Man nehme einen längst verstorbenen Schriftsteller mit einer leicht verschrobenen Vita, einen bereits 1879 erschienenen Roman aus dessen Feder, etikettiere das Ganze als Literaturklassiker mit skandalösem Inhalt und erobere den Büchermarkt. So oder so ähnlich könnte man den verlegerischen Wagemut bezeichnen, der den Manesse Verlag motiviert haben könnte, „Giacinta“ von Luigi Capuana übersetzt von Stefanie Römer ins gediegene Frühjahrsprogramm aufzunehmen. Weit gefehlt, auch wenn Capuana im literarischen Universum fast schon in Vergessenheit geraten ist, bleibt dieser Roman in verschiedener Hinsicht ein zeitloses Meisterwerk über die Psyche einer jungen Frau im Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen einer unaufgeklärten Zeit.
Capuana begann erst spät mit seinen eigenen Werken, war Literaturkritiker, Dozent und Bürgermeister, bevor er das eigene Schreiben kultivierte und mit „Giacinta“ einen echten Skandalroman auf den Markt brachte. Ausgerechnet er, möchte man sagen. Er, der in seiner Beziehung mit seiner Haushälterin mehrere uneheliche Kinder zeugte und diese postwendend in ein Waisenhaus gab, schrieb über ein junges Mädchen, das seit seiner Geburt im elterlichen Umfeld unerwünscht ist und zu einer Amme gegeben wird. Ausgerechnet er versetzt sich fortan in die verletzte Seele eines Kindes, für das dieses Aufwachsen ohne liebevolle Zuwendung durch die Eltern der erste Mosaikstein für eine vergewaltigte Kindheit wird.
Ausgerechnet er… Muss man sagen…
Skandalös ist und war dieser Roman, weil er über alle Elemente verfügt, die einen Skandal im wahrsten Wortsinn umfassen. Ein junges Mädchen in der unschuldigen Blüte des Heranwachsens. Eine ungeliebte elternlose Vergangenheit, verunsichert was Gefühle sind und wie man sie äußern kann und hineingeworfen in die unwirkliche Welt des Lebens in den gut situierten Kreisen ihrer Familie, als man sie schließlich aus den Händen der Amme befreit und ins immer noch lieblose Elternhaus zurückbringt. Schon im Alter von 10 Jahren auf der Suche nach Zuwendung von einem Laufburschen allem beraubt, was eine Zukunft in diesen Kreisen sichern konnte. Ehre, Jungfräulichkeit und Ansehen. Giacinta zieht sich in ihr eigenes unverschuldetes Leid zurück und durchlebt alle inneren Höllenqualen eines befleckten Heranwachsens.
An ihrer Seite finden sich später zahllose Männer, die um ihre Gunst buhlen. Ihre Eltern führen Giacinta in die Gesellschaft ein und erwarten endlich eine Verbindung, die der Familie gut zu Gesicht steht. Niemand jedoch kann sich in das Innenleben der Frau hineinversetzen, deren Gefühlswelt einem zerbrochenen Spiegel gleicht. Sie wirkt kühl, abweisend, verführerisch und spielt scheinbar mit den Männern aus ihrem Umfeld. Es ist der Tanz ums Goldene Kalb, den wir fortan erleben. Alte degenerierte Adelige sind es, die ihr den Hof machen, doch nur ein Mann weckt ihr emotionales Interesse. Für sie gibt es nur einen Weg sich auf ihn einzulassen. Die Angst vor der Entdeckung der nicht mehr vorhandenen Jungfräulichkeit treibt sie in eine Todesspirale der Psychologie. Nur ein paradox erscheinender Ehebruch scheint der erhoffte Befreiungsschlag zu sein, der Giacinta zurück ins Leben spülen kann.
„Der Mann meines Herzens kann vielleicht mein Geliebter werden,
aber mein Ehemann, nein, niemals.“
Ausgerechnet er… Ja, ausgerechnet Luigi Capuana beschreibt aus den tiefsten und plausibelsten empathischen Tiefen heraus die Zerrissenheit einer jungen Frau, die sich in ihren verletzten Gefühlen verliert. Das Moral- und Sittenbild stellt den Rahmen einer brillanten Erzählung dar, in der sich der Leser uneingeschränkt auf Giacinta einlassen muss, um ihre verdrehte Psyche verstehen zu können. Capuana zeigt uns hinsichtlich aktueller Ehebruchs- und Entwicklungsromane auf, wie vielschichtig die Verletzung der Psyche sich auswirken kann, wie paradox das Denken und Fühlen auf dieser Basis ist und wie unwahrscheinlich es ist, eine zerbrochene Kindheit durch gutes Zureden heilen zu können.
Giacinta ist vieles zugleich. Sie zieht Männer an, wie Motten das Licht und wehrt sie alle standhaft ab. Das Leben in einer Gesellschaft, in der Gerüchte über ihre geraubte Unschuld salonfähig sind, lässt sie zu einer Frau werden, die Opfer und Täter zugleich ist. Sie zu lieben bedeutet den Untergang. Sie nicht zu lieben bedeutet den tiefen Fall in die Bedeutungslosigkeit der Liebe. Sie nicht zu lesen bedeutet einen Verlust, der nicht kompensiert werden kann, wenn man an die wahre Macht der Liebe glaubt. „Giacinta“ zu lesen und sie zu vergessen ist unmöglich, weil man ihrer Faszination nicht entgehen kann. Das Buch unbeschadet zu verlassen, scheint ausgeschlossen….
Eine weitere verletzte Seele: Mopsa Sternheim in „Die Poesie der Hörigkeit„