Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais - Astrolibrium

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais – Astrolibrium

Es fällt schwer, in diesen Tagen über Rassismus zu schreiben, impliziert dieser Begriff doch die Existenz der Bezeichnung Rasse„, wenn es um die Beschreibung einer ethnischen, sozialen oder territorialen Herkunft von Menschen geht. Dabei gibt es keine menschlichen Rassen in der Definition genetischer Abstammungslinien. Herkunft ist gänzlich frei von einem Rasse-Begriff, den wir eigentlich nur in Züchtungslinien von Tieren oder bei der Unterscheidung von Arten im Tierreich finden sollten. Und doch ist dieser Begriff immer noch salonfähig, in unserem Grundgesetz verankert und Teil einer Weltgeschichte, die umgeschrieben werden müsste, sollte man das Wort Rasse durch einen alternativen Begriff, wie zum Beispiel „ethnische Herkunft„, ersetzen.

Warum müsste man Geschichte umschreiben? Weil man alle Verletzungen gegen den humanistischen Denkansatz der Gleichbehandlung aller Menschen mit dem Wort Rasse in Verbindung bringt. Es gibt Rassenunruhen, Rassentrennung und für jene, die sich in ihrer Lebensphilosophie als höherwertig empfinden und bereit sind, andere zu unterdrücken, auszugrenzen oder gar zu ermorden, hat man den passenden Begriff „Rassist“ in die Welt gesetzt. Ich bleibe bei dieser Bezeichnung, weil es nur so gelingt, diejenigen zu brandmarken, in deren Denken die Reinrassigkeit der Herkunft wichtiger ist, als die Würde eines jeden Menschen. Rassismus darf nicht weichgespült werden. Auch, wenn wir uns von der Verwendung längst überholter Begriffe trennen, sollten wir in unserem Urteil gegenüber den selbsternannten Herrenmenschen eindeutig bleiben. Rassismus ist eine Geißel der Gesellschaft. 

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais führt uns ohne jeden Umweg in ein Land, in dem die weiße Minderheit ein System der Apartheid errichtet hatte, das noch heute unfassbar erscheint. Besonders, weil es sich so lange hielt, und erst seit 1994 der Geschichte angehört. Zumindest auf dem Papier. Rassentrennung. Kein anderer Begriff ist in der Lage zu definieren, wie sich das Leben in Südafrika für die herrschenden Weißen und die ausgegrenzten, unterdrückten und benachteiligten Schwarzen angefühlt haben muss. Die ehemaligen europäischen Kolonisatoren haben ein Gedankengut zu sozialem und faktischem Recht erhoben, nach dem nur sie in der Lage sein konnten, das Land zu regieren. Die für minderwertig erklärte Urbevölkerung Südafrikas wurde entmündigt und durch das System der Apartheid in ihre Schranken gewiesen.

Wer könnte diesen Zustand besser beschreiben als eine Autorin, die in Südafrika aufgewachsen ist? Wer könnte das besser beschreiben, als eine weiße Autorin, die in der eigenen Kindheit der privilegierten Schicht angehörte und die von einem schwarzen Kindermädchen großgezogen wurde? Wer könnte sich besser in jene indifferente Lage eines weißen Mädchens hineinversetzten, für das die Rassentrennung zum Leben und zum Alltag gehörte? Bianca Marais wagt nicht nur den Sprung in eine autobiografische Vergangenheit. Sie verarbeitet in ihrem Roman ihre eigene Kindheit, in der doch alles so behütet und schön war, dass man gar nicht an das Unrecht dachte, auf dem dieser Zustand beruhte. Bianca Marais sagt selbst, dass die neunjährige Robin ihres Romans sehr viel mit ihr selbst gemeinsam hat.

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Wir schreiben das Jahr 1976 und befinden uns in Johannesburg. Die Apartheid führt zu heftigen Unruhen und der Schüleraufstand von Soweto ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Was als gewaltloser Protest schwarzer Schüler in den Townships begann, setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, in deren Folge nicht nur der Protestmarsch von den Weißen brutal beendet wird. Das Chaos bricht aus und die Polizei schießt in die Menge. Gerüchte über tote Schulkinder lösen die nächste Welle der Gewalt aus. In den folgenden Tage werden nicht nur wahllos schwarze Schüler von der Polizei inhaftiert, auch die schwarze Bevölkerung greift zu den Waffen. Die blutigen Unruhen fordern auf beiden Seiten zahllose Tote. Der Schüleraufstand wird noch heute als der Wendepunkt in der Apartheidpolitik in Südafrika angesehen. Dieser Impuls war nicht mehr einzudämmen.

Die neunjährige Robin verliert ihre Eltern, die aus Rache für die Gewalt der Weißen ermordet werden. Das behütete Mädchen ist in einer Familie aufgewachsen, in der die Rassentrennung alltäglich vorgelebt wurde. Schwarze wurden hier umgangssprachlich heftig ausgegrenzt. Beleidigungen waren alltäglich. Privilegiert lässt es sich gut leben. Wenn dann jedoch erste Risse im selbstherrlichen System auftreten, und man nur zur Minderheit im Land gehört, dann wird es eng, auch wenn diese Minderheit die Macht verkörpert. Revolutionen schreiben hier ihre ganz eigene Geschichte. Während Robin bei ihrer mit der Situation überforderten Tante Zuflucht findet, wendet sich unser Blick den eigentlichen Opfern des Schüleraufstandes zu. Hier verschwindet Nomsa bei den Protesten. Die schwarze Vorzeigeschülerin gehört zu den Anführerinnen des Marschs und niemand weiß etwas darüber, ob sie tot, inhaftiert oder geflohen ist. Nur ihre Mutter Beauty Mbali beginnt eine verzweifelte Suche am Ort des Geschehens.

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Die Wirren dieser Tage führen diese beiden Menschen zusammen. Das elternlose Mädchen und die Mutter, die ihre Tochter nirgendwo finden kann. Hier verschwimmen die Grenzen, die zuvor von der Hautfarbe gezogen waren. Hier nähern sich Menschen aneinander an und fassen Vertrauen. Hier gibt Beauty die Geborgenheit, die Robin so sehr vermisst und Robin ihrerseits erweist sich als Rettungsanker für die verzweifelte Beauty Mbali. Ist das nur ein Burgfrieden mit begrenzter Lebensdauer? Wann brechen die Vorbehalte und Ressentiments auf? Wie lange kann das gutgehen und wie sehen die Menschen aus dem unterschiedlichen Umfeld diese Allianz? Eine Situation, deren Ausgang von Seite zu Seite des Romans ungewiss ist und bleibt. Einzig hilfreich kann eine Überlebensstrategie sein, die Robin verinnerlicht hat. Egal wie fremd einem das Leben erscheint, egal wie schwer einem alles fällt. Wo man sich wohlfühlt, sollte man Wurzeln schlagen. „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ wird zu Robins Mantra. Als Beautys Tochter gefunden wird, trifft Robin eine fatale Entscheidung.

