Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Olive Schreiner - Die Geschichte einer afrikanischen Farm - Astrolibrium

Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Er kommt so harmlos und idyllisch daher, dieser Roman. Er spricht uns bereits in den Momenten an, in denen wir ihn betrachten, berühren und ganz plötzlich von ihm in Assoziationen verwickelt werden, die sich ausbreiten, wie ein Flächenbrand. Es ist der Titel dieses Buches, der uns träumen lässt. Es ist der Titel, der Erinnerungen an einen Roman weckt, der zum Lebenswegbegleiter und Wegweiser in unserem Lesen wurde. Es sind Bilder, die wir sehen, ohne auch nur eine einzige Zeile gelesen zu haben. „Die Geschichte einer afrikanischen Farm“ von Olive Schreiner lässt uns sofort an einen Roman denken, der so autobiografisch und authentisch war, wie man es sich wünscht. Ein Buch, das mit einem emotionalen Satz beginnt, den wohl jeder Buchliebhaber dem Werk zuordnen kann, zu dem er gehört. „Ich hatte eine Farm in Afrika„.

Es war Tania Blixen, die uns in ihre afrikanische Welt entführte. Sie beschrieb ein Land im Würgegriff der Kolonisatoren, erlebte die Unterdrückung der Einheimischen und wurde selbst zum Teil eines Systems, das auf Ausbeutung ausgerichtet war. Aber sie lernte und setzte sich ein, korrigierte die vorherrschenden Bilder von ungebildeten und naiven Schwarzen, lehnte sich auf und verließ die Farm, um in der fernen Heimat über ihre Zeit auf dem geheimnisvollen Kontinent zu schreiben. „Jenseits von Afrika“ wurde zum Synonym für starke Literatur starker Frauen, die ihrem Rollenbild zu einer Zeit den Rücken kehrten, in der ihnen sogar der Zutritt zu den Clubs der feinen Herren verwehrt wurde. Ich schrieb viel über Tania Blixen. Ihr verdanke ich meine Idee, eine ganze Artikelreihe unter der Überschrift „Ich hatte einen Blog in Afrika“ zu schreiben. Hier, am Fuße der Ngong-Berge begann meine Auseinandersetzung mit jener fatalen Unterdrückung, dem Rassismus und der Apartheid auf dem damals dunklen Kontinent.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Natürlich war mir klar, dass ich in Olive Schreiners Roman keine Spuren jener Farm finden würde, an die ich mich im Titel erinnert fühlte. Was mich umso mehr reizte, mir dieses Buch genauer anzuschauen, war die Zeitepoche, in der es angesiedelt ist. Weit vor den ersten Spuren einer Tania Blixen, die von 1914 an mehr als 17 Jahre in Kenia lebte, erleben wir hier die Kapkolonie Karoo, die wir als das heutige Südafrika kennen. Hier hatten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Buren bereits etabliert und ihre Kolonisation von Teilen Afrikas als abgeschlossen betrachtet. Sie sahen sich nicht als Kolonialherren. Nein, sie gingen so perfide vor, dass sie sich aufgrund der Zeit, in der sie sich hier breitgemacht hatten, als Einheimische betrachteten. Die Minderheit hatte sich über die Mehrheit der Ureinwohner erhoben und sprach nun von ihrem Land. Der Machtanspruch war total.

Fast so total, wie die Macht, die Tant` Sannie für ihre Farm beansprucht. Sie hat hier die Hosen an, sie ist reich und umworben und ihr Besitz ist so weitläufig, wie es ihr Körperumfang vermuten lässt. Hier, auf der afrikanischen Farm, siedelt Olive Schreiner ihre Geschichte an. Wir lernen Sannies Stieftochter Em kennen, die dieser im Umfang in nichts nachsteht und freunden uns mit Sannies Nichte Lyndall an, einer Waise, die sich im Verlauf des Romans zur eigentlichen Hauptfigur mausert. Diesen Frauen steht eine ambivalente Männerwelt aus Verwaltern und Freiern gegenüber. Sie sind begehrt und stehen im Mittelpunkt des Interesses. Als ein gewisser Bonaparte Blenkins in der korpulenten Sannie das perfekte Opfer für seine unehrenvollen Absichten sieht, macht er der Besitzerin des Hofes den Hof und bringt alles durcheinander. Das bekommt der deutsche Aufseher Otto als erster zu spüren. Die treue Seele der Farm wird plötzlich zum Ziel der manipulativen Angriffe des Neuankömmlings. Als sich auch noch Sannie dazu verleiten lässt, ihren Aufseher zu schikanieren, bricht die Welt für ihn und seinen Sohn Waldo in sich zusammen.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Dieses Setting aus Reichtum, Brautwerbung und Betrug steckt den Rahmen der Handlung ab, in dem sich die beiden Mädchen Em und Lyndall kaum entfalten können. Dabei könnte alles so harmonisch sein. In Waldo finden sie nicht nur einen aufrechten Freund, sondern einen jungen Mann, dessen Tiefgang und Lebensfreude ihn zu mehr machen würde, wenn es die Umstände auf der Farm nur möglich machen würden. Als sich die Willkür auf Waldo ausweitet, stehen die Zeichen auf Trennung. Das Herz reißt in diesen Momenten der Ungerechtigkeit. Die Wege der beiden Mädchen trennen sich und finden nie wieder zusammen. Waldo verlässt die Farm. Jeder Schritt fühlt sich an, wie ein schmerzhafter Abgesang. Gerade in der aufflammenden Liebe für Lyndall hätte so viel Potenzial gelegen. Nicht nur für den jungen Waldo. Und so beginnt langsam der Abgesang auf die Menschen der Farm, die man als Leser liebgewonnen hatte.

