Es fällt schwer, in diesen Tagen über „Rassismus„ zu schreiben, impliziert dieser Begriff doch die Existenz der Bezeichnung „Rasse„, wenn es um die Beschreibung einer ethnischen, sozialen oder territorialen Herkunft von Menschen geht. Dabei gibt es keine menschlichen Rassen in der Definition genetischer Abstammungslinien. Herkunft ist gänzlich frei von einem Rasse-Begriff, den wir eigentlich nur in Züchtungslinien von Tieren oder bei der Unterscheidung von Arten im Tierreich finden sollten. Und doch ist dieser Begriff immer noch salonfähig, in unserem Grundgesetz verankert und Teil einer Weltgeschichte, die umgeschrieben werden müsste, sollte man das Wort Rasse durch einen alternativen Begriff, wie zum Beispiel „ethnische Herkunft„, ersetzen.
Warum müsste man Geschichte umschreiben? Weil man alle Verletzungen gegen den humanistischen Denkansatz der Gleichbehandlung aller Menschen mit dem Wort Rasse in Verbindung bringt. Es gibt Rassenunruhen, Rassentrennung und für jene, die sich in ihrer Lebensphilosophie als höherwertig empfinden und bereit sind, andere zu unterdrücken, auszugrenzen oder gar zu ermorden, hat man den passenden Begriff „Rassist“ in die Welt gesetzt. Ich bleibe bei dieser Bezeichnung, weil es nur so gelingt, diejenigen zu brandmarken, in deren Denken die Reinrassigkeit der Herkunft wichtiger ist, als die Würde eines jeden Menschen. Rassismus darf nicht weichgespült werden. Auch, wenn wir uns von der Verwendung längst überholter Begriffe trennen, sollten wir in unserem Urteil gegenüber den selbsternannten Herrenmenschen eindeutig bleiben. Rassismus ist eine Geißel der Gesellschaft.
„Summ, wenn du das Lied nicht kennst„ von Bianca Marais führt uns ohne jeden Umweg in ein Land, in dem die weiße Minderheit ein System der Apartheid errichtet hatte, das noch heute unfassbar erscheint. Besonders, weil es sich so lange hielt, und erst seit 1994 der Geschichte angehört. Zumindest auf dem Papier. Rassentrennung. Kein anderer Begriff ist in der Lage zu definieren, wie sich das Leben in Südafrika für die herrschenden Weißen und die ausgegrenzten, unterdrückten und benachteiligten Schwarzen angefühlt haben muss. Die ehemaligen europäischen Kolonisatoren haben ein Gedankengut zu sozialem und faktischem Recht erhoben, nach dem nur sie in der Lage sein konnten, das Land zu regieren. Die für minderwertig erklärte Urbevölkerung Südafrikas wurde entmündigt und durch das System der Apartheid in ihre Schranken gewiesen.
Wer könnte diesen Zustand besser beschreiben als eine Autorin, die in Südafrika aufgewachsen ist? Wer könnte das besser beschreiben, als eine weiße Autorin, die in der eigenen Kindheit der privilegierten Schicht angehörte und die von einem schwarzen Kindermädchen großgezogen wurde? Wer könnte sich besser in jene indifferente Lage eines weißen Mädchens hineinversetzten, für das die Rassentrennung zum Leben und zum Alltag gehörte? Bianca Marais wagt nicht nur den Sprung in eine autobiografische Vergangenheit. Sie verarbeitet in ihrem Roman ihre eigene Kindheit, in der doch alles so behütet und schön war, dass man gar nicht an das Unrecht dachte, auf dem dieser Zustand beruhte. Bianca Marais sagt selbst, dass die neunjährige Robin ihres Romans sehr viel mit ihr selbst gemeinsam hat.
Wir schreiben das Jahr 1976 und befinden uns in Johannesburg. Die Apartheid führt zu heftigen Unruhen und der Schüleraufstand von Soweto ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Was als gewaltloser Protest schwarzer Schüler in den Townships begann, setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, in deren Folge nicht nur der Protestmarsch von den Weißen brutal beendet wird. Das Chaos bricht aus und die Polizei schießt in die Menge. Gerüchte über tote Schulkinder lösen die nächste Welle der Gewalt aus. In den folgenden Tage werden nicht nur wahllos schwarze Schüler von der Polizei inhaftiert, auch die schwarze Bevölkerung greift zu den Waffen. Die blutigen Unruhen fordern auf beiden Seiten zahllose Tote. Der Schüleraufstand wird noch heute als der Wendepunkt in der Apartheidpolitik in Südafrika angesehen. Dieser Impuls war nicht mehr einzudämmen.