Ein lesenswerter Roman, der durch seine Perspektivwechsel besticht. Wir finden keine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere, sondern blicken tief in ihr Innerstes. Bianca Marais schafft die Apartheid in ihrem Buch von Seite zu Seite ab und stellt in den chaotischen Zuständen dieser dramatischen Epoche zwei Menschen ins Zentrum ihres Romans, die aufeinander angewiesen sind. Dieses Lied habe ich mitgesummt, obwohl ich seinen Text nicht kannte. Gerade für jugendliche Lesende ein relevantes Buch, in dem Schüler*innen erkennen können, was es bedeutet, ausgegrenzt und zu minderwertigen Menschen erklärt zu werden. Das fängt mit der Bildung an und wenn jungen Menschen in der Schule verboten wird, die eigene Muttersprache zu sprechen, dann muss man auf die Straße gehen. Widerstand ist keine Frage der Zurückhaltung.

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Ein bewusstseinserweiterndes Buch zum Thema „Apartheid“ und ein Buch, das uns dazu verleitet, uns intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Auch wenn dieser Roman aus meiner Sicht mit dem Handlungsstrang einer Zwillingsschwester von Robin ein wenig überfrachtet war, ist es der Autorin gelungen, Grenzen zu überwinden, deren Folgen bis heute spürbar sind. Wie nachhaltig hat sich Südafrika gewandelt? Was hat Nelson Mandela in seinen zentralen Botschaften des gewaltlosen Widerstandes nicht nur für sein Land hinterlassen. Eine aktuelle Reportage im MARE-Magazin „Zeitschrift der Meere“ stellt die Frage, wem heute die Strände in Südafrika gehören und ob man die alten Schilder „Whites Only“ wirklich für alle Zeiten entfernt hat. Geschichtlich ist die Apartheid überwunden. In den Köpfen der Menschen spielt sie immer noch eine Rolle. Wunden heilen nicht so schnell, wie wir es uns erträumen würden.

In meiner Artikelserie „Ich hatte einen Blog in Afrika“ finden sich viele Bücher, die nicht nur auf diesem facettenreichen Kontinent spielen. Es sind viele Bücher, die in uns Bilder verankert haben, wie sehr die Narben der Kolonisatoren noch heute wuchern. Es ist nie zu spät, die Ursachen des heutigen Black Lives Matter dort zu suchen, wo ihre Geschichte begann. Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung beginnen in Afrika. Ihre Folgen spüren wir weltweit. Dem Rassismus müssen Grenzen gesetzt werden. Dazu ist es wichtig, auch solche Bücher ins Gefecht führen zu können. Sie sind gewaltlose und doch höchst effektive Waffen im Kampf gegen den Rassismus…

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

„Darktown“ von Thomas Mullen

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Darktown von Thomas Mullen

RassisMuster in der Literatur zu erkennen, gehört zu den nachhaltigen Missionen der kleinen literarischen Sternwarte. Von James Baldwin bis zu Harper Lee habe ich mich auf der Hauptroute meines Lesens immer wieder auf die Abwege begeben, die es mir ermöglichen, der Geschichte des Rassismus auf die Spur zu kommen. Ich habe mir Bücher ausgesucht, die der Benachteiligung und Verfolgung afroamerikanischer Bürger in den USA Raum geben. Ich habe mich durch die Zeitscheiben nach der Abschaffung der Sklaverei gelesen, bin Schriftstellern und Schriftstellerinnen mit ihren Protagonisten durch eine Welt gefolgt, die sich nur kaum verändert hat. Black Lives Matter. Noch nie war eine Bewegung der heutigen Zeit so sehr in der Geschichte verhaftet. Nie zuvor ist es so zwingend notwendig gewesen, die Ursachen zu kennen, um die Symptome eines Rassismus wahrzunehmen, der heute noch allgegenwärtig ist.

Eine Lise der relevanten Bücher finden Sie am Ende dieses Artikels. Ich kann Sie nur herzlich einladen, diesem Leseweg zu folgen, weil er dem Schwarzweißdenken ein Ende setzen kann. Bisher jedoch bin ich zumeist den Opfern der Ausgrenzung gefolgt. Bisher las ich viel über die Schicksale der Justizopfer. Ich folgte Menschen, die in guter Tradition der amerikanischen Sklaverei bis zum heutigen Tag von der Exekutive anders behandelt werden, als der weiße Teil der Bevölkerung. Erschreckend, wie wenig sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Heute jedoch wechsle ich die Seite. Ich folge im guten Glauben an eine bessere Welt einer bahnbrechenden Entwicklung im Süden der USA. Wir befinden uns in Georgia. In Atlanta und damit mittendrin in DARKTOWN, dem von Schwarzen bewohnten Stadtteil der Stadt. Wir befinden uns im Jahr 1948 und alles ist anders, als es jemals zuvor war.

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Darktown von Thomas Mullen

Die ersten „Negroe-Officers“ des Atlanta-Police-Departments haben ihren Dienst angetreten. Acht schwarze Polizisten, die nun ihren Dienst in den Straßen einer Stadt verrichten, die zutiefst im Denken des alten amerikanischen Südens verhaftet ist. Hier bin ich auf der Spur eines Meilensteins der Gleichberechtigung. Endlich Bewegung im System. Endlich ist das Ende der Ausgrenzung absehbar. Hoffnungsvoll beginne ich im Roman „DARKTOWN“ von Thomas Mullen mein Lesen und Hören. Hoffnungsvoll lerne ich die acht Polizisten kennen, die für den schwarzen Bevölkerungsanteil der Stadt wie absolute Heilsbringer wirken mussten. Ende der Willkür. Ende der Angst vor der Polizei und ihrer Allmacht. Endlich ein Fortschritt. Doch schon nach wenigen Zeilen bin ich fast am Ende aller Hoffnung angelangt.

