Der endlose Sommer – Ein Requiem von Madame Nielsen

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„… wir bleiben im »endlosen Sommer«, der gleich dem Paradies der Ort ist, der nie war und an den man nie zurückkehren kann, außer in der Erzählung…“

Der endlose Sommer – Sommerzeit bei Literatur Radio Bayern – Ein Klick genügt

Könnt Ihr Euch noch an Euren letzten Endlosen Sommer erinnern? An diese Zeit in Eurer Jugend, in der fast alles möglich schien, in der man sich unsterblich fühlte, auf der Suche nach der ersten wahren Liebe jedes Risiko eingehen konnte und dachte, die Freunde dieser Tage wären jene Menschen mit denen man sein Leben lang zusammen sein würde? Könnt Ihr Euch noch daran erinnern? An diesen verschleierten Traum, der alle Konturen verwischte und an dessen Ende man inständig hoffte, nicht irgendjemand zu sein. Jemand wollten wir werden. Geliebt, nicht beliebig. Die flirrenden Träume und Fantasien jener Tage hinterlassen in jedem Menschen eine nicht mehr auzuslöschende Melodie, der wir lange hinterher trauern, wenn sie erst verklungen ist.

Könnt Ihr Euch an diese Zeit in Eurem Leben erinnern? Seid Ihr bereit, den Kokon zu durchbrechen, der Eure Erinnerungen vor dem Hier und Jetzt beschützt und seid Ihr bereit, in ein Paradies zurückzukehren, in das man niemals zurückkehren kann? Außer in Erzählungen? Wenn ja, dann seid Ihr bereit für Madame Nielsen. Aber Vorsicht, die Rückkehr in dieses Paradies kann alte Wunden aufreißen und Gefühle wecken, die Ihr schon lange vergessen habt. „Der endlose Sommer“ beginnt erneut.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Der scheue Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, aber nie einen Mann berühren, sich nie mit einem Mann ausziehen und Haut an Haut reiben würde, nie im Leben…“

Der endlose Sommer ist kein Roman und keine Erzählung im üblichen Sinn. Wir tauchen in ein Requiem ein, den emotionalen Abgesang auf das verlorene Paradies, in dem eine Gruppe junger Menschen die wundervollste Zeit ihres Lebens verbrachten. Es ist eine Phase der unbeschwerten Orientierungslosigkeit und Offenheit für die Wunder der Welt. Alles scheint erlaubt und doch ist es mutig, die moralischen Schranken einer Gesellschaft zu durchbrechen die keine Durchbrüche toleriert. Ein junges Mädchen und ihr zarter scheuer Freund erleben dies am eigenen Leib. Die eigene Suche nach den großen und sicheren Gefühlen wird durcheinandergewirbelt, als zwei Portugiesen im strahlenden Licht des endlosen Sommers erscheinen. Die feste Gemeinschaft dieser Tage wird um eine Melodie erweitert, die alles vergessen macht und vieles neu erfindet.

Den Stiefvater, der seine Frau eifersüchtig mit dem Gewehr bewacht. Die Brüder, die haltlos durch ihr Leben taumeln und die Mutter, die plötzlich alle Zweifel über Bord wirft und sich hoffnungslos in einen der Portugiesen verliebt. Eine wahrlich unmögliche Liebe, die alles in ihren Bann zieht, alles mit sich reißt und auch nicht endet, als der letzte Sonnenstrahl des endlosen Sommers für immer untergeht.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„Doch manches ist selbst im Traum nur ein Traum, »der endlose Sommer« zum Beispiel, vielleicht beginnt er nie, vielleicht ist er nichts als die Befreiung, von der das Mädchen oder der schmale Junge träumen…“

