in den Illustrationen von Simon Stålenhag begegnen. Das Land sieht aus wie ein kunterbuntes Knallbonbon voller Werbung. Bei näherer Betrachtung jedoch erkennt man die Relikte eines längst geführten Drohnen-Krieges. Raumschiffe, Roboter und Sendeanlagen zeugen als Ruinen von der jüngeren Vergangenheit. Es ist ein sehr einsames Land, das wir mit einem Mädchen und seinem Begleiter, dem Roboter Skip durchstreifen. Zielstrebig wirkt Michelle, eine innere Mission liegt ihrer Wanderung im verdorrten Zentrum der Mojave Wüste zugrunde. Als sie auf tote Menschen stößt und sich deren Auto aneignet, geht die Reise durch den „Elektronischen Staat“ endlich los.
Simon Stålenhag vereint zwei Erzählebenen, die uns auf der Reise begleiten. Wir sehen das Land mit den Augen Michelles und werden durch Augenzeugenberichte auf die Hintergründe der Szenerie aufmerksam gemacht. Düster. Dystopisch. Die Technik ist außer Kontrolle geraten. Virtuelle Realität hat die letzten Menschen im Bann. Helme voller Unterhaltungsprogramme haben die Menschheit abhängig gemacht. Hier werden Gehirne manipuliert, Hirnströme gebündelt und missbraucht. Wer dem widersteht, der erlebt einen sprichwörtlichen „Burnout„. Nach dem Drohnen-Krieg haben Roboter die Kontrolle übernommen. Menschen finden sich nur noch als Hirnmarionetten der neuen Machthaber. Ein gefährliches Umfeld für ihre besondere Mission, denn nirgendwo sind Michelle und Skip sicher. Eine wahnsinnige Reise durch ein versehrtes Land beginnt.
Simon Stålenhag erzählt eine sehr bewegende Geschichte über die Dominanz der Technik und die Abhängigkeit, in die sich der Mensch freiwillig begibt. Ein düster und doch so real wirkendes Szenario, da er seine Visionen in durchaus bekannte und liebgewonnene Bilder eines knallig-bunten Amerikas einbettet. Furchterregend sind hier die Roboter und die an sie geketten Menschen in ihrem „Virtuel-Reality-Wahn„. Es ist die unschuldig kämpferische Perspektive der verlorenen Michelle, die uns an ihrer Seite zu Mitstreitern macht. Welchem Ziel sie folgt, erfahren wir erst während der Reise. Auf dem Buchrücken und auf der Verlagsseite zum illustrierten Roman findet sich ein klarer Hinweis darauf. Viel zu früh aus meiner Sicht. Sie sucht ihren Bruder. Das darf man spoilern. Unter welcher Prämisse und warum sie ihn finden möchte, das ist und bleibt das große Geheimnis dieses grandiosen Werks.
Stålenhag konfrontiert uns mit einer gesichtslosen Gesellschaft, deren technische Leistungsfähigkeit zur Versklavung der Menschen führte. Versuchungen wirken wie die Drogen unserer Zeit. Die Abhängigkeit von Computerspielen ist vielleicht nur ein erstes Symptom der Vision, die uns der schwedische Autor ins Gewissen schreibt. Die Kriege werden ebenso anonym und technisiert geführt. Ihre Relikte legen Zeugnis davon ab, in welche Sackgasse sich die Menschheit manövriert hat. Und doch gibt es die Hoffnung, die Kreisläufe der Selbstzerstörung zu durchbrechen. Michelle ist eine der wenigen im ganzen Land, die keine VR-Maske trägt. Ob es ihr gelingen wird, anderen die Augen zu öffnen? Ein schweres Unterfangen, wird sie doch nicht nur von Maschinen verfolgt.
Am Ende sitzen wir traurig vor einer Bilderserie, die zeigt, dass Simon Stålenhag Emotionen und Leser einfangen und berühren kann. Empathie mit einem kleinen Roboter empfinden zu können, basiert auf der großen Kunstfertigkeit des Autors.
Simon Stålenhag ist ein einzigartiger Meister seines Fachs. Sein Erfolgsrezept liegt für mich darin begründet, dass er neue Wege geht. Die Apokalypse liegt hinter uns. In jedem Kapitel, in jedem Bild und in jeder Zeile haben wir das Gefühl, in einer Zeit lesen zu dürfen, die dem Debakel folgt. Das macht uns zu aktiven Betrachtern von Bildern, in die wir uns so gut hineinversetzen können. Wer Stålenhag liest und beim Einkaufen in einem Technikmarkt auf VR-Brillen stößt, der nimmt seine Beine in die Hand. Wer hier kühl und locker bleibt, dem ist kaum noch zu helfen. Ich empfehle euch nicht nur diese Geschichte. Stålenhag gehört in jedes Bücherregal und gottlob sind wir nicht am Ende seiner Kreativität angelangt. Da kommt noch einiges auf uns zu. Ganz sicher…
„Things from the Flood“ erscheint im März 2021 bei Fischer TOR und spielt in einer Zeit, in der die Wissenschaft den Loop aus den Augen verloren hat. Digitalisierung und technischer Wandel schreiten in den 1990er Jahren voran. Der zweite Teil des „Loop-Universums“ könnte auch der Beginn einer Fortsetzung der Serie sein. Ich bin schon sehr gespannt und werde berichten… Hier geht´s zur Rezension...