„Adressat unbekannt„. Die Geschichte ist nicht neu. Der Briefroman von Kressmann Taylor wurde bereits 1938 in der New Yorker Zeitung Story und dann im Folgejahr als Buch im US-Verlag Simon & Schuster publiziert. Katherine Taylor musste dabei ihr wahres Geschlecht hinter dem maskulinen Pseudonym „Kressmann“ verschleiern, da ihr Verleger der Meinung war, dass ein höchst politischer Text von einer Frau in dieser Zeit nicht ernst genommen würde und keine Beachtung fände. So kam es, dass dieser epochale und aufrüttelnde Briefroman über das Zerbrechen einer Freundschaft bis in unsere Zeit einem „intelligenten und vorausschauenden Schriftsteller“ zugeschrieben wird. Was für ein Irrtum, welch literarische Fehleinschätzung.
Ihr Briefroman war so politisch, wie ein Roman nur sein konnte. Er traf die Nation mitten ins Herz, weil die Autorin das Schicksal jüdischer Immigranten ins Zentrum der Erzählung stellte, die sie ihren Mitbürgern um die Ohren schlug. Man verhielt sich noch zurückhaltend gegenüber dem Nationalsozialismus in Deutschland. Man ignorierte alle Aufrufe der jüdischen Gemeinden angesichts aufkommender Gerüchte über Pogrome, Verfolgung und die geplante Massenvernichtung jüdischen Lebens. Man setzte auf gute wirtschaftliche Beziehungen zum Dritten Reich und wollte vermeiden, dass in Berlin als Störfeuer empfunden wurde, was eigentlich Humanität hieß. Und dann kam sie. Dann kam „Adressat unbekannt“ und demaskierte die Nazi-Diktatur mit einem Schlag und auf ganz wenigen Seiten.
Kressmann Taylor lässt in diesem legendären Briefwechsel zwei deutsche Freunde zu Wort kommen. In San Francisco betrieben sie eine gut gehende Kunstgalerie, bevor Martin Schulse 1932 nach Deutschland zurückkehrte. Vierzehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zieht es ihn nach Hause. München ist sein Ziel. Sein jüdischer Geschäftspartner bleibt in San Francisco und führt von dort das gemeinsame Geschäft. Max Eisenstein schreibt nach Bayern. Er schreibt vom Fehlen seines Freundes, vom Erfolg der Galerie und ist interessiert an der politischen Entwicklung der gemeinsamen Heimat. Es sind emotionale Briefe, die München und San Francisco verbinden. Bis der Ton beginnt, zunehmend politisch zu werden.
Während sich Max Eisenstein zunehmend besorgt über die Machtergreifung der Nazis äußert, muss er den Worten seines Freundes aus München entnehmen, wie es den neuen Machthabern immer mehr gelingt, das Land, die Gefühle und den Hass im Sinne dieser Ideologie zu kultivieren. Es ist ein schleichender Prozess, der von Martin Schulse Besitz ergreift. Er gerät ins Schwärmen, wenn er über die neue Stärke seines Heimatlandes schreibt. Man spürt, wie sehr er Partei ergreift und wie sich die Diktatur langsam um ihn schließt und ihn in einem braunen Kokon verschwinden lässt. Als Max Eisenstein beginnt, besorgte Fragen über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung zu stellen, zeigt ihm sein Freund die kalte Schulter. Indoktriniert bis in die Haarspitzen ist Martin auf dem besten Wege, Teil des Systems zu werden. Koste es, was es wolle.
Die Informationen über die Entrechtung der Juden in Nazi-Deutschland, die sich in diesen Briefen verbergen, sorgten in Amerika für Betroffenheit. Mehr jedoch nicht. Man war nicht bereit, dem Glauben zu schenken. Man ließ sich von Adolf Hitler einlullen und setzte auf Deeskalation. Kressmann Taylor besaß den Mut, über Judenverfolgung und die völlige Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus der deutschen Gesellschaft zu schreiben, als ihre eigenen Mitbürger die Wahrheit noch ignorieren wollten. Es war die Zeit, in der es auch dem großen Charlie Chaplin nicht gelingen wollte, sein Filmprojekt „Der große Diktator„ zu finanzieren. Eine Zeit der Blindheit und Taubheit aller Sinne.