Ein dramatischer und tragischer Roman in einem Szenario, das uns fesselt. Was sich hier auf den ersten Blick wie ein einfach konstruierter Roman anfühlt, weist für die Zeit seiner Veröffentlichung allerdings Charakteristika auf, die überraschend sind. Wir erleben in Lyndall eine zusehends selbstbestimmte Frau, die ihre Rolle selbst definiert und ihren Platz im Leben sucht. Wenn sie sagt, dass sie keinen Mann kennt, der sich ein Leben als Frau vorstellen kann und, wenn sie von der Benachteiligung der Frauen von Geburt an spricht, dann ahnt man, welche Sprengkraft in dem 1883 erschienenen Roman verborgen ist. Emanzipation war das nicht nur literarische Nogo dieser Zeit. In Lyndall jedoch zeigen sich erste Spurenelemente späterer Suffragetten. Hier wird klar, warum Olive Schreiner das männliche Pseudonym Ralph Iron verwendete, damit ihr Buch überhaupt veröffentlicht werden konnte. Eine skandalöse Geschichte.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Hier lohnt sich der Blick von Kate auf diesen Roman. Wie sieht die moderne Frau von heute diesen emanzipatorischen Aspekt der Geschichte? Wie empfindet sie diese Annäherung an ein Afrika, das sie selbst erlebte und liebt? Und nicht zuletzt, was sagt eine bekennende Blixen-Liebhaberin zu dieser afrikanischen Farm? Ihr KateView

Eine afrikanische Farm - KateView - Astrolibrium

Eine afrikanische Farm – KateView

Ich hatte eine Farm in Afrika… Ach nein, das war ein anderes Buch. Mein Lieblingsbuch. Mein Lebensbuch. Würde Olive Schreiner da mithalten können?

Zumindest schaffte sie es leicht mit ihren lebendigen Worten die Bilder meines Afrikas vor meine Augen zu rufen. Ich fühlte, roch, sah und hörte mit den eindrücklich gezeichneten Figuren, lernte Em, Lyndall, Waldo kennen und mögen. Ich litt, lachte und weinte mit ihnen. Und dann plötzlich lag die Farm hinter uns. Und alles veränderte sich. Lyndall erschien wieder auf der Bildfläche und schien völlig aus der Zeit gefallen. Was uns heute so normal erscheint, passte in die damalige Zeit so überhaupt nicht hinein.

Als ob sich ein Schwan in einen Ententeich verirrt hat oder ein Schmetterling zwischen Raupen. Und so nahm die Tragik ihren Lauf, denn wo das enden würde, ja musste, legten die Umstände ganz klar fest. „Es muss ein Jenseits geben, weil wir uns nicht vorstellen können, dass unser Leben einmal zu Ende geht.“ Wenn einer gegangen ist, kann der Andere nicht mehr sein. Und der Letzte bleibt zurück.

Auch wenn es kein Blixen ist, lasen wir hier ein packendes Buch. Liebe, Emanzipation, Glaube, all das finden wir in diesem Buch, Sprengkraft zwischen den Zeilen sozusagen. Und durchaus lesenswert.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Ein kritisches Wort zum Schluss. Olive Schreiner verwendet Begriffe, die man heute nicht mehr gerne in Romanen lesen würde. Wenn sie rassistische und diskriminierende Bezeichnungen für die schwarze Bevölkerung, wie Kaffir, Nigger oder Hottentot wählt, die auch in der vorliegenden Neuübersetzung von Viola Siegemund verblieben sind, hat dies einzig den Grund, das Machtgefüge in der Kapkolonie Karoo zu verdeutlichen. Wir dürfen diese Begriffe nicht weichspülen, weil dadurch der Charakter dieser rassistisch untermauerten Weltsicht verändert würde. Für mich jedoch sollte man dies nicht in der editorischen Notiz im Nachwort hervorheben. Hier, und genau hier, muss man sich im Vorwort an den Leser wenden und die Begrifflichkeiten in die heutige Unsäglichkeit im Kontext unserer Zeit einordnen. Und wenn ich schon beim Nachwort bin, nein, ich halte das Nachwort aus der Feder von Doris Lessing für eher ungeeignet für einen Roman, der in seinen Begrifflichkeiten nicht mehr zeitgemäß wirkt.

Ihr Nachwort stammt aus dem Jahr 1968 und ist deutlich in die Tage gekommen. Gerade in Bezug auf die wichtigen emanzipatorischen und damit zeitgemäßen Aspekte des Romans wäre es wünschenswert gewesen, hier ein aktuelles Nachwort zu wählen. Und in einem wichtigen Kernargument widerspreche ich Doris Lessing deutlich:

„Dann musste ich einsehen, dass, wenn man nach den Regeln verfährt, denen wir jedes Jahr tausend gute, wenn auch belanglose Bücher verdanken, wenn wir ihn also an seinen Figuren und seiner Handlung messen,… „Die Geschichte einer afrikanischen Farm“ kein guter Roman ist…“

Ich widerspreche deutlich, oder neudeutsch gesagt: Hier macht der Rezensent von seinem Remonstrationsrecht gegen ein Nachwort Gebrauch!

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P.S. Auch bei Constanze lese ich auf Zeichen & Zeiten diesen Widerspruch heraus.

Fürst Lahovary von Georges Manolescu

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Fürst Lahovary von Georges Manolescu

Wer möchte der Nachwelt schon als Glücksspieler, Hoteldieb, Heiratsschwindler und Hochstapler in Erinnerung bleiben? Wer schreibt freiwillig seine Memoiren, um seinen Ruf als notorischer Krimineller zu untermauern und wer geht gar so weit, sich in seinen Lebenserinnerungen für verrückt zu erklären? Wer schreibt schon gerne, er sei auf fast allen Kontinenten der Erde in Haftanstalten gewesen, habe bei Zwangsarbeit in unwürdigsten Lebensumständen endlos am Rad gedreht und sei in Einzelhaft vom Rest der Welt isoliert worden, um diese vor ihm und seinen betrügerischen Machenschaften zu schützen? Sicher nur ein Mann, dem am Ende eines facettenreichen Schaffens nur dieser Weg bleibt, um seinen weltweiten Ruf als „König der Diebe“ zu untermauern und aus dieser Situation erneut Profit zu schlagen.

Die Rede ist hier von Georges Manolescu, der die Welt von 1890 bis 1908 in Atem hielt. Man kann ihn mit gutem Gewissen als Archetyp des Hochstaplers bezeichnen, als Blaupause für spätere reale und literarische Nachfolger, die eines gemeinsam zu haben scheinen: Mehr scheinen als sein. Das war die Devise, mit der sich Devisen beschaffen ließen. Das war die Maxime für maximalen Erfolg bei eigener Mittellosigkeit. Das ist das Motto, unter dem sich als Lebemann leben ließ, solange man Opfer fand, die sich in die Rolle fügten. Und wer sich dann am Ende seiner fragwürdigen Karriere, erneut mittellos nach Alternativen umschaut, der beginnt zu schreiben. Georges Manolescu entschloss sich 1905 zu diesem Schritt und sein Roman, der eigentlich alles war, nur das nicht, hat unter dem Titel „Der König der Diebe“ dafür gesorgt, dass es kurzzeitig mit ihm wieder aufwärts ging. Unter der Überschrift „Gescheitert“ folgte schon bald seine Fortsetzung, in der er öffentlich mit seinem Seelenleben kokettierte.

