Wenzel Winterberg ist so alt, wie die erste Tschechoslowakische Republik. Er ist so alt, wie das Krematorium in Reichenberg, das er liebevoll „Feuerhalle“ nennt. Er ist so alt, dass er selbst schon Geschichte ist. 99 Jahre. Er ist unterwegs. Mit Zügen, weil er Busse und Autos nicht mag. Er orientiert sich an einem Baedeker Reiseführer aus dem Jahr 1913 (es ist die 29. Auflage Österreich-Ungarn). Er leidet an Geschichte, wird von historischen Anfällen heimgesucht und sein Weltschmerz ist einer der Wegbegleiter auf seiner letzten großen Reise. Er hat drei Ehefrauen beerdigt, weint der Frau nach, die er nicht heiraten konnte und die Schlacht von Königgrätz (1866) geht durch sein Herz. Sie ist sein Anfang und sein Ende. Das sagt er selbst…
Er sollte nicht hier sein. Nicht unterwegs. Nicht in diesem Alter. Er lag doch schon im Sterben. Bereit zur letzten Überfahrt ins Jenseits. Ein professioneller Begleiter stand bereit. Jan Kurz, Krankenpfleger, Steuermann und Sterbebegleiter. Navigator auf dem letzten Weg. Geschult darin, seine „Matrosen“ auf die andere Seite zu bringen. Wenzel Winterberg war schon an Bord. Fast tot. Im Dämmerzustand und tief eingetaucht in den Nebel der Geschichte. Berlin. Die letzte Station. Das stand fest. Doch dann machte der Steuermann einen verhängnisvollen Fehler. Er sprach mit dem Sterbenden, um ihn auf der Reise zu beruhigen. Er sagte einen unbedachten Satz, der alles veränderte. Einen Satz, der den Nebel der Geschichte lichtete und Winterberg aufwachen ließ…
„Es ist schon interessant. Sie heißen Winterberg und ich komme aus Winterberg, aus Vimperk in Böhmen, das früher Winterberg hieß.“
Jaroslav Rudiš lässt Wenzel Winterberg nicht nur aufwachen. Das reicht ihm nicht. Er will mehr. Die Erzählungen aus der Heimat, die eigentlich nicht mehr zu ihm dringen sollten, haben den alten Mann reanimiert. Wie ein emotionaler Defibrillator wirkt es sich aus, was eigentlich für ein sanftes Hinübergleiten sorgen sollte. Wie ein Stromschlag in das verwundete Herz, sorgen die Worte des Sterbebegleiters dafür, dass sein Matrose die Augen öffnet und Antworten auf die unbeantworteten Fragen seines Lebens sucht. Nicht hier in Berlin und schon gar nicht im Sterbebett. Winterberg verweigert sich einer letzten Überfahrt. Er steht auf, erhebt sich und konfrontiert seinen Pfleger Jan Kurz mit der unerbittlichen Aufforderung, mit ihm gemeinsam aufzubrechen. Sich auf die Suche nach der ersten wahren Liebe zu begeben. Das Schlachtfeld zu besuchen, das ihm im Herzen brennt und dabei an alle Orte zurückzukehren, die sein Leben ausmachten.
„Winterbergs letzte Reise“ wird zum emotionalen Road Trip zweier Männer, deren Vergangenheit schwer wiegt. Kein leichtes Reisegepäck. Jeder hat seinen Rucksack zu tragen. Geheimes, Ungesagtes, Ungedachtes und Verdrängtes sind Ballaststoffe einer gemeinsamen Grenzerfahrung. Züge werden zur zweiten Heimat und der Redeschwall Winterbergs wirkt wie der dichte Nebel, der das Unausgesprochene gut verbirgt. Es ist nicht die klassische „sentimental Journey“ die man vielleicht erwarten könnte. Es ist die Reise unter dem Vorbehalt der Selbstfindung. Für beide Reisenden herausfordernd und belastend zugleich. Eine Reise durch die europäische Geschichte, der man sich lesend nicht mehr entziehen kann. Ein Psychogramm zweier Aussteiger, dem man nicht mehr widerstehen kann, sobald man die Reiseunterlagen von Jaroslav Rudiš in Händen hält.
Wer hier an „Ziemlich beste Freunde“ denkt, oder einen „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ vor Augen hat, der sollte besser „Winterbergs letzte Reise“ lesen und verstehen, dass Jaroslav Rudiš aus seiner skurril anmutenden Ausgangssituation alles gemacht hat, nur keine effektheischende Erzählung mit einigen gut durchdachten Anekdoten. Dieser Roman greift tiefer. Er berührt unterschiedlichste Wahrnehmungsebenen und besticht durch seine Bildhaftigkeit, die nichts metaphorisch Verbrämtes aufweist. Seine Bilder wirken in sich und für sich. Die Eisenbahn bleibt die Eisenbahn, die durch halb Europa verlegten Schienenstränge werden zu den wichtigen Brandbeschleunigern der Kriege und Vertreibungen. Feuerhallen sind Krematorien und überlagern nicht die eigentliche Geschichte, indem sie zu Sinnbildern verkommen.