Thomas Mullen hat sich tief in die Geschichte dieser Cops hineinrecherchiert. Er beschreibt die Situation in Atlanta, die zur Gründung dieser Einheit führte und dann ist auch schon Schluss mit Gleichberechtigung. Selten zuvor war Ausgrenzung so greifbar und im wahrsten Sinne des Wortes ungerecht. Schnell wird klar, dass diese Polizisten nur als hohles Zugeständnis an die plötzlich wahlberechtigten dunkelhäutigen Bürger in Atlanta gesehen werden können. Ihre Befugnisse sind gleich null. Sie tragen Uniform in Darktown. Mehr nicht. Es ist ihnen verboten zu ermitteln, es ist ihnen verboten, weißen Mitbürgern Grenzen aufzuzeigen, auch wenn diese das Gesetz übertreten. Es ist ihnen verboten das Polizeipräsidium zu betreten. Sie sind Staffage einer Exekutive, die keine Negroe-Officer duldet. Ihre Vorgesetzten sind Rassisten. Ihre weißen Kollegen spotten über sie und betrachten sie als reine Lachnummer. Im Falle echter Verbrechen dürfen sie allenfalls ihre weißen Kollegen informieren, die dann mit aller Macht des Gesetzes eingreifen.

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Darktown von Thomas Mullen

Thomas Mullen verankert in dieser historisch verbrieften Ausgangssituation eine Story, die eine Gratwanderung zwischen den Grenzen der Hautfarben ist. Er wirft die schwarzen Polizisten in ein Gefecht, das sie nicht gewinnen können. Er reibt sie auf und konfrontiert sie mit der Wirklichkeit des Lebens als absolut zahnlose Gesetzeshüter in einer Stadt, in der die Kriminalität ausufert. Der Mord an einer jungen dunkelhäutigen Frau wirft Fragen auf. Zuletzt wurde sie mit einem Weißen gesehen. Lucius Boggs und Tommy Smith, zwei farbige Polizisten aus Darktown sind die Letzten, die das Mädchen lebend gesehen habe. Doch niemand interessiert sich für den Mord. Niemand ermittelt. Das Schicksal der farbigen Toten ist der Justiz keine Mühe wert. Die beiden Polizisten überschreiten ihre Kompetenzen und beginnen mit der Jagd nach dem Mörder. Es sind mühsame Ermittlungen gegen einen Feind von außen und gegen die eigenen Kollegen. Natürlich diejenigen mit weißer Hautfarbe. 

„Darktown“ überzeugt mit seinen Perspektivwechseln und der Dynamik, mit der uns die unglaubliche Geschichte überrollt. Wir erleben die abstruse Situation, in der sich farbige Polizisten quasi illegal mit Ermittlungen beschäftigen. Wir erleben, wie sehr sie dabei selbst der Willkür ausgesetzt sind und wie hilflos sie mit anschauen müssen, wie dass Unrecht weite Kreise zieht. Ein schwarzes Leben ist nichts wert. Es zählt nicht und so geraten die beiden Negroe-Officer in ein zähes Gefecht, in dem sie nicht ahnen wo ihre wahren Gegner sitzen. Einzig ein weißer Polizist erkennt die Ungerechtigkeit in den eigenen Reihen. Einzig ein Kollege wagt es, sich zu verbünden. Hier verschwimmt das starre Gefüge der Rassentrennung. Hier wird aus der Geschichte ein Lehrstück für Loyalität, Gleichbehandlung und Rechtsempfinden. Eine Story, die nicht mehr loslässt, wenn man einmal im Leben seinen Fuß in DARKTOWN auf die Straße gesetzt hat.

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Darktown von Thomas Mullen

David Nathan gibt „DARKTOWN“ in der Hörbuchproduktion aus dem Hause Der Audio Verlag seine Stimme. 14 Stunden lang dürfen wir ihm durch die Straßen einer Stadt folgen, die sich als lebensgefährlich für schwarze Bürger erweisen. Nathan bleibt sachlich. Er hält sich zurück. Er erzählt wie ein Chronist und schildert die Fakten, wie in einem Sachbuch. Das passt an den Stellen, an denen es gilt, Fakten zu vermitteln. Hier nimmt er den Tonfall von Thomas Mullen auf und schildert, erklärt und erläutert. Als das Ausmaß der Ungerechtigkeit die Überhand gewinnt, geht der Sprecher aus sich heraus. Er scheint wechselweise zu im- und zu explodieren. Monologe werden zu emotionalen Anklagen, Verhöre zu Gewaltorgien, Gedanken zu Fackeln des inneren Aufruhrs. Hier steigert David Nathan sich und uns in einen Kriminalfall hinein, der so viel mehr ist, als nur die Geschichte eines Mordes.

„DARKTOWN“ – erschienen im DuMont Buchverlag – ist Anklageschrift und auch Plädoyer zugleich. RassisMuster treten offen zutage. Gerade die Rollenverteilung hat hier unglaubliche Sprengkraft. Je näher die Negroe-Officer dem Kern des Verbrechens kommen, umso gefährlicher wird die Geschichte für sie. Die Ungerechtigkeit ist spürbar wie selten zuvor in einem Buch über die Benachteiligung von Menschen, die zur Unzeit mit der „falschen“ Hautfarbe am falschen Ort sind. Man muss diese Geschichte kennen, um die Automatismen zu verstehen, die auch heute noch dafür ausschlaggebend sind, dass dunkelhäutige Bürger in den USA bei Polizeikontrollen Angstschweiß auf der Stirn bekommen. Ta-Nehesi Coates hat das eindrucksvoll beschrieben. Black Lives Matter steht sinnbildlich für die immer noch vorherrschende Angst. Laufen Sie doch Streife im Herzen von Atlanta, Georgia. Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären ein Negroe-Officer. Hoffnung einer ganzen Generation. Silberstreif am Horizont der Rassentrennung. Und dann gehen Sie einen Schritt weiter… Lassen Sie sich das Wort Menschenwürde ganz genüsslich auf der Zunge zergehen. Ein grandioses Buch. Ein relevantes Buch.