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Fürst Lahovary von Georges Manolescu

Der Manesse Verlag hat nun beide Bücher in einem Prachtband vereint. Erstmals originalgetreu wiedergegeben erleben wir nun seit mehr als hundert Jahren einen mehr als tiefen Einblick in die Psychologie eines Kriminellen, der die Adelsgläubikeit der Zeit zu seinem wichtigsten Instrument machte. Dabei könnte das Buch Fürst Lahovary – Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler so viele andere Titel haben. Allesamt vom Betrüger selbst verwendete Titel aus frei erfundenen Adelshäusern. Marchese da Passano, Herzog von Otranto, Prinz von Padua oder Graf Festetisch. Namen, die sich wie leuchtende Spuren durch die Kriminalgeschichte Europas zogen. Und Namen, die verzweifelte getäuschte Möchtegern-Ehefrauen, Juweliere, Bankiers, Beraubte und Betrogene die Nerven und ihr Vermögen verlieren ließen. Aus dem Nichts einer kleinen rumänischen Provinz erhob sich Fürst Lahovary zu einem Society-Schreckgespenst seiner Zeit.

Standesgemäß kommt auch das Buch daher. Noblesse obliege, könnte man sagen. In edlem schwarz-goldenen Tönen strahlt das Cover aristokratische Würde aus. Sogar eine Krone irgendeines erfundenen Adelsgeschlechts ziert das Äußere und vermittelt in aller Deutlichkeit das royale Metier, in dem hier agiert wird. Damit nicht genug. Hat man den Schutzumschlag entfernt, liegt ein echter Goldjunge von Buch in den Händen der Leserschaft. Schnell jedoch wird klar, dass sich hier das Motto des Hochstaplers „mehr Schein als Sein“ auf keinen Fall widerspiegelt. Dieser Roman in der heutigen Fassung ist sicher kein Hochstapler oder Angeber. Er ist lesenswert und mit gehörigem Abstand zur Zeit seiner Entstehung extrem aufschlussreich, weil sich die Muster eines Handelns bis weit in unsere Gegenwart wiedererkennen lassen.

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Fürst Lahovary von Georges Manolescu

Wenn man jenem Georges Manolescu eine gewisse Methodenkompetenz für den Berufszweig der Hochstapler zubilligt und ihn als Vorreiter eines kriminellen Metiers anerkennt, dann kommt man nicht umhin, seine Spuren auch in der Weltliteratur sehen und fühlen zu können. „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann muss man als literaturhistorisches Denkmal betrachten, weil Manolescu nicht nur Inspirationsquelle, sondern greifbares Vorbild einer Jahrhunderterzählung war. So weit hat es der Hochstapler also geschafft. Immerhin. Was jedoch macht seinen Originaltext heute noch lesenswert? Es sind viele Aspekte, die mich durch diese Geschichte jagten, wie auf einem Parforceritt an der Seite eines sympathischen Betrügers, dessen Leben selbst einem Husarenritt glich.

Manolescu schreibt dabei authentisch und eher schlicht. Nur so gelingt es ihm, in seiner Geschichte einen Sog entstehen zu lassen, der uns dazu zwingt, ihm von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent zu folgen. Es ist rasant zu erlesen, wie leicht es ihm fiel, Fremde zu überzeugen, Lügengeschichten aufzutischen und immer wieder durch Diebstahl und Betrug zu Geld zu kommen. Ebenso rasant ist sein Totalverlust, wenn er mal wieder irgendwo von der Polizei aufgegriffen, in flagranti erwischt und verurteilt wird. Zwangsarbeit, Isolationshaft und harte Bestrafungen härten ihn dabei jedoch nur für die Zukunft ab und lassen Pläne entstehen, die ihn zeitlebens vor erneuten Strafen beschützen sollen. Aus dem Nichts zum Besitzer von Gestüt und Fuhrpark, vom armen Jungen zum Arbeitgeber von Pagen und Bediensteten, ein Weg, der schon ein wenig Respekt einflößt. Man darf sich nur nicht die Opfer anschauen.

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Fürst Lahovary von Georges Manolescu

Der Mitgiftjäger mutiert zum Getriebenen der Gesellschaft. Aufenthaltsorte müssen ständig wechseln, Beziehungen sind nicht auf Dauer angelegt, und wenn doch, dann ist es die regionale Justiz, die dem Treiben ein Ende bereitet. Kaltblütigkeit beim Raub und Hartherzigkeit in Herzensdingen zeichnen ihn aus. All dies erzählt er von sich selbst, all dies gesteht er in seinen Memoiren ein und angesichts dieses Lebensgeständnisses ist es doch möglich, das gewiefte Schlitzohr zu mögen. Seine Hochstapelei ist Lebenslüge und Fluchtpunkt zugleich. Das Psychogramm dieses Täters könnte nicht auffälliger und eindeutiger ausfallen. Was bringt uns das Lesen dieses Buches heute? Wer sich noch schnell auf die Suche nach ein paar Hochstaplertricks macht, der sei gewarnt. Hier ist methodisch nichts mehr auf unsere Zeit anzuwenden. Ausweispapiere, Reisepässe im Zeitalter international vernetzter Polizeien machen die Vorgehensweise obsolet.

Psychologisch offenbart uns Manolescu jedoch Verhaltensmuster, die auch heute noch Bestand haben, wenn es um die großen Betrugsfälle geht. Der Schein heiligt die Mittel. War immer so und wird wohl auch immer so bleiben. Kleider machen Leute und wer auf großem Fuß, dem nimmt man seine Leichtfüßigkeit ab. Blenden gehört hier zu einem fatalen Handwerk, das immer noch goldenen Boden hat. Das kritische Nachwort von Thomas Sprecher ordnet diesen Text sehr gut in die Zeit und die Kulturgeschichte ein. Von Thomas Mann bis zu kriminellen Nachahmern reicht der Bogen, den er spannt und einer klaren Bewertung unterzieht. Es gelingt ihm, der Kunstform des Hochstapelns den Charme des Bagatelldelikts zu nehmen. Ebenso vermag er, die Bedeutung dieses Stoffes als literarisches Sujet herauszustellen. So Lesenswert, wie das gesamte Buch.

