Offene See von Benjamin Myers

Offene See von Benjamin Myers - AstroLibrium

Offene See von Benjamin Myers

„The Offing“ ist der Originaltitel des Romans von Benjamin Myers, der im DuMont Buchverlag unter der Überschrift „Offene See“ erschienen ist. Ein Sehnsuchtsbuch, in dem es mitnichten um eine stürmische Reise auf hohen Wellenbergen geht. Es sind die Gegensätze, die sich anziehen. Es ist der Traum von der Weite des Meeres, der einen jungen Mann aus den gewohnten und vorbestimmten Mustern ausbrechen lässt. Es ist die pure Poesie, die Benjamin Myers in die literarische Waagschale wirft, um seinen emotionalen Roadtrip mit unseren tiefen Sehnsüchten zu verbinden. Es ist ein ruhiger, fast schon kontemplativer Roman, in dem das Meer das Ziel zu sein scheint. Aber nicht immer muss man sein Ziel erreichen, wenn man am Wegesrand die Entdeckung seines Lebens macht.

Wir befinden uns im England des Jahres 1946. Von Siegestaumel keine Spur. Das Land leidet, stöhnt unter den Wunden der Verluste und Entbehrungen, Trümmer weisen den Weg in die Zukunft, ein erstes zaghaftes Aufatmen ist zu spüren und die Menschen versuchen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Und schon wird es dem jungen Robert zu eng. Wo er zuvor in der Angst vor dem Krieg gefangen war, scheint es nun die Familientradition zu sein, die sein Leben in Schranken weist. Unter Tage liegt seine Bestimmung. Wie seine zahllosen Vorfahren ist es der Bergbau, der nach ihm ruft. Ein Leben in Dunkelheit, voller Entbehrungen und Risiken. Robert träumt größer. Er träumt anders. Er will zur offenen See. Zum Meer. Zum Offing, jener Zone, in der man keinen Losten braucht, um sich frei zu bewegen. Robert bricht auf, um in See zu stechen.

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Offene See von Benjamin Myers

„Ein paar Sommer hier, einige lange dunkle Winter da; Glück, Krieg, Krankheit,
ein bisschen Liebe, noch etwas mehr Glück, und plötzlich blickst du ins falsche 
Ende des Fernrohrs.“

Dem will Robert entgehen. Wo ist das Leben geblieben? Diese Frage treibt ihn um und wie so viele junge Menschen auf der Gratwanderung zum Erwachsenwerden strebt er nach mehr. Mit seinen gerade mal sechzehn Jahren bricht er auf. Unbefangen und voller Tatendrang sieht er den Weg zum Meer als einzige Alternative an, aus dem Trott zu fliehen, den andere für ihn geplant hatten.

„Hier war der Ozean ein Tor, eine Einladung, und ich nahm sie bereitwillig an.“

Benjamin Myers zelebriert diesen Neubeginn wie eine Wiedergeburt. Er beschreibt, wie sich die Natur von einer anderen Seite zeigt, wie das Atmen leichter wird und sich die Perspektive erweitert. Ein Aufbruchsroman getragen von der Metapher Meer. Jeder von uns kennt seinen eigenen Sehnsuchtsort. Jeder kennt die Destination, der man am liebsten alles Streben widmen würde. Und wir alle wissen, dass es oftmals schon reicht aufzubrechen, um dieser Sehnsucht zu entsprechen. Robert atmet auf. Wir atmen mit.

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Offene See von Benjamin Myers

„Je weiter ich mich von allem entfernte, das ich je gekannt hatte,
desto leichter fühlte ich mich… Jetzt atmete ich tief…“

Natürlich findet Robert seinen Ozean. Er findet seinen Sehnsuchtsort und doch ist es nicht die „Offene See“, die mit wilden Stränden und hohen Wellen auf ihn wartet. Es ist Dulcie Piper, die ihn unterwegs zur Übernachtung auf ihrem Cottage einlädt. Ja, sie ist augenscheinlich alt und ziemlich altmodisch gekleidet. Der Kontrast kann größer kaum sein. Sie empfängt den Pfadfinder und fesselt ihn mit ihrer unkonventionellen Art. Es ist diese Dulcie Piper, die sein Leben verändert. Es ist diese Frau, die zu Erfüllung seiner Sehnsucht wird und ihm Zugang zu einer verborgenen Welt verschafft, die Robert ohne sie wohl niemals wahrgenommen oder entdeckt hätte. Dulcie ist die „Offene See“.