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Darktown von Thomas Mullen

Hier die Liste meiner relevanten Bücher gegen den Rassismus:

Mein Name ist nicht Freitag von Jon Walter
Mercy Seat von Elizabeth Winthrop
Zwischen mir und der Welt von Ta-Nehisi Coates
Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves
Wer die Nachtigall stört und Gehe hin, stelle einen Wächter von Harper Lee
Von dieser Welt und Beale Street Blues von James Baldwin
Mudbound – Die Tränen von Mississippi von Hillary Jordan
Lincoln im Bardo von George Saunders
John F. Kennedy – Zeit zu handeln – Ein Bilderbuch von Shana Corey
Nach der Flut das Feuer – James Baldwin

Und nicht zuletzt meine Selbstbetrachtung: Warum ich kein Rassist bin

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Darktown von Thomas Mullen

„Beale Street Blues“ von James Baldwin – Fonny und Tish

Beale Street Blues von James Baldwin

Er hat den Buchmarkt gerockt. Er ist eingeschlagen, wie eine Granate in befriedetem Niemandsland und hat tiefe Gräben sichtbar gemacht, die heute mit Nebelkerzen oder anderen Ablenkungsmanövern verschleiert werden sollen. Er hat posthum neue Wellen der Diskussion über Rassismus und Diskriminierung angestoßen, weil das Lesen seiner Romane deutlich aufzeigt, wie wenig sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Sein gesamtes Lebenswerk wird durch die erneute Veröffentlichung und die Neuentdeckung der Relevanz seiner Kernaussagen in den Kontext einer Epoche gestellt, die Populisten Tür und Tor öffnet, an den etablierten Underdogs einer Gesellschaft festzuhalten.

Die Rede ist von James Baldwin. Die Rede ist von einem der bedeutendsten Autoren seiner Zeit. Die Rede ist vom 1987 verstorbenen literarischen Aktivisten, der zeitlebens für die Identität der schwarzen Bürger in den USA kämpfte, Diskriminierung, Rassismus und sexuelle Selbstbestimmung thematisierte und aus leidvoller eigener Erfahrung den Finger in die offenen Wunden der nicht überwundenen Sklaverei legte. James Baldwin hat Generationen geprägt, das Selbstbewusstsein der Unterprivilegierten konturiert und durch seine Publikationen richtungsweisend auf Missstände hingewiesen. „Von dieser Welt“ war eines seiner zeitlos wichtigsten Bücher, das in Deutschland mehr als sechzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erneut für Furore sorgte.

Beale Street Blues von James Baldwin

Mit Beale Street Blues wird nun vom dtv Verlag und Der Audio Verlag die Reihe von Wiederentdeckungen fortgesetzt, die vielleicht schon aus dem Bewusstsein der Leser von einst verdrängt wurde, bei heutigen Lesern gar nicht mehr vorhanden ist und gerade jetzt in eine völlig neue Dimension der Wahrnehmung vorstößt. Genau hier wird es für mich wichtig, nicht nur ein Buch von Baldwin zu lesen. Hier wird es für mich mehr als elementar die Fäden aufzugreifen, die Baldwin über viele Generationen miteinander verknüpft hat und diese im Kontext unserer Zeit genau zu betrachten. Was hat sich hier verändert? Haben Diskriminierung und Rassismus nachgelassen oder ist es gerade die „Black Lives Matter“-Bewegung, die uns vor Augen hält, dass sich nichts getan hat?

Während Von dieser Welt noch im Harlem der 1930er Jahre spielt, entführt er uns mit seinem 1973 erstmals veröffentlichten Roman „Beale Street Blues“ erneut in diese den Schwarzen vorbehaltene Welt. Hier erleben wir die 1970er Jahre in New York und eigentlich sollte man denken, dass sich in diesen vierzig Jahren einiges zum Guten hin verändert hat. Eigentlich sollte man denken, dass eine aufgeklärte Gesellschaft sich im tiefsten Bewusstsein für Gleichbehandlung neu erfunden haben könnte. Eigentlich wäre es nur logisch, dass Diskriminierung mit fortschreitender Zeit im multikulturell geprägten Big Apple zum Fallobst der Geschichte gehört. Weit gefehlt. Sehr weit ist der Apfel des Rassismus nicht vom Stamm gefallen.

Beale Street Blues von James Baldwin

„Beale Street Blues“ ist vieles zugleich im Gewand einer großen Story. Es ist der große Liebesroman aus der Feder von James Baldwin. Gleichzeitig ist es jedoch auch die Generalabrechnung mit einem Justizsystem, das sein Recht der Hautfarbe anpasst. Im Schwerpunkt beschreibt Baldwin für mich auf erdrückende Art und Weise die extrem belastende Unkalkulierbarkeit einer Rechtsprechung für die schwarze Bevölkerung. Es herrscht Willkür. Man ist völlig ausgeliefert. Sollte auch nur der Hauch eines Verdachts auf einen Schwarzen fallen, greifen alle Automatismen eines legalen Unrechtssystems. Den Beschuldigten fehlt das Geld für Anwälte, weil Schwarze eben nur Berufe ergreifen die ihrer Hautfarbe zu entsprechen haben. Es fehlt jede Möglichkeit, der Justiz mit den dafür vorgesehenen Mitteln entgegenzutreten und dieser Justiz muss das Bewusstsein abgesprochen werden, gerecht im Sinne eines Angeklagten zu sein.

Kommt uns das nicht bekannt vor? Sind es nicht die gleichen Automatismen, die ich hier schon mehrfach als „RassisMuster“ beschrieben habe? Sind es nicht die gleichen Ungerechtigkeiten, die Geschichten wie „Mercy Seat“, „Wer die Nachtigall stört“ und „Ein anderes Leben als dieses“ miteinander verbinden? Ist das nicht die Kernaussage des Schreibens von Ta-Nehisi Coates, der seinem Sohn noch heute auf die Fahne des Lebens als Schwarzer schreibt, dass etwas „Zwischen mir und der Welt“ steht? Ist es nicht frustrierend, diese Muster über die Jahrzehnte hin immer wieder neu aufzuspüren und die tragischen Konsequenzen zu erleben? Wer diese Muster durchbrechen will, hat noch langen Weg vor sich. Das Lesen hilft. Das Verstehen hilft. Empathie wächst brutal langsam.