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Fürst Lahovary von Georges Manolescu

Das Leben von Georges Manolescu wurde verfilmt, in vielen Büchern zitiert und in den Jahrzehnten nach seinem frühen Tod im Jahre 1908 zunehmend glorifiziert. Man kann sich im Buch „Fürst Lahovary„, das für den Autor selbst mehr Dokument, denn ein Roman sein sollte, selbst ein Urteil über den Menschen machen, der hier eigentlich keine Lebensbeichte ablegt. Sein dramatischer Niedergang vom König der Diebe bis hin zum Gescheiterten ist schillernd, aufreibend und abenteuerlich. Es sind aber die Phasen in den Gefängnissen, die Monate und Jahre der Haft, die dem Lesenden noch lange im Gedächtnis bleiben, weil sie zeigen, wie allmächtig die Lebenslüge sein kann.

Ich kann euch dieses Buch wärmstens empfehlen. Es ist alles dabei, was das Herz begehrt. Und nicht zuletzt handelt es sich um ein Schmuckstück, das einer Bibliothek mehr als gut zu Gesicht steht. Es ist mein „Goldenes Buch“ – wehe, jemand versucht, sich darin einzutragen.

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Fürst Lahovary von Georges Manolescu

Walden von Henry D. Thoreau – Tiny House meets Tiny Book

Walden von Henry D. Thoreau - Astrolibrium - Tiny books

Walden von Henry D. Thoreau

Sie erleben gerade einen absoluten Boom. Sie symbolisieren, wie kaum ein zweites Lebenskonzept den Wunsch des Menschen nach Individualität und Minimalismus. Man begegnet ihnen in den sozialen Medien auf Schritt und Tritt und stellt sich unwillkürlich die Frage: „Könnte ich so leben?“ Gemeint ist das Tiny House. Wohnen auf wenigen Quadratmetern. Auf das Wesentliche reduziert, stehen diese kleinen Häuschen für das Streben nach einer Abkehr vom Wohnen in Metropolen, für eine neue Bescheidenheit in der Selbstwahrnehmung und für ein hohes Maß an Selbstverwirklichung. Noch steckt das Wohnkonzept in den Kinderschuhen. Tiny Houses gibt es zu Hauff. Einzig, es fehlt der Lebensraum, sie aufzustellen und zu bewohnen. Gesetze grenzen den Drang nach Freiheit und Flexibilität immer noch ein. Vielleicht steht jenes Tiny House von heute für die Lebensphilosophie von morgen. Doch Moment! Ist diese Idee neu? Stammt sie aus unserer Zeit und basiert auf den zwingenden Erfordernissen einer ständig wachsenden urbanen Bevölkerung?

Nein. Die Idee, die heute unter dem Schlagwort Tiny House aufgegriffen wird, ist ein alter Hut. Der Begriff ist neu. Die fast schon industrielle Großfertigung der kleinen Häuser ist neu. Naja – und angesichts der horrenden Preise für solche Wohncontainer mit einer höchst individuellen Einrichtung, kann man kaum von Minimalismus sprechen. Diese Wohnidee ist, auf den Quadratmeter gerechnet, der pure Luxus. Und doch ahmt man einen philosophischen Ansatz nach, der schon im Jahr 1845 für Aufsehen sorgte. Wirklich wahr. Wie ich schon schrieb: Ein alter Hut und eigentlich müsste man diesen holzverkleideten Container-Wohneinheiten den Namen „Walden Houses“ geben. Hier würde man an die Ursprünge der Wohnidee anknüpfen, müsste die Häuschen nur ein wenig erschwinglicher machen und schon wäre man ganz bei Henry D. Thoreau. Ihr glaubt das nicht? Kein Problem. Er schrieb darüber… Und wie er darüber schrieb!

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Walden von Henry D. Thoreau

Henry D. Thoreau (1817 – 1862), der amerikanische Philosoph und Schriftsteller war ein früher Anhänger des großen Ralph Waldo Emerson und entwickelte schon zu Beginn ihrer späteren Freundschaft ganz eigene Ideen zur Reform der Gesellschaft. Er war nicht nur ein Dichter und Denker. Thoreau war ein Mann der Tat. Sein Denken war nicht das eines Nostalgikers. Er wollte einfach nur herausfinden, wie man sich am besten über Wasser halten kann, ohne der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft zum Opfer zu fallen. Er wollte endlich etwas Ganzes schaffen, autark sein und nicht nur Teil des Prozesses sein, an dessen Ende er nicht mehr genau weiß, welchen Anteil er am Ergebnis hatte. Er setzte die Ideen in die Tat um und wurde zum Aussteiger. Nur, dass dieser moderne Eremit nicht in einem Fass wohnte. Er zog in Richtung Walden-Pond und begann damit, sich eine kleine Hütte (Walden Hut) zu bauen. Niemand sollte ihm dabei helfen. So entstand das vielleicht erste Tiny House mit literarischem Background.

Etwa zwei Jahre lebte er im Einklang mit der Natur, nicht jedoch ohne Kontakte zur Welt außerhalb der einfachen Hütte. Er konnte sich auf dem Grundstück Emersons im wahrsten Sinn des Wortes erden. Der Zwang, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und die gesellschaftliche Erwartungshaltung fielen von ihm ab und machten seinen Kopf frei, um über diese Grenzerfahrung schreiben zu können. Walden ist das Ergebnis jener Zeit als Aussteiger aus dieser Gesellschaft, die mit der heutigen sicherlich vergleichbar scheint. Alles zielte allein auf Kommerz und Wertsteigerung ab. Der Materialismus war die einzige Geisteshaltung, der man sich zu unterwerfen hatte, um nicht unterzugehen. Der Raubbau an der Natur kennzeichnet diese Entwicklungsphase einer Ökonomie, in der wenige alles besitzen und der Rest arbeitet, um den Reichtum dieser Wenigen zu mehren. Kommt uns irgendwie bekannt vor. Spätestens die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie unserer Tage könnte schon Grund genug sein, auszusteigen und sich ein kleines Haus im Wald zu bauen…

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Walden von Henry D. Thoreau

Es ist die harrsche Gesellschaftskritik, die Thoreau in die Wälder treibt. Es ist das Bewusstsein, dass sich Menschen das Denken und Entscheiden bereitwillig abnehmen lassen, nur um in Ruhe ein einigermaßen abgesichertes Leben zu führen. Nicht jedoch mit Thoreau. Nicht mit diesem Selfmade-Geist, der selbst ausprobieren möchte, was er anderen als alternativen Lebensweg empfehlen würde. Klingt das nicht verstaubt, woran er vor 175 Jahren glaubte? Haben nicht Gewerkschaften und die Entwicklungen in der freien Welt all diese Misstände beseitigt? Ganz und gar nicht. Jeder findet in „Walden“ seinen ganz persönlichen Thoreau-Moment, dem man auch heute noch beherzt folgen kann. Eine Erkenntnis, dass sechs Wochen Lohnarbeit völlig ausreichen, um sich den Rest des Jahres um das wahre Leben zu kümmern, ist nicht weit hergeholt und könnte auch heute noch relevant sein. Würden wir alle nicht nur nach Reichtum streben.