Kressmann Taylor lässt die Briefe eskalieren. Max Eisensteins Sorge um Griselle bestimmt seine Texte. Die eigene Schwester befindet sich in Deutschland, sie fühlt den Atem der Nazis in ihrem Nacken, ihre Zeit als Schauspielerin endet mit Beschimpfung und Berufsverbot. Sie fühlt sich verfolgt. Max bittet seinen Freund um Hilfe. Er fleht ihn an. Er empfiehlt seiner Schwester bei Martin Schulse in München Zuflucht zu suchen. Brief um Brief bittet er seinen „guten Freund“, Griselle zu helfen. Die Antworten sind erschütternd. Sie beginnen mit der Begrüßungsformel eines echten Nazis. „Heil“ steht fortan für Distanz und Ablehnung. Als Eisenstein seiner Schwester verzweifelt schreibt, erhält er keine Antwort mehr. Sein Brief wird retourniert. „Adressat unbekannt„. Die Sorge steigt ins Unermessliche.
Diese Briefe zu lesen, ist sehr hart. Sich vorzustellen, wie viel Zeit der Ungewissheit zwischen ihnen liegt, zermartert die Leserseele. Und doch schützt das Lesen vor allzu großer Gefühlswallung. Man kann sich distanzieren, die Zeilen analysieren. Aus dieser Distanz wird das schier Unerträgliche zumindest ein wenig gemildert. Den immer mehr aufkommenden Hass in mir jedoch konnte ich auch lesend nicht unterdrücken. Das zu hören, es von zwei brillanten Stimmen gelesen zu hören, die sich in diese Geschichte fallen lassen, versetzte mich in atemloses Erschrecken. Die brutale Dynamik der Briefe erhält in der Hörbuchproduktion „Adressat unbekannt“ aus dem Hause ZYX Music in genau einer Stunde eine neue Dimension des literarischen Nachempfindens.
Es ist Matthias Brandt, Grimme Preisträger, Bambi-Besitzer, Deutscher Hörbuchpreis ausgezeichneter Willy-Brandt-Sohn, Schauspieler und Schriftsteller, der seine Stimme für Max Eisenstein ins Gefecht wirft. Versachlicht und verbindlich beginnt sein Lesen in der Zeit, in der sich die Freunde nur Gutes schreiben. Aufgewühlt, zerrissen, flehentlich und verzweifelt appelliert er in den Briefen an den Freund in Bayern, der Schwester zu helfen. Matthias Brandt legt alle Emotionalität in seinen Vortrag, der es bedarf, um sich in den Juden Eisenstein hineinversetzen zu können. Das gelingt ihm bravourös. Seinen Appellen sitzt im Studio Stephan Schad gegenüber, der sich in seinem Tonfall zu dem glühenden Verehrer des Führers entwickelt, den man sich lesend nicht besser denken kann. Er wird härter, distanziert und egoistisch. Brutal wird die Sprache, brutal wird die Stimme. Der Egoismus eines ideologisch Verblendeten kann besser nicht interpretiert werden.
Als Kressmann Taylor das Blatt wendet, wenden sich auch die Stimmen. Aus der besorgten Eisenstein-Stimme wird der brutale, sein Gegenüber sezierende Rächer, in dessen Tonlage sich ein tödlicher Plan widerspiegelt, der das Nazi-System und seinen Freund mit den eigenen Waffen schlägt. Währenddessen kultiviert Stephan Schad sein Atmen zum Stilmittel des Erkennenden, des sehenden Auges in den Untergang und in den Tod Getriebenen. Die Rollen wechseln. Die Sprecher agieren, als wären sie selbst involviert. Es ist bedrückend und faszinierend zugleich, miterleben zu dürfen, wie sich die zeitlose Botschaft von Kressmann Taylor nun auch sprachlich Bahn bricht.
Am Ende hört man atemlos die letzten Umdrehungen der CD. Man wagt es kaum, die Stopp-Taste zu drücken. Es ist ein magischer Moment. Sei dir nicht sicher in dem System, das auf der Basis der Entrechtung von Menschen funktioniert. Eine Diktatur frisst alles auf, was ihr im Weg steht. Dieses Wissen muss man nutzen, um gegen sie zu kämpfen. Kressmann Taylors Botschaft ist tragfähig, auch wenn sie die Rache im Herzen trägt. Diese Rache jedoch ist ein Signal für all jene, die denken, sie wären im Herzen des Nazi-Gedankenguts sicher. Eine Botschaft, die auch heute noch trägt.
Nehmt euch eine Stunde Zeit. Ihr werdet sie nie vergessen. Mehr zu diesem Thema findet ihr in meiner Blog-Kategorie „Vergissmeinnicht. Gegen das Vergessen„. Mehr zum Autor Matthias Brandt findet ihr in meiner Rezension zur „Raumpatrouille„. Hier schreibt es, wie ihm der autobiografische Schnabel gewachsen ist. Ein Brandt-Buch…