Beale Street Blues von James Baldwin

„Beale Street Blues“ setzt da an, wo wir Harlem in unserer Vorstellung ansiedeln. Diese Geschichte bestätigt alle Vorurteile, die man nur haben kann, wenn man sich nur vorstellt, in den 1970er Jahren in diesem schwarzen Universum zu leben. Zumindest in Bezug auf die weiße Welt, die schonungslos auf dem Rücken der Afroamerikaner ihren Weg in die strahlende Zukunft gestaltet. Das solltet ihr euch eigentlich besser von Tish erzählen lassen. Wobei sie ja gar nicht so heißt, und eigentlich heißt ihr Verlobter auch gar nicht Fonny. Aber, wenn man sich schon ein ganzes Leben lang kennt und einfach zueinander gehört, wie die beiden, dann spielen Spitznamen eine eher untergeordnete Rolle. „Beale Street Blues“ ist der literarische Song einer großen Liebe, die unter dem Vorbehalt der weißen Justiz steht.

Tish ist schwanger. Gewollt. Stolz drauf. Ein Kind von der Liebe ihres Lebens. Es ist ein Gottesgeschenk, das verbindet, was schon immer füreinander bestimmt war. Die Familien der beiden Verliebten hadern zwar mit dem jungen Glück, aber irgendwie wird schon alles gut werden. Die üblichen Vorbehalte. Kann er meine Tochter ernähren? Ist er gut genug für sie? Kann sie ihn glücklich machen? Wäre da nicht die Tatsache, dass Fonny im Gefängnis sitzt, man könnte einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden. Tish jedenfalls hält an ihm fest. Sie hat den Einen gefunden. Die eine große Liebe. Egal was man Fonny auch vorwirft. Hauptsache es gelingt, ihn vor der Geburt seines Kindes rauszuholen. Eine gewaltige Mission.

Beale Street Blues von James Baldwin

Der Fall hinkt an allen Ecken und Kanten. Fonny soll ein Vergewaltiger sein. Obwohl er ein Alibi hat, die Vergewaltigte schon außer Landes ist und die Beweisführung keiner ernsten Begutachtung standhalten würde, sitzt er in Untersuchungshaft. Es reicht, dass ihn ein weißer Polizist auf dem Kieker hatte. Es reicht, dass die Vergewaltigte sagte, es sei ein Schwarzer gewesen. Es genügt völlig, dass bei einer Gegenüberstellung Fonny der einzige Dunkelhäutige in der Reihe der möglichen Täter ist. Die Falle schnappt zu. Jetzt läuft die Zeit. Ein Anwalt muss her. Möglichst ein Weißer. Sonst hat man gar keine Chance. Und der muss den Fall komplett aufrollen. Und das, bis zur Geburt des Kindes.

James Baldwin lässt uns tief in den Charakter von Tish fallen. Sie erzählt uns, wie diese Liebe entstand. Sie entführt uns in den Rhythmus einer Beziehung, die sich allen Widerständen zu stellen hat. Während sie erzählt, verlieben wir uns selbst in die junge Frau, weil sie vorbehaltlos und bedenkenlos liebt. Leidenschaft, Lust, Freude und neue Sichtweisen auf das Leben. All dies lernen wir bei Tish. Sie kämpft für Fonny. Sie geht alle denkbaren Kompromisse ein, zwei Familien zum gemeinsamen Kampf zu vereinen. Und all dies, während Fonny im Gefängnis am Gefühl der Unschuld zu krepieren droht. Die Zeit läuft gegen die beiden Liebenden. Die beiden Familien finden keinen Konsens und die Justiz kennt keine Unschuldsvermutung. Nur der Anwalt beginnt, an der schier unmöglichen Aufgabe zu wachsen. Ein zarter Hoffnungsschimmer.

Beale Street Blues von James Baldwin

„Beal Street Blues“ ist ein in höchstem Maße relevanter Roman, der bespielhaft im Kosmos der Diskriminierung seine Kreise zieht. James Baldwin erzählt uns eine große Geschichte mit unfassbarem Tiefgang. Zwei Protagonisten, die wir so schnell nicht aus unseren Gedanken verdrängen können, beschäftigen uns auch nach dem Lesen. Eine Zeit voller Diskriminierung, Populismus und Ausgrenzung schreit nach diesem Roman. James Baldwin selbst hätte wohl nicht gedacht, ein Amerika nach Barak Obama in den Händen von Politikern wiederzufinden, die das Rad der sozialen Gleichbehandlung weit zurückdrehen. Es lohnt sich weiterhin am Ball zu bleiben. Es lohnt sich James Baldwin zu lesen und zu hören. Es lohnt sich, sich selbst eine Meinung zu machen und diese zu vertreten. Schweigen hilft nur denjenigen, die sich an der Diskriminierung bereichern.

Wer nicht lesen will, muss hören. Constanze Becker liest sich in dieser ungekürzten Hörbuchfassung in ihre Hörer hinein. Sie wurde für mich schnell zur authentischen und emotional passenden Stimme von Tish. Constanze Becker macht einen wesentlichen Aspekt des Romans nachhaltig hörbar. Im Vergleich zweier Gefangener, dem Vergleich zweier Gefängnisse liegt ein Geheimnis von „Beale Street Blues“ verborgen, das mich selbst gefangen nahm. Das ungeborene Kind im Bauch seiner Mutter ist wie sein Vater im Gefängnis der Willkür des Lebens ausgesetzt, die draußen das Schicksal bestimmt. Ob sich beide als freie Menschen begegnen werden, ist die große Frage, die nicht nur dieser Roman, sondern auch die Zeit zu beantworten hat. Baldwin hat eine Antwort.

Beale Street Blues von James Baldwin

Baldwin entfacht die Feuersbrunst: Nach der Flut das Feuer. Ein Standardwerk.

Nach der Flut das Feuer von James Baldwin - AstroLibrium

Nach der Flut das Feuer von James Baldwin

„Lincoln im Bardo“ von George Saunders – Überweltliches Lesen

Lincoln im Bardo von George Saunders

Selten findet man heutzutage einen Roman, der nach allen Regeln der Kunst als innovativ bezeichnet werden kann. Sprachlich gelten die meisten literarischen Felder als längst abgegrast und strukturell vermag uns kaum noch etwas zu überraschen. Und wenn man dann doch fündig wird, erweist sich das Lesen als experimentell und schwer zugänglich. Das Neue wird selten. Maßstäbe sind längst gesetzt und Gewagtes erblickt das Licht der Bücherwelt nur noch in Ausnahmefällen. „Lincoln im Bardo“ von George Saunders (Luchterhand Verlag) ist eine solche Ausnahmeerscheinung, die sich in jeder Hinsicht von allem unterscheidet, was wir in gebundener Form vor unseren neugierigen Augen hatten… (Sie können diese Rezension auch hören. Hier geht´s zum PodCast)

Lincoln im Bardo – Die Rezension fürs Ohr

Wann wird ein (so gar nicht historischer) Roman über eine (mehr als historische) Gestalt geschrieben, der nicht nur inhaltlich ein neues Level erreicht, sondern auch in Bezug auf die verwendeten Erzählperspektiven alle gewohnten Grenzen sprengt? Wie schafft es ein US-amerikanischer Autor den mit Abstand legendärsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in den Fokus eines Romans zu stellen und dabei gar Leser zu erreichen, die sich nicht ansatzweise mit dessen Biografie auseinandergesetzt haben? Welchen Inhalt legt George Saunders seinem Buch zugrunde, um uns weltweit mit dem Phänomen Abraham Lincoln auf Augenhöhe zu bringen? Ganz einfach. Gehe unentdeckte Wege und finde neue Leser. Ein Motto, dem George Saunders beharrlich gefolgt sein muss.