Auch seine bildhaften Vergleiche lassen sich in unsere Zeit übertragen. Ob dies nur uns selbst betrifft, oder ob man seine Ansichten überprüfen sollte, wie man seine Kinder erzieht? Das ist jedem selbst überlassen. Nachdenkenswert sind seine Ansätze allemal. Ist Bildung ein theoretischer Prozess oder folgen wir da einem falschen Weg? Ein Beispiel gefällig?

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Walden von Henry D. Thoreau

Der Vergleich zweier junger Männer:

„Welcher von beiden hätte nach zwei Monaten größere Fortschritte
gemacht: der Junge, der sich selbst ein Taschenmesser verfertigte
aus dem Erz, das er eigenhändig ausgegraben und geschmolzen hat,
wobei er so weit als nötig Bücher zurate zog, oder der Junge, der
unterdessen Vorlesungen über Metallurgie besuchte und von
seinem Vater ein Taschenmesser geschenkt bekam?“

Henry D. Thoreau zog lieber in die einsame Wildnis am See, baute sich mit seinen eigenen Händen das bescheidene und abgelegene Refugium, um sich wiederzufinden. Nicht nur das ist ihm gelungen. Seine reinsten Gedanken haben jeden Bildersturm der Geschichte überstanden und sind so lesenswert, wie erhellend…

Ich bin seinen kreisförmigen Denkbewegungen gerne gefolgt. Thoreau zog sich in sein Schneckenhaus zurück, fokussierte, reflektiert die Gründe seines Aussteigens, ist in den kontemplativen Phasen geistreich und visionär, und dann verlässt er das Innere seines Rückzugsortes und beginnt seine Umgebung wahrzunehmen. Was wir dann mit seinen Augen sehen, seinen Worten ablesen dürfen, ist so kristallklar, als hätte ihn ein eiskalter Gebirgsbach innerlich und äußerlich gereinigt. Die Beschreibungen verlieren den Zorn des Gesellschaftskritikers und erhalten eine Eindringlichkeit, die der Natur im Umfeld seiner Hütte ein naturalistisches Denkmal setzt. Als wäre gröbstes Kaffeepulver durch einen Filter gepresst worden, so ist „Walden“ der zeitlos relevante Extrakt einer Erfahrung, die jeder für sich selbst nachvollziehen und nachempfinden kann.

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Walden von Henry D. Thoreau

Der Walden-See im Winter:

„Nach einer stillen Winternacht erwachte ich mit dem Gefühl es sei mir eine
Frage gestellt worden, die ich im Schlaf vergeblich zu beantworten versucht
hatte: was – wie – wann – wo? Doch da schaute die frühmorgendliche Natur,
in der alle Geschöpfe leben, gelassen bei mir zum Fenster herein und
machte keineswegs ein fragendes Gesicht. Ich fand beim Erwachen
eine bereits beantwortete Frage vor – Natur und Tageslicht.“

Es kann kein Zufall sein, dass Thoreaus Geschichte des ersten Tiny Houses und einer neuen Lebensphilosophie ausgerechnet im Manesse Verlag erschienen ist. Hier haben sich Autor und Verleger über die Grenzen der Zeit gefunden und sind eine Symbiose eingegangen, die Symbolcharakter hat. Welches Buch könnte besser davon erzählen, wie reinigend es sein kann, sich im Minimalismus wiederzufinden? Welchem Buchformat würde man diese Philosophie abkaufen, wenn nicht einem Tiny Book, das selbst dafür steht, nicht großformatig durchs Lesen zu gehen? Tiny House meets Tiny Book. Beide stehen für Lebensqualität und die Konzentration auf das Wesentliche. In beiden Philosophien (ob Lebens- oder Verlagsphilosophie) geht es nicht um Nostalgie. Hier ist die Zukunft fest im Blick. Es geht nicht um Größe und knallige Effekte. Es geht um den Kern aller Fragen. Kann ich so leben, kann ich so lesen? Verlockend und für mich ein wundervoller Dialog aus Geschichte und Medium.

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Walden von Henry D. Thoreau

Und im Ernst. Sollte man sich jemals für ein Tiny House entscheiden, mit welchem Buchformat ließe sich eine vergleichbar umfangreiche Bibliothek aufbauen? Da müssen schon die kleinen Großen aus dem Hause Manesse ins Tiny Regal…

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Walden von Henry D. Thoreau

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe - AstroLibrium

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe

Eine Deutschlandreise“ von Thomas Wolfe – Manesse Verlag

Es sind sechs Etappen, in denen wir mit Thomas Wolfe durch Deutschland reisen können. Es sind zugleich sechs Zeitzonen der deutschen Geschichte, die wir an seiner Seite erleben dürfen. Warum jedoch ist das Reisejournal eines Schriftstellers relevant, der im Alter von 38 Jahren auf dem Höhepunkt des Erfolgs 1938 verstarb? Warum sind seine Tagebücher geeignet, uns hinter dem literarischen Ofen hervorzulocken? Sicher gibt es Autoren, deren Betrachtungen des sich intensiv veränderndes Landes objektiver und im geschichtlichen Zusammenhang fundierter sind. Warum einen Romancier lesen, dessen Lebenswerk durch monströse Werke wie „Schau heimwärts, Engel“ und „Von Zeit und Fluss“ geprägt ist? Was kann er uns geben, was wir nicht schon wissen? Hat dieses Buch das Potenzial, mein Lesen zu bereichern? (PodCast verfügbar)

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe - Die Rezension fürs Ohr - AstroLibrium

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe – Die Rezension fürs Ohr – Ein Klick genügt