Diese Begegnung besteht aus purer Inspiration und setzt diese in gleichem Maße frei. Die Gespräche zwischen Dulcie und Robert sind geprägt von Offenheit, Vertrauen und einer guten Portion weltgewandter Melancholie. Es ist die Literatur, die Robert hier auf Schritt und Tritt begegnet. Es ist eine Welt, in der es plötzlich möglich ist, Gefühle zu beschreiben. Die Welt, in der man seine Träume, Schwächen und Leidenschaft nicht mehr für sich behalten muss. Robert und Dulcie. Ein ungleiches Paar. Und doch ist es eine der wundervollsten literarischen Beziehungen, der wir uns hier ganz behutsam und vorsichtig nähern dürfen. Bis wir auf das große Geheimnis der alten Dame stoßen.

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Offene See von Benjamin Myers

Robert entdeckt das Manuskript eines Gedichtbandes. „Offene See“. Hier erkennt er, dass auch Dulcie Piper ihre Geheimnisse hat. Hier wird aus einer Begegnung eine Reise in die Vergangenheit der Frau, die ihn so unvoreingenommen aufgenommen hat. Es ist die bewegende Geschichte von Gedichten, die Dulcie auf den Leib geschrieben wurden. Die Tür in eine längst vergangene Welt. Hier treten auch wir durch die Tür zu einer neuen Geschichte. Voller Poesie, voller Emotion und Leidenschaft und von Seite zu Seite verlieben wir uns mehr in jene Frau, die diese Gedichte nicht lesen wollte, weil sie sie alle gelebt hat. Wer jemals an die Kraft von Poesie geglaubt hat, der sollte sich dieses besondere literarische Erlebnis nicht entgehen lassen.

Es ist die „Offene See“, die metaphorisch nach uns allen greift. Es ist die Magie dieses Manuskripts, das nun zum Leben erwacht. Es sind diese Gedichte, die Robert Dulcie Piper zum ersten Mal vorliest. Die Vergangenheit liegt zwischen den Zeilen und sie lässt eine Schriftstellerin auferstehen, die wie Robert nur als Besucherin bei Dulcie Piper war. Es ist die Macht des geschriebenen Wortes, die Benjamin Myers mit seinen Worten freisetzt. Es ist die doppelte Konsequenz des gelüfteten Geheimnisses, die im Roman zu einem denkwürdigen Erlebnis wird. Es ist die „Offene See„, die uns trunken vor Literatur und Liebe macht. Ein Meisterwerk.

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Offene See von Benjamin Myers

Manfred Zapatka hat „Offene See“ von Benjamin Myers für das Hörbuch aus dem Hause Der Audio Verlag eingelesen. Er brilliert oft mit seiner markanten Stimme und dem feinfühlig-rauchigen Timbre, das zu seinem Markenzeichen wurde. Es ist nicht die Stimme eines Sechszehnjährigen, die uns hier durch diese Geschichte trägt. Es ist die Rückschau eines älteren Ichs von Robert, das in der emotionalen Retrospektive von der längst vergangenen Zeit erzählt. Einer Zeit, in der Dulcie Piper zur Wegbereiterin einer großen Karriere wurde. Man klebt an Manfred Zapatkas unsichtbar bleibenden Lippen, bis er den letzten Satz vollendet hat. Dann träumen wir weiter. Vorwärts, rückwärts und immer im Rhythmus der hohen Wellen, die dieser Roman geschlagen hat.

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Update – September 2021…

Sein Roman „Die offene See“ erzählte eine geschlossene Geschichte und mutierte in kürzester Zeit zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen. Ob es Benjamin Myers auch mit „Der perfekte Kreis“ gelingen wird, seine Leser zu begeistern, liegt an uns ganz allein. Stellen wir uns vor, wir wären ein Kornfeld. Stellen wir uns einfach vor, es wäre Calvert und Redbone gelungen, uns ein ganz klein wenig zu verändern. Und dann stellen wir uns vor, welches Muster wir sehen könnten. Eines, das schon immer in uns ruhte. Nur zu verborgen, es zu sehen. Der perfekte Kreis. Poetisch und eine runde Sache. (hier geht´s zur Rezension)

Der perfekte Kreis von Benjamin Myers - Astrolibrium

Der perfekte Kreis von Benjamin Myers