Lincoln im Bardo von George Saunders

Worum geht´s? Was muss ich vorher wissen und wen spricht Lincoln im Bardo an? Fragen, denen ich mich hier widmen möchte, um die Berührungsängste zu einem Roman abzubauen, der für mich eine absolute literarische Sensation ist. Trauer könnte die Klammer heißen, die den gesamten Erzählraum dieses Buches zusammenhält. Der Tod seines elfjährigen Sohnes Willie trifft Abraham Lincoln zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Der Amerikanische Bürgerkrieg erlebt seine ersten brutalen Schlachten, der Kampf zur Befreiung der Sklaven hat gerade erst begonnen und der Präsident hat alles, nur kein Privatleben mehr. Keine Zeit zu trauern. Keine Chance zu verarbeiten. Er hat über die Zukunft einer Nation zu entscheiden. Und dann das. Ihm stirbt der jüngste und liebste Sohn unter den Händen weg.

Mehr über Abraham Lincoln zu wissen ist nicht schädlich, aber eben auch nicht erforderlich. Knietief kann ich in meiner kleinen Bibliothek in Büchern über ihn waten, Biografien und Romane, Schlachtenepen und Dokumentationen pflastern meinen Weg an seiner Seite. Und doch bleibt am Ende nur der verzweifelte Vater übrig, der mich in seinem Inneren waten lässt. Tiefer, als ich je zu ihm vordringen durfte. Saunders bringt jeden Leser dazu, Lincoln abstrahiert als Synonym für die Zerrissenheit zwischen einer Berufung und dem Privatleben zu verstehen. Den Rest übernimmt unser Herz. Ein Tag ist es, den sich Abraham Lincoln einräumt, um sich von Willie zu verabschieden. Einen einzigen Tag nimmt er Abstand vom Leben als Präsident. Ein Tag der ihn seinem Sohn näher bringt, als er es sich vorzustellen vermochte…

Lincoln im Bardo von George Saunders

Wie George Saunders über diesen Tag schreibt, ist außergewöhnlich. Wo er diese letzte Begegnung zwischen Vater und verstorbenem Sohn ansiedelt, ist in literarischer Hinsicht eine absolute Grenzerfahrung. Wir befinden uns im Bardo. Eine Zwischenwelt, in der Verstorbene verweilen, bevor sie endgültig vom Erdboden verschwinden und im Himmel oder der Hölle ankommen. Nennt es Fegefeuer, oder Wartezone für Geister. In „Lincoln im Bardo“ ist es der Friedhof, auf dem der junge Willie gerade erst beigesetzt wurde. Und wer könnte diese Geschichte nun besser erzählen, als die Geister, die dort verweilen? Wer könnte diese Geschichte besser ergänzen, als ein Mix aus erfundenen und realen Zeitzeugen, aus deren Briefen, Tagebüchern und Veröffentlichungen zitiert werden kann? Was kann uns der Realität näherbringen, als die Potenzierung subjektiv wahrgenommener Halbwahrheiten in Verbindung mit geisterhaften Perspektiven?

George Saunders gelingt ein erzählerisches Feuerwerk der hundert Stimmen. Wo die gesamte Geschichte authentisch werden muss, lässt er seine Zeitzeugen-Armada zu Wort kommen. Sie beschreiben aus der Sicht von Chronisten, Autoren, Dienern und ganz normalen Menschen von nebenan, wie sie diese Tage erlebt haben. Wie Lincoln auf sie wirkte, wie man die Beisetzung Willies empfunden hat und wie der Bürgerkrieg sich immer weiter in den Ängsten der Menschen festsetzt. Dieses schillernde Potpourri aus teilweise real existierenden Dokumenten erzeugt ein atmosphärisches Diorama, in dem das Ende des Jahres 1862 zum Greifen nah rückt. Hier erleben wir, wie Lincoln in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, was seinen Ruf ausmachte und wie sehr man an seinem Verlust Anteil nahm. Ein starkes Stück subjektive Geschichtsschreibung, die wir hier erleben. Zersplittert in kurze Zitierpassagen mit Quellenangaben, die ein Lesen in Hochgeschwindigkeit ermöglichen.

Lincoln im Bardo von George Saunders

Die zweite Seite des Perspektivmixes ist die staatstragend relevante Seite dieses Romans. Geister. Wartende. Sich der nächsten Nichtseins-Ebene Verweigernde, weil sie noch nicht mit ihrem Leben abgeschlossen haben. Letzte Botschaften an die Erben, wichtige Informationen an die Nachwelt oder noch niemals Erlebtes halten diese Geister beharrlich im Bardo fest. Noch nie geliebt, noch nie begehrt, noch nie geküsst. Es sind die unerfüllten Hoffnungen, die den Friedhof unsichtbar übervölkern. Ein Bild, das sich tief im Leser verankert. Gefühle, die eigene Verluste denken lassen und Gedanken frei im Raum toben lassen, die man vor dem Lesen dieses Romans nicht zu denken bereit war. Hier entstehen Bindungen zu den Geisterwesen auf dem Friedhof. Ihr Hoffen wird zu unserem.