Dies waren die zentralen Fragen, die mich zuerst daran zweifeln ließen, als Horst Lauinger – seineszeichens Programmleiter des Manesse Verlages – dieses Buch auf der Frankfurter Buchmesse im kleinen Kreis vorstellte. Ich zweifelte daran, weil ich dem Zeitgenossen von Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald bisher literarisch nicht begegnet bin. Seine Bücher waren mir unbekannt und eigentlich wollte ich nicht gerne ein Lesekapitel öffnen, das eher einer Retrospektive gleichkäme. Und doch erlag ich in der kleinen Runde der Leidenschaft des Verlegers, der sich lapidar als Türsteher und Animateur im Club der toten Dichter bezeichnet.. Hätte ich geahnt, wie dramatisch sich das Lesen der „Deutschlandreise“ auf mein zukünftiges Lesen auswirkt, ich hätte vielleicht davor zurückgescheut. Das Opfer jedoch, Wolfe nicht kennenzulernen, wäre einfach zu groß gewesen. Nun schreibe ich hier als glückliches Opfer…

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe - AstroLibrium

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe – Programmleiter Horst Lauinger

Wenn ich also Eine Deutschlandreise hier vorstelle, spreche ich damit eine klare Leseempfehlung aus. Einem Opfer nimmt man das vielleicht ab, weil ich jetzt aus einer Gefangenschaft schreibe, die ich nicht bereue. Mein Urteil: lesenslänglich. Ich bin selbst schuld daran. Das mag ich nicht verhehlen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle mit ein paar handfesten Bedenken aufräumen, die dem Genuss dieses Buches im Weg stehen könnten. Und schon sind wir mittendrin in der Rezension eines Reiseberichtes, der alles ist, nur kein Reisebericht. Es handelt sich eher um die geschickte Kollektion aller Texte, die Thomas Wolfe in den Jahren 1926 bis 1936 als Selbstzeugnis seiner Reisen durch Deutschland verfasste. Es sind skizzenhafte Tagebuchaufzeichnungen, Ansichtskarten und lange Briefe an die Liebe und Muse seines Lebens Aline Bernstein, seinen Lektor Maxwell E. Perkins und Freunde, die er hinterließ. Es sind starke Kurzgeschichten, zu denen er inspiriert wurde und es sind letztlich die Romane, auf die man neugierig wird, wenn man die Deutschlandreise beendet hat.

Thomas Wolfe ist in der Herangehensweise an sein Sehnsuchtsland Deutschland so wundervoll naiv und subjektiv. Man spürt seine deutschen Wurzeln, das Gefühl für seine heimliche Muttersprache und das stereotype Menschenbild, das er an jeder Ecke zu erwarten scheint. Es sind die specknackigen Deutschen, auf die er trifft. Es sind die Angehörigen der studentischen Vereinigungen, auf die er mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung blickt. Der „Schmiss„, also die Narbe aus dem Fechtkampf, wird für ihn zum Synonym einer Generation. Er erlebt die Weimarer Republik und den langsam aufziehenden Nationalsozialismus. Er erlebt die braunen Horden. Er sieht mit Hitler den „starken Mann“, der das Gefüge der Welt aus den Angeln hebt. Und alles was ihm am Anfang der Zeitenwende noch so harmlos erscheint wird greifbar lebensgefährlich, als er die Konsequenzen der Machtübernahme der Nazis für seine jüdischen Verleger im Dritten Reich realisiert. Die einzelnen Reise-Etappen werden zu Momentaufnahmen im Sturm der Zeit. Eindrucksvolle Fotos aus dieser Zeit belegen das eindringlich.

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe - AstroLibrium

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe

Dabei werden wir zu Weggefährten eines aufmerksamen Beobachters und eines Mannes, mit dem wir uns gerne mal auf ein Glas Bier in einem Lokal verabredet hätten. Gerade die unterschiedlichsten Phasen seiner Schriftsteller-Karriere machen das Buch so lesenswert. Erste Reisen durch Deutschland erlebt er als noch nicht verlegter Autor. Neidisch blickt er in die Schaufenster der Buchhandlungen, bestaunt die Bücher seiner Kollegen, die ihre Spuren bereits im deutschen Sprachraum hinterlassen haben. Sein Blick fällt auf James Joyce, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald. Später, nach der Veröffentlichung der Übersetzung seines ersten Romans Schau heimwärts, Engel wird auch er wahrgenommen. Er sonnt sich im aufstrebenden Ruhm und genießt es, im Rampenlicht zu stehen.

Wir entdecken die Muster seines Schreibens, spüren die Textmelodien, die sich aus den Tagebüchern in die längeren Briefe übertragen. Hier werden die Skizzen ausgemalt und lebendig. Seine darauf aufbauenden Kurzgeschichten „Dunkel im Walde, seltsam wie Zeit„, „Oktoberfest“ oder „Nun will ich ihnen etwas sagen“ sind dann bereits von einer außergewöhnlichen literarischen Klarheit gekennzeichnet. Es ist gerade der flotte Wechsel zwischen Tagebuch, Postkarten, Brief und fiktionaler Erzählung, der hier zum Strickmusterbogen jenes Buches wird, das uns Thomas Wolfe so nahbringt, wie es ihm selbst wohl gar nicht recht gewesen wäre. Es fühlt sich an, wie das Lüften der intimsten Geheimnisse des Schriftstellers, der uns niemals einen Blick auf die Blaupause seines Schaffens gewährt hätte. Hier liegt sie nun offen. Wir sollten behutsam mit ihr umgehen. „Eine Deutschlandreise“ entschlüsselt die literarische DNA eines großen Autors.

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Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe

Wer sich mit Thomas Wolfe auf Eine Deutschlandreise begibt, wird in vielfacher Hinsicht von einer meisterlichen Kollage begeistert werden. Wir werden zu Zeugen der Entwicklung eines Genies zu einem Bestsellerautor, wir treffen ganz zufällig auf die wichtigen Weggefährten seines Lebens und begegnen ganz zufällig James Joyce. Wir entdecken unsere Heimat neu. Frankfurt, München oder Berlin in den Zeitscheiben des Buches zu erwandern, ist ein besonderes Erlebnis. Es wird zusehends dunkler im Land seiner Väter. Thomas Wolfe begibt sich auf eine Gratwanderung, die ihn selbst fast zu einem Flüchtling werden lässt. Diese Eindrücke verfestigen sich in seinen Romanen. In kaum einer anderen Vita steckt so viel eigenes Erleben als Grundlage des Schreibens, wie in der von Thomas Wolfe. Authentizität und Leidenschaft gehen hier Hand in Hand.