Die neunjährige Robin verliert ihre Eltern, die aus Rache für die Gewalt der Weißen ermordet werden. Das behütete Mädchen ist in einer Familie aufgewachsen, in der die Rassentrennung alltäglich vorgelebt wurde. Schwarze wurden hier umgangssprachlich heftig ausgegrenzt. Beleidigungen waren alltäglich. Privilegiert lässt es sich gut leben. Wenn dann jedoch erste Risse im selbstherrlichen System auftreten, und man nur zur Minderheit im Land gehört, dann wird es eng, auch wenn diese Minderheit die Macht verkörpert. Revolutionen schreiben hier ihre ganz eigene Geschichte. Während Robin bei ihrer mit der Situation überforderten Tante Zuflucht findet, wendet sich unser Blick den eigentlichen Opfern des Schüleraufstandes zu. Hier verschwindet Nomsa bei den Protesten. Die schwarze Vorzeigeschülerin gehört zu den Anführerinnen des Marschs und niemand weiß etwas darüber, ob sie tot, inhaftiert oder geflohen ist. Nur ihre Mutter Beauty Mbali beginnt eine verzweifelte Suche am Ort des Geschehens.
Die Wirren dieser Tage führen diese beiden Menschen zusammen. Das elternlose Mädchen und die Mutter, die ihre Tochter nirgendwo finden kann. Hier verschwimmen die Grenzen, die zuvor von der Hautfarbe gezogen waren. Hier nähern sich Menschen aneinander an und fassen Vertrauen. Hier gibt Beauty die Geborgenheit, die Robin so sehr vermisst und Robin ihrerseits erweist sich als Rettungsanker für die verzweifelte Beauty Mbali. Ist das nur ein Burgfrieden mit begrenzter Lebensdauer? Wann brechen die Vorbehalte und Ressentiments auf? Wie lange kann das gutgehen und wie sehen die Menschen aus dem unterschiedlichen Umfeld diese Allianz? Eine Situation, deren Ausgang von Seite zu Seite des Romans ungewiss ist und bleibt. Einzig hilfreich kann eine Überlebensstrategie sein, die Robin verinnerlicht hat. Egal wie fremd einem das Leben erscheint, egal wie schwer einem alles fällt. Wo man sich wohlfühlt, sollte man Wurzeln schlagen. „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ wird zu Robins Mantra. Als Beautys Tochter gefunden wird, trifft Robin eine fatale Entscheidung.
Ein lesenswerter Roman, der durch seine Perspektivwechsel besticht. Wir finden keine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere, sondern blicken tief in ihr Innerstes. Bianca Marais schafft die Apartheid in ihrem Buch von Seite zu Seite ab und stellt in den chaotischen Zuständen dieser dramatischen Epoche zwei Menschen ins Zentrum ihres Romans, die aufeinander angewiesen sind. Dieses Lied habe ich mitgesummt, obwohl ich seinen Text nicht kannte. Gerade für jugendliche Lesende ein relevantes Buch, in dem Schüler*innen erkennen können, was es bedeutet, ausgegrenzt und zu minderwertigen Menschen erklärt zu werden. Das fängt mit der Bildung an und wenn jungen Menschen in der Schule verboten wird, die eigene Muttersprache zu sprechen, dann muss man auf die Straße gehen. Widerstand ist keine Frage der Zurückhaltung.
Ein bewusstseinserweiterndes Buch zum Thema „Apartheid“ und ein Buch, das uns dazu verleitet, uns intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Auch wenn dieser Roman aus meiner Sicht mit dem Handlungsstrang einer Zwillingsschwester von Robin ein wenig überfrachtet war, ist es der Autorin gelungen, Grenzen zu überwinden, deren Folgen bis heute spürbar sind. Wie nachhaltig hat sich Südafrika gewandelt? Was hat Nelson Mandela in seinen zentralen Botschaften des gewaltlosen Widerstandes nicht nur für sein Land hinterlassen. Eine aktuelle Reportage im MARE-Magazin „Zeitschrift der Meere“ stellt die Frage, wem heute die Strände in Südafrika gehören und ob man die alten Schilder „Whites Only“ wirklich für alle Zeiten entfernt hat. Geschichtlich ist die Apartheid überwunden. In den Köpfen der Menschen spielt sie immer noch eine Rolle. Wunden heilen nicht so schnell, wie wir es uns erträumen würden.
In meiner Artikelserie „Ich hatte einen Blog in Afrika“ finden sich viele Bücher, die nicht nur auf diesem facettenreichen Kontinent spielen. Es sind viele Bücher, die in uns Bilder verankert haben, wie sehr die Narben der Kolonisatoren noch heute wuchern. Es ist nie zu spät, die Ursachen des heutigen Black Lives Matter dort zu suchen, wo ihre Geschichte begann. Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung beginnen in Afrika. Ihre Folgen spüren wir weltweit. Dem Rassismus müssen Grenzen gesetzt werden. Dazu ist es wichtig, auch solche Bücher ins Gefecht führen zu können. Sie sind gewaltlose und doch höchst effektive Waffen im Kampf gegen den Rassismus…