Und dann erscheint ein trauernder Vater auf dem Friedhof, der alle Grenzen des bisher Dagewesenen sprengt. Abraham Lincoln kann nicht loslassen. Er kann nicht nur besuchen. Er muss berühren, anfassen, im Schoß wiegen und erzählen. Nur, dass sich Willie schon nicht mehr in seinem Körper befindet und als Geist seinem trauernden Vater dabei zusehen muss, wie er ihn im Arm hält. Das spricht sich rum. Die Gerüchte von einem Menschen, der einen Toten zärtlich berührt grassieren auf dem Friedhof und locken all jene an, die sich von diesem Vater mehr versprechen. Vielleicht kann man ja ihn erreichen. Vielleicht kann man ihn dazu bewegen, das Unausgesprochene in seine Welt mitzunehmen. Vielleicht könnte Abraham Lincoln das Medium für all jene sein, die noch so viel zu sagen hätten. (Ich habe im PodCast eine solche Passage eingelesen)

Lincoln im Bardo von George Saunders

Auch hier bleibt Saunders seinem Stil treu. Stimmen kommen zu Wort, werden von wieder anderen Stimmen unterbrochen und es entsteht auch hier das Satzmosaik, dem der Leser mühelos folgt. Von Seite zu Seite vereinen sich die Stimmen zu individuellen Geschichten. Zu Leben voller Hoffnungen und Widersprüchen. Der Reverend, der hier ist, weil er sich vor der letzten Entscheidung fürchtet. Der Liebende, der verstarb, ohne die Liebe vollzogen zu haben und nun mit geisterhafter Dauererektion zurechtkommen muss. Und der heimlich Homosexuelle, der sich so oft selbst verleugnen musste, dass sein Gesicht im Zwischenreich zu viele Gesichter zeigt. Sie alle stehen Willie bei. Denn nichts kann hoffnungsvoller für alle Geister sein, gelänge es dem kleinen Jungen noch ein einziges Mal mit seinem Vater zu reden. Ihm zu verzeihen. Sich zu verabschieden. 

Wir erleben Großes in diesem Buch. Zutiefst Menschliches, Soziales, Politisches und Geschichtliches. Wir können nach dem Lesen von „Lincoln im Bardo“ keinen Friedhof betreten, ohne an die Geister zu denken, die uns dort hoffnungsvoll erwarten könnten. Spätestens, wenn wir realisieren, dass auch hier der Rassismus grassiert, spätestens, wenn wir die Geister der Afroamerikaner in Massengräbern sehen und allerspätestens, wenn auch sie sich erheben, um ihren Präsidenten zu beseelen und ihm von sich und der Sklaverei zu erzählen erkennen wir die grandios erzählte Relevanz dieses Romans. Den Rest sollten Sie selbst erlesen. Es ist ein Erzählen auf einem völlig neuen Niveau, es ist eine literarische Erfahrung, die man sich keinesfalls entgehen lassen darf und es ist ein Buch gewordener Befreiungsschlag für die versklavten Seelen von einst. Ja, ich habe Geister kennengelernt, denen ich gerne geholfen hätte. Habe mich heftig verliebt und zu hassen begonnen. Und ich habe gelernt, meine Welt ein klein wenig anders zu sehen.

Selten war Literatur so geistreich…

Lincoln im Bardo von George Saunders

Wie es sich liest, wenn George Saunders einen Fuchs schreiben lässt? Fuchs 8“ ist mehr als eine Fabel, mehr als eine ökologische Parabel. Es ist fuchsteufelswild…

Fuchs 8 von George Saunders - AstroLibrium

Fuchs 8 von George Saunders

„Ein anderes Leben als dieses“ von Virginia Reeves

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves

Lassen Sie sich mit mir auf einen Versuch ein? Ein kleines Rezensions-Experiment zu einem Roman, der mich so intensiv beschäftigte, dass ich einfach einen neuen Weg finden musste um meine Emotionen zu beschreiben. Ich kann das Buch nicht sachlich vorstellen, weil es eine Geschichte erzählt, die mich bis ins Mark getroffen hat. Ich mag mich diesem Roman in Briefen nähern. Ja, Briefe an eine Romanfigur und eine Zeitung. Wenn Sie diese Frau im Buch kennenlernen, werden Sie sehr gut verstehen, warum ich ihr einfach schreiben musste. Wenn Sie die Zeitungsnachrichten im Buch lesen, wissen Sie, warum ich einen Leserbrief verfassen musste. Und ganz zuletzt lassen diese Briefe darauf schließen, was Sie im Roman erwartet. Besonders der letzte Brief aus der Feder einer Gehassten. Lassen Sie sich darauf ein? Es wäre mir ein Vergnügen.

(Sie können gerne weiterlesen oder diese Rezension auf Literatur Radio Bayern hören. Dieses Experiment einzulesen war eine besondere Herausforderung.)

Ein anderes Leben als dieses – Virginia Reeves – Die Radiorezension

Ein anderes Leben als dieses“ von Virginia Reeves – DuMont Buchverlag – Eine andere Rezension als sonst… Fan-Fiction vielleicht. Ganz persönlich bestimmt!

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves

Kilby Prison, Staatsgefängnis
Montgomery, Alabama
April 1926

Sehr geehrte Mrs. Martin!

Mein Name tut nichts zur Sache. Ich muss Ihnen nur dringend schreiben, weil ich sonst mit niemandem darüber reden kann, was mich beschäftigt. Ich bin hier ein Gefangener, wie Ihr Ehemann Roscoe T. Martin. Wir sitzen schon seit fast vier Jahren in einer Zelle und ich mag Roscoe wirklich gern. Er arbeitet hier in der Molkerei und mit den Hunden. Freitags hilft er in der Bibliothek aus, weshalb wir ihn hier einfach „Books“ nennen. Ich weiß von Roscoe, dass er Bücher nur deshalb liebt, weil Ihr Vater eine große Bibliothek hatte. Dass die Farm, die Sie von ihrem Vater geerbt haben nichts für Roscoe war, das müssen Sie von Anfang an gewusst haben.

Oh ja, er ist so gerne Elektriker. Er liebt den Strom und die Kraft, den Fluss der Energie und das Neue daran. Kein Wunder, dass alles mit Strom begann und er nur deshalb im Knast ist. Das ist ihm schon klar und er kommt immer noch nicht damit zurecht, dass er einen Menschen umgebracht hat, weil er die Stromleitung angezapft hat, um Ihre Farm zu versorgen. Ja, das macht ihm zu schaffen. Ich schreibe Ihnen aber aus einem ganz anderen Grund. Man behandelt ihn hier schlecht. Echt mies. Und er ist schwer verletzt. Ich weiß nicht, ob er wieder auf die Beine kommt. Und er redet so oft von Ihnen. Er hat sogar mal geträumt, dass Sie ihn hier besucht haben. Nur. Das stimmt nicht. Seit dem Prozess hat er nichts mehr von Ihnen gehört. Sie haben ihn niemals besucht und seine Briefe (es waren echt viele) haben Sie nie beantwortet.