Wegmarken dieser Geschichte erzeugen ihre eigene Symbolik und schon nach ein paar wenigen Seiten fühlt man sich der kleinen Reisegesellschaft zutiefst verbunden. In vielen Kapiteln des Romans verleitete mich Jaroslav Rudiš dazu, seinen Roman kurz in die Leseecke zu legen und meine eigene Route für meine letzte Reise zu skizzieren. Er schafft es, seine Gedanken so weit tragen zu lassen, dass die Relevanz für das eigene Leben spürbar wird. Welche Orte machen mich aus, wo hat alles angefangen, wo sind Spuren zu finden, die mein Leben verändert haben, was geht mir durchs Herz? Welche Suche wäre die Suche meines Lebens und was ist mit meinen Erinnerungen? Lug und Trug oder Abbilder der Realität?
Der Reiseführer aus dem Jahr 1913 hält uns vor Augen, wie sehr sich Europa in der Kürze der Zeit verändert hat. Wegbeschreibungen, Stadtpläne und Hinweise auf Sitten und Bräuche, Verhaltenstipps und Angaben zur Zusammensetzung der Bevölkerung in diesem Jahr scheinen heute aus der Zeit gefallen zu sein. Und doch zeigt genau dieser Baedeker auf, wie sich Geschichte auf uns auswirkt. Kriege ziehen Grenzen. Menschen flüchten, fliehen, werden vertrieben. Machthaber haben Macht und verlieren sie. Trottel allesamt. Zumindest aus Sicht von Wenzel Winterberg, für den die Etappen der letzten Reise zu Flashbacks der eigenen Vergangenheit werden. Zutiefst persönlich und doch zutiefst allgemeingültig. Jeder von uns hat seine Schlacht von Königgrätz, die für alles verantwortlich ist. Jeder hat eine Liebe, der er lebenslang folgt. Und jeder trägt Schuld mit sich herum. Fehler, die man nicht wiederholen würde.
Wenzel Winterberg ist anstrengend. Seine historischen Monologe und die endlosen Zitate aus seinem Reiseführer sind zermürbend. Sein Vorwurf, niemand blicke wirklich durch in der Geschichte, trifft tief. Dass sein Wegbegleiter an seiner Seite bleibt, grenzt an ein Wunder. Jan Kurz ist in seinem tiefsten Inneren auf einem eigenen Trip, der die beiden Männer mehr verbindet, als trennt. Auch bei ihm ist es eine Liebe, die das Herz zerbrach. Eine unmögliche Liebe. Die zu einer Matrosin, die er auf die andere Seite zu bringen hatte. Eine Überfahrt, bei der er alles verlor. Was das jüdische Mädchen Lenka Morgenstern für Wenzel Winterberg ist, das ist die sterbende Clara für Jan Kurz. Zwei Schlachtfelder. Zweimal Königgrätz. Verloren.
Jaroslav Rudiš hat mit „Winterbergs letzte Reise“ einen inspirierenden Roman in mein Lesen gezaubert. Ich reiste mit ihm von Berlin über Leipzig nach Dresden. Fand mich in Prag wieder und erinnerte mich an meine eigene Reise vor einem Jahr. Selbst Königgrätz habe ich besucht, die Batterie der Toten gesehen und nie vergessen. Rudiš gelingt es, auf den weiteren Etappen Geschichte lebendig zu machen, obwohl sie aus einem Reiseführer von 1913 erzählt wird. Böhmen, Mähren, Österreich-Ungarn, Brünn, Budapest, Zagreb und Wien werden zu Stationen einer Reise, die Winterberg und Kurz zu den Wurzeln ihrer Vergangenheit bringen. Ein Road Trip der besonderen Art, der für beide Männer einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellt.
Sie finden ihre Antworten. Nicht in der Weltgeschichte, weil auch sie nur subjektives Erleben ist. Sie finden ihre Antworten in ihrer persönlichen Geschichte. Verstörend und privat. Vernichtend und viel zu lange viel zu gut verborgen. Jaroslav Rudiš weckt nicht nur die Reiselust in seinen Lesern. Er ermuntert uns, die Geschichte nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sie zu hinterfragen. Und damit öffnet er uns auch die Augen für die Zukunft. Welche Geschichte, die alles verändert schreiben wir jetzt? An welche Orte werden Menschen in hundert Jahren reisen, welche desaströsen Schlachtfelder gehen ihnen dann durchs Herz? Schlachtfelder, die wir heute bestellen. Dank Jaroslav Rudiš weiß ich, wohin ich reisen würde und wen ich gerne bei mir hätte. Ein guter Gedanke.
Stöpsel raus.
Luft raus.
Augen zu.
Gute Nacht.
Jaroslav Rudiš ist mit „Winterbergs letzte Reise“ nominiert für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse. Meinen hat er! Daumen sind gedrückt!