Vom Olymp des Erzählers macht uns Madame Nielsen nicht nur zu Beobachtern.  Wir spüren, dass sie die Fäden in der Hand hält und das Schicksal bestimmt. Wie eine griechische Göttin vermag sie die Gefühle der jungen Menschen aufzuspüren und uns ins Herz zu schreiben. Dabei schreibt Madame Nielsen nicht im traditionellen Sinn den Roman den man vielleicht erwartet hat. Sie komponiert ihr Requiem wie ein Musikstück, dessen melancholische Grundmelodie uns gefangen nimmt. Sprachlich eine Klasse für sich. In der Struktur der Erzählung so vergleichbar, wie ein Traum im Traum, der jede Struktur verweigert und sich erst erschließt, nachdem man aufgewacht ist. Dieses Buch ist die Kathedrale, in der dieses Requiem aufgeführt wird.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„… und viele Jahre später, als er schon längst eine alte Frau ist…“

Wer sich dieser Erzählung bedingungslos ausliefert, wird schnell fühlen, dass sie sich den Kategorien entzieht, die wir gerne über Literatur stülpen würden. Wir haben es hier nicht mit einem Coming-of-Age-Roman zu tun, dies ist sicher keine Geschichte über diffuse Rollenbilder oder gar eine Gender-Story. Wir erleben kein sexuelles Outing oder homo-erotische Trugbilder. Hier ist alles möglich. Alles ist ungeformt und im Fluss. Das Leben liegt nicht als Blaupause zum Nachzeichnen auf dem Tisch. Die Menschen dieses Romans sind Skizzen, die keine scharfen Kanten haben und die wir gemeinsam mit der grandios fabulierenden Autorin ganz zart ausmalen dürfen.

Ihr werdet den Roman nicht zu fassen bekommen, wie Ihr Euren eigenen endlosen Sommer auch heute nicht zu fassen bekommt. Er besteht aus Sequenzen, Bildern und Rhythmen, die sich langsam aneinander reihen. Sucht nicht verzweifelt nach Struktur, wo Euer Paradies selbst nie strukturiert war. Versucht Euch hinzugeben, das Requiem zu erhören und saugt die Melodie auf, die wir schon lange nicht mehr summen können.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

Sucht nach Euren eigenen Antworten auf die Fragen des Lebens. Wer gehört zu wem, wer ist wer und was bleibt am Ende von allem? Ist es nur das liebestrunkene und unvergessliche Gefühl der letzten großen unbeschwerten Lebensphase und die Angst vor der Unausweichlichkeit des Schicksals? Ist es Liebe? Ist es Unsicherheit oder gar die eigene Erinnerung, die es plausibel erscheinen lässt, dass ein Junge vielleicht ein Mädchen ist. Madame Nielsen reicht Euch ihre Hand und summt ihr ganz eigenes Lied. Durchleben müsst Ihr diesen endlosen Sommer ganz allein. Das ist Euer Privileg. Es ist wundervoll, in diesem Roman den eigenen endlosen Sommer zu finden und sich dabei zu fragen, was wir im Herbst und Winter unseres Lebens davon noch im Herzen haben. Ich fand meine Antworten.

Dieser Roman entspricht seiner Autorin. Madame Nielsen ist alles, was man sich vorstellen kann, wenn man das Wort Künstlerin reflektiert. Sie ist Kunstperson und Lebenskünstlerin, Performance-Artist, Autorin und Sängerin. Ihre Vita klingt skurril, was sie für mich nur umso faszinierender macht. Sie löste sich 2001 sehr konsequent von ihrem männlichen Ich, trug Claus Beck-Nielsen zu Grabe, erfand sich selbst und lebt ihr Leben, wie sie ihren endlosen Sommer lebte. All diese Geheimnisse möchte ich gerne im Verborgenen lassen und sie so akzeptieren, wie sie schreibt. Außergewöhnlich und einfach als grandiose literarische Stimme. Ich fühlte mich sprachlich ein wenig an die große Tania Blixen erinnert. Ja, ich denke, das hätte ihr gefallen. Dänische Stimmen tragen die Weltliteratur auf leichten Schultern. Ich verneige mich.

„Es ist stets die Idee des Paradieses, auf die es ankommt,
und wenn eine hinreichend ansprechende Illusion erschaffen werden kann,
folgt die Wirklichkeit von selbst.“
(Tania Blixen)

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

Ihr könnt diese Rezension auch auf Literatur Radio Bayern hören. 

Inzwischen ist die endlose Sommerzeit auch bei Zeichen und Zeiten angebrochen.