Was sind Sie für eine Frau? Warum sind Sie nie da? Warum lassen Sie nicht zu, dass Gerald ihn besucht? Roscoe vermisst seinen Sohn genauso wie er Sie vermisst. Er hat das alles doch für Sie getan. Er wollte, dass es mit der Farm aufwärtsgeht. Das war der einzige Weg für ihn und irgendwann hätte sich das mit den Stromleitungen sicher ganz allein geklärt. Dass dieser Monteur ihm auf die Schliche kam, das konnte er doch nicht ahnen. Und dass der Typ bei der Kontrolle der Leitungen ums Leben kam. Das tut ihm unendlich leid.

Dass Sie ihn hängenlassen, das ist jedoch der Sargnagel für ihn. Warum sind Sie so zu ihm? Schreiben Sie Ihrem Mann. Nur einen Satz. Das kann ihm das Leben retten. Und wenn Sie noch ein Herz im Leib haben, schreiben Sie ihm, was mit Wilson passiert ist. Roscoe fühlt sich schuldig, weil man seinen Neger-Komplizen (so hat der Staatsanwalt ihn genannt) gleich mit verurteilt hat. Und Roscoe beteuert immer wieder, dass Wilson unschuldig ist und er Angst davor hat, dass man ihn in eine Kohlemine gesteckt hat. Er weiß, wie man hier mit schwarzen Sträflingen umgeht. Wissen Sie was von Wilson?

Bitte schreiben Sie. Nur ein einziges Mal. 20 Jahre Haft sind hart. Schweigen ist härter.

Ein Freund Roscoe`s…

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves

Leserbrief an die Redaktion
Birmingham News
zum Prozess
Alabama Power Company
gegen Roscoe T. Martin

Seit Tagen verfolge ich aufmerksam Ihre Berichterstattung zum Prozess gegen Roscoe T. Martin. Schon schaurig zu lesen, wie die Leiche des Monteurs ausgesehen hat. Den hat Roscoe auf dem Gewissen. Das steht fest. Und wenn auch nur ein Hauch Wahrheit an der Geschichte des Pflichtverteidigers wäre, dass Mr. Martin das alles für seine Frau getan hat, dann… bitte… wäre sie doch beim Prozess dabei gewesen. Aber keine Spur von Mrs. Martin oder ihrem Sohn. Nur gerecht also, dass man diesen Stromdieb wegen Totschlags zu zwanzig Jahren Haft verurteilt hat. Hoffe er kriegt keine Bewährung.

Warum haben Sie nicht von dem anderen Prozess gegen den Schwarzen berichtet? Er ist doch wohl auch verurteilt worden. Spielte doch sicher keine Rolle, dass er und seine Familie schon länger auf der Farm lebten, als die Martins und dass sie miteinander eng befreundet waren. Was sind das für Zeiten. Früher Sklaven, jetzt Hilfsarbeiter und Teil der Familie. Hoffe, dass dieser Wilson auch verknackt wurde. Und dann ab in die Mine.

Ein besorgter Bürger

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves

Mobile, Alabama
Offener Brief einer Gehassten
von Marie Martin

An alle, die alles besser wissen!

Ja, Sie wissen alle so gut Bescheid. Sie haben alles verstanden und klar, dass Sie mich hassen. Ich. Die Frau, die ihren Mann im Stich lässt, die nicht zum Prozess kommt, die ihn nicht besucht, die ihm nie schreibt und die sich nicht für ihn interessiert. Klar. Es ist so einfach, wenn man nicht die ganze Geschichte kennt. So einfach, wenn man nur das sieht, was man sehen will. Niemand will sehen was mir die Menschen bedeuten, die Sie immer nur Hilfsarbeiter nennen. Wilson, seine Frau Moa und die Kinder sind für Sie nur Schwarze. Was sie für mich sind werden Sie wohl nie erfahren. Was das Leben hier im Süden mit den Menschen macht, ist Ihnen egal. Was Alabama den schwarzen Bürgern antut, ist egal.

Da ist es leichter, mich zu hassen. Es ist wirklich so leicht. Vielleicht wird einmal in 100 Jahren jemand meine/unsere Geschichte erzählen. Wenn Sie mich dann noch hassen, dann mag es so sein. Aber vielleicht werden Sie dann besser verstehen, warum ich so gehandelt habe, wie ich es tat. Es wird Sie umhauen, wenn Sie das irgendwann einmal lesen. Weil Sie das nicht gedacht hätten. Niemand hätte so gehandelt wie ich. Nicht im Jahr 1921. Nicht in Alabama. Und nicht Jahre später.

Denn glauben Sie mir, es ist „Ein anderes Leben als dieses“, was ich mir gewünscht hätte. Es ist „Ein anderes Leben als dieses“, wie Sie es heute kennen und es ist „Ein anderes Leben als dieses“, zu dem man einen gutmütigen schwarzen Mann verurteilt hatte. Ich würde mir wünschen, dass jemand eines Tages diese Geschichte erzählt. Ich würde sie lesen. Und dann würde ich mich für mich selbst hassen. Und ich würde wohl Roscoe T. Martin immer noch lieben. Egal was Sie von mir halten.

Ohne jegliche Hochachtung,
Marie Martin

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves

Ich hoffe, Sie mit dieser außergewöhnlichen Form einer Rezension auf das Buch Ein anderes Leben als dieses neugierig gemacht zu haben. Der amerikanische Süden der 1920er Jahre war der exklusivste Nährboden für Rassismus, der nach dem Ende der Sklaverei einfach nicht auszurotten war. Zahllose Bücher zu diesem wichtigen Thema begleiten mich durch mein Lesen. Und sie zeigen dabei, dass sich das Leben der afroamerikanischen Bürger in den Vereinigten Staaten nur unwesentlich verändert hat. Folgen Sie mir auf meinem Leseweg. Ein Thema, das wir niemals aus den Augen verlieren sollten. Hier geht´s zu erkennbaren RassisMustern die uns helfen können zu verstehen, wie man sich als Mensch niemals fühlen sollte… Ungleich…

RassisMuster in der Literatur

Ein Interview mit Virginia Reeves finden Sie hier, inklusive kleiner Überraschung.

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves – Interview und mehr…