Ich bin ein Opfer. Und ich bin es mehr als gerne. Ich habe seine Romane um mich versammelt, ich werde sie lesen, werde die Fährten aufspüren, die Thomas Wolfe auf seinen Reisen gelegt hat. Ich werde Menschen in seinen Büchern wiedererkennen, die er schon in seinen Kurzgeschichten nicht sehr gut verbergen konnte. Ich werde Berge und Städte wiedererkennen, die er im Tagebuch nur angerissen hat und ich werde mir wohl die Augen verwundert reiben, wenn ich die kleinen Belanglosigkeiten des Reisens in seinen Romanen zur Literatur erhoben sehe. Man wird noch von mir hören, da mich Thomas Wolfe noch lange beschäftigen wird. Er schrieb nicht viele Geschichten, bevor er im Alter von 38 Jahren starb. Und doch sind es tausende Seiten, die er hinterließ.

Ich bin infiziert und gebe den Thomas-Wolfe-Virus gerne weiter. Hier ist jedoch das Gegenmittel bekannt. Es ist in jeder Buchhandlung zu erhalten, nur kann ich euch leider kein Rezept ausstellen. Privatleser kennen das ja schon. Es gibt keine Versicherung in unserem Land, die unsere Leidenschaft unterstützt. Was kommt also noch? Was könnt ihr noch von mir erwarten. Zuerst einmal ein Filmtipp. „Genius“ mit Jude Law und Colin Firth gehört für mich zu den brillantesten Literaturfilmen. Hier wird die Geschichte eines Lektors erzählt, dessen heroische Aufgabe darin besteht, die mehreren tausend Seiten der Mansukripte von Thomas Wolfe so zu literaturisieren, dass es lesbare Meisterwerke werden. Seine Referenzen: Hemingway und F. Scott Fitzgerald. (Die auch in diesem Film vorkommen). Stark inszeniert und vor bibliophiler Leidenschaft nur so strotzend.

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe - AstroLibrium

Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe

Und dann folgen die Bücher: Schau heimwärts, Engel, Von Zeit und Fluss und Die Party bei den JacksIch danke dem Türsteher im Club der toten Dichter für die Infektion. Ich komme mit den Symptomen derzeit ganz gut zurecht. Doch werde ich oft mitten in der Nacht wach und schrecke im Gefühl auf, noch ungelese Wolfe-Romane auf dem SUB liegen zu haben. Unheilbar lesekrank.

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Eine Deutschlandreise von Thomas Wolfe

Melville, Moby Dick, Mardi und ein runder Geburtstag

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Mardi und die Reise dorthin von Herman Melville

Wenn wir den Namen Herman Melville hören, assoziieren wir ihn sofort mit einem Weißen Wal. Klassiker der Literaturgeschichte hinterlassen deutliche Spuren, wobei es ihnen zumeist gelingt, mit einem einzigen Werk gleichgesetzt zu werden. „Moby Dick“. Das reicht aus, um den Schriftsteller Herman Melville auferstehen zu lassen. „Das war doch der mit Käpt´n Ahab, Queequeg, Starbuck und Stubb!“ Richtig, genau der. Wenn man an ihn denkt, sieht man die Golddublone im Mast, hört man das Holzbein des auf Rache sinnenden Kapitäns und sieht ihn zum Ende, winkend mit Moby Dick verbunden, in der Tiefe versinken. Unvergessene Bilder eines echten Klassikers, der es in einigen Abwandlungen und Vereinfachungen sogar bis zum Kinder- und Jugendbuchbestseller gebracht hat.

Am 1. August 1819 kam Herman Melville in New York zur Welt. Ein Mann, der sein eigenes Leben zur Ausgangsbasis seines künftigen Schreibens machte. Er befand sich nicht im Elfenbeinturm des Theoretikers. Seine Essays und Romane spiegelten wider, was er selbst erlebt hatte. Und, wenn seine Fantasie einen Schritt weiterging, sich dem Fiktionalen und Fantastischen öffnete, dann waren noch so viele Spurenelemente vom eigenen Erfahrungsschatz vorhanden, dass man mit Fug und Recht behaupten konnte: „Er weiß worüber er schreibt.“ Er war Schiffsjunge, erlebte die Blütezeit des Walfangs und hatte die ganz eigene Welt an Bord dieser segelnden Tran-Fabriken erlebt. Hier ist das Geheimnis seines anhaltenden Erfolgs zu finden. Er hat das Meer von der Pike auf gelernt. Windstille, Mangel, Skorbut, Hektik, Überlebenskampf und grausame Kapitäne. All dies waren Wegbegleiter seiner Jugend. All dies finden wir in seinem Werk wieder.

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Mardi und die Reise dorthin von Herman Melville

Zwei umfangreiche Artikel habe ich dem Weißen Wal gewidmet. Rezensionen über die Entstehung, Hintergründe zum Buch und dem Hörspiel und seine zeitlose Relevanz. Moby Dick ist die Blaupause für die ewige Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur. Ein Stilelement der Literatur, das uns immer wieder begegnet. Von Hemingway und seinen Stieren bis zu Helen Macdonald mit Habicht und Falke reicht die Range in der Konfrontation mit der unzähmbaren Natur. Einzig Melville jedoch gelingt es, mich in die Zeit eines lesewütigen 14-Jährigen zurückzuversetzen. Moby Dick hat tiefe Spuren hinterlassen und schon beim Aufschlagen des Buches stürze ich zurück in der Zeit:

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Ich bin plötzlich wieder 14! Ich sitze in meinem alten Jugendzimmer und bereite mich darauf vor, diese Nacht an Bord der Pequod zu verbringen. Ich höre das Holzbein des Kapitäns über die Planken poltern, sehe Queequek neben mir seine Harpune schleifen und bemerke, dass Ismael in sein Tagebuch schreibt. Wozu auch immer. Egal. Ich bin wieder mal auf der Flucht und es gibt keinen besseren Platz auf Erden, als die Pequod, wenn man vor den Gedanken an die morgige Mathe-Klausur weglaufen möchte.

Ich bin wieder 14. Die junge rabaukenhafte Leseratte mit Stimmbruch und weit davon entfernt, mich angesprochen zu fühlen, wenn der gute Herman Melville schrieb: „Es ist jetzt Zeit für Männer mit Bart, an Deck zu gehen.“ Naja. Ich konnte da nicht gemeint sein. Ich liege lieber in meiner Hängematte und seitdem wir Nantucket verlassen haben schaukele ich mich lesend in den Schlaf. In meiner kleinen Welt voller Schiffszwieback, gepökeltem Fleisch und ein paar Fässern guten Rum. Und, was im Alter von 14 Jahren nicht ganz unwichtig ist: An Bord eines Schiffes ganz ohne Frauen…

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Mardi und die Reise dorthin von Herman Melville

Ich denke gerne an diese Zeit zurück. Ich habe Melville viel zu verdanken. Es ist das ausgeprägte Gerechtigkeitsgefühl, das hier strapaziert wurde. Es ist die Verletzlichkeit der Natur, die mir vor Augen geführt wurde, und es ist der Zweifel an den ehrenwerten Motiven von Menschen, hinter denen sie ihren Hass verbergen, der mich vorsichtig und nachdenklich machte. Genau zum richtigen Zeitpunkt gelesen, würde ich sagen! Ganz bestimmt ein wichtiger Grund, der mich heute dazu bringt, Melville zu gratulieren. Auch ein Grund für einen Blick in den Hafen, die Fahrrinne und an einen Strand, auf dem er Spuren hinterließ, die in der Literaturgeschichte von der Flut weggespült wurden. Alles schmolz zusammen auf Moby Dick. Ich brauchte mehr als 40 Jahre, um mehr zu lesen.

Mardi und eine Reise dorthin passt hier genau in die Range. Ein Roman aus der Feder des noch eher unbekannten Autors. Ein Roman, den man als Weiterentwicklung seiner ersten Veröffentlichungen „Typee“ und „Omoo“ bezeichnen muss. Authentisch und journalistisch berichtete er in diesen beiden Werken von seinen Reisen durch die Südsee. Als Seemann und Walfänger durchreist er den Archipel, begegnet Kannibalen und besteht zahlreiche Abenteuer. Vier Jahre war er unterwegs. Flucht, Erkrankungen, Gefangenschaft, fremde Kulturen, Meuterei, Lebensgefahr und eine skandalumwittere Beziehung zu einer Eingeborenen sorgten für Aufruhr. Fragen nach der Echtheit seiner Erlebnisse wurden laut. Niemand wollte erkennen, was real, was fiktional war. Er wollte das nie voneinander trennen. Blieb ihm nur, eine andere Ebene zu erreichen. Erfinden! Völlig fiktionalisieren. Der Kritik den Boden unter den Füßen wegziehen. So entstand in seinem Kopf das erfundene Archipel „Mardi“, das er nun bereisen konnte. Ein Biotop in der freien Welt eines Schriftstellers, der seine Erlebnisse nun dorthin umsiedelte.

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Mardi und die Reise dorthin von Herman Melville

Mardi und die Reise dorthin“ (Jubiläumsausgabe – Manesse Verlag)

Gehen wir also nun davon aus, dass die Reise nach Mardi wirklich stattgefunden hat. Gehen wir davon aus, dass sie eng mit der Biografie Melvilles verbunden ist. Aber: Wir sollten das schnell wieder vergessen und einfach genießen. Erzählströme, die ausufern und neue Welten erklären. Unzumutbare Lebensumstände auf Walfangschiffen, Flucht und Einsamkeit auf hoher See, Windstille als Stilelement des Fabulierens, Anlanden an fremden Ufern, eine wild wuchernde neuartige Flora und Fauna, wilde Ureinwohner, die nie zuvor Kontakt mit der Zivilisation hatten. Und mittendrin ein Erzähler, der sich nicht nur fühlt wie ein Gott, sondern sich sogleich als solcher ausgibt. Ein unsagbar schönes Mädchen namens Yillah, in das er sich verliebt und ein Wendepunkt, der eine Odyssee lostritt.

Das Mädchen verschwindet. Die Suche beginnt. Das Archipel Mardi wird zu einem Kaleidoskop des Fremden, in dem man verzweifelt nach der ewigen Liebe sucht. Hier sprengt Melville die Grenzen des Erzählbaren. Perlenketten seiner Geschichte fallen zu Boden und ergeben ganz allein für sich betrachtet eigene kleine Welten. Es scheint so, als habe Herman Melville zu viel gewollt. Überspitzte Gesellschaftskritik, barrierefreies Überschreiten ethnischer Grenzen, rauschhaftes Erzählen und utopisches Fabulieren. Die Erzählperspektive verliert sich in subjektiven Eindrücken. Eine Herausforderung für jeden Leser. Ein Hochgenuss für Literaturbegeisterte, die begreifen, dass Mardi wie ein Befreiungsschlag zu sehen ist, ohne den Moby Dick niemals entstanden wäre.

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Mardi und die Reise dorthin von Herman Melville

Sie stoßen ab, velis et remis. (lat. Segeln und rudern)

Werfen wir die Literaturkritik über Bord. Verweigern wir Erzählstruktur und -theorie den Gehorsam. Lassen wir das Autobiografische im Fass mit den verfaulenden Keksen verrotten. Trennen wir uns vom Ballast unseres Wissens und vergessen den Autor, der tatsächlich von einem Walfangschiff desertierte und die Südsee bereiste. Lasst uns an Bord gehen. Lossegeln, rudern, in der Windstille verzweifeln. Wagen wir es einfach, in seine Haut zu schlüpfen und Mardi zu erkunden. Lasst uns lieben, weinen und suchen. Lasst uns einen Klassiker neu entdecken und dann gemeinsam überlegen, in welchen Dimensionen Herman Melville lebte, fühlte, dachte und schrieb. Und dann gehen wir an Land, finden ein Buch und lesen „Moby Dick“ mit neuen Augen.

Folgen wir dem Vorwort des Verfassers:

„Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden,
kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung
zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann: in gewissem Grade die Umkehrung meiner vorherigen Erfahrung.“
(Herman Melville 1849)

Hier geht es schon bald weiter mit einem Miniklassiker aus dem Mare Verlag. Es geht weiter mit „John Marr und andere Matrosen„, der Gedichtsammlung, die er kurz vor seinem Tod anonym veröffentlichte. Ganze 25 Exemplare umfasste die Auflage. Es bleibt zu hoffen, dass die kleine aber feine Sammlung heute erfolgreicher ist.

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Herman Melville bei AstroLibrium – Es geht weiter

Mardi und eine Reise dorthin“ von Herman Melville / dt. von Rainer G. Schmidt / 832 Seiten / gebunden / 45 Euro