Fuchs 8 von George Saunders

Fuchs 8 von George Saunders - AstroLibrium

Fuchs 8 von George Saunders

Könnt Ihr Euch noch daran erinnern, dass ich die kleine literarische Sternwarte zum geschützten Fuchsbau erklärt habe? In dieses Biotop habe ich Leser eingeladen, mit all ihren Instinkten und Gefühlen einen kleinen Fuchs kennenzulernen, der mein Lesen nachhaltig verändert hat. Könnt Ihr Euch noch an ihn erinnern? „Mein Freund Pax“ von Sara Pennypacker ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen Mensch und Fuchs, bei der die Perspektive des Fuchses einen tiefen Einblick in die Denk- und Gefühlswelt eines Raubtiers gewährt, dem wir Denken und Fühlen eigentlich absprechen. Ein mehr als beeindruckendes Buch für Erwachsene und Kinder. Viel mehr als nur eine Fabel.

Kein Wunder also, dass ich mich extrem darüber freute, als „Fuchs 8“ in meinem Fuchsbau auftauchte. Die Fuchssicht auf die Welt war mir also nicht unbekannt, was mich jedoch in der Kurzgeschichte von George Saunders erwartete, war völlig neu für mich. Er spricht. Der Fuchs. Es macht nicht den Eindruck, der Autor würde uns etwas erzählen. Nein. Ganz im Gegenteil. Er scheint hier nur Mittler zu sein. Kaum zu spüren. Nicht präsent. Weit im Hintergrund. Fuchs 8 erzählt seine eigene Geschichte, nachdem er den Menschen außerhalb des Waldes sehr lange zugehört und ihre Sprache gelernt hat. Neugier und Wissensdurst sind seine Antriebsfedern. So versteckt er sich und hört den Eltern dabei zu, wie sie ihren Kindern Gutenachtgeschichten erzählen.

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Fuchs 8 von George Saunders

George Saunders ist für das Besondere bekannt. In seinem Weltbestseller „Lincoln im Bardo“ lässt er ganze Legionen von Geistern auf einem Friedhof in Washington zur Sprache kommen. Sie trauern dem Leben und vertanen Chancen hinterher, versuchen den um seinen Sohn trauernden Abraham Lincoln zu trösten und sind bewegt von dem gramgebeugten Präsidenten, der sich nicht scheut, seinen toten Sohn im Arm zu halten und um ihn zu weinen. Perspektivwechsel sind die Sache von George Saunders. Es ist sein Metier, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die wir niemals hören würden. Und das auf ihre eigene unverfälschte Art und Weise. So auch Fuchs 8. 

Ist schon verständlich, dass er grammatikalisch und orthografisch nicht mit den Menschen, die er beobachtet hat, mithalten kann. Aber er bemüht sich und so liest sich das Buch, als hätte man die Erstklässler-Geschichte eines Nachwuchsautors vor Augen. Es erinnert an Lautschrift. Es ist sympathisch, unverfälscht und wirkt plausibel, weil ja ein Fuchs (und Fuchs 8 ist ein verdammt schlauer Fuchs) nicht alles kann. Hier packt die Geschichte schon auf Seite eins. Hier zieht uns der Fuchs mit aller Macht in sein Rudel hinein, um uns etwas Wichtiges mitzuteilen. Wie sich das anhört? Was man lesend vor Augen hat? Ein Beispiel:

„Liebe Leserinen und Leser: Zuers möchte ich sagen, Entschuldigung für alle Wörter di ich falsch schreibe. Weil ich bin ein Fuks!

Und schreibe oder buchstabire deshalb nich perfekk. Aber jezz kommt wi ich gelernt hab so gut zu schreiben und buchstabiren wi ich es tue. Eines Tages, wi ich an ein von oiern Mänschenhoisern und alles was spannend is mit der Schnauze schnüffel hör ich von drinn ein ser komisches Geroisch…“

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Fuchs 8 von George Saunders

Schon auf der ersten Seite wird klar, womit wir es zu tun haben. Wir sind als Leser und Leserinnen angesprochen, was verdeutlicht, was unser Fuchs 8 hier wirklich leistet Er spricht nicht nur unsere Sprache. Er schreibt. Er schreibt uns und wenn wir glauben, dass es möglich ist, Zeilen aus der Pfote eines Fuchses lesen zu dürfen, dann gibt es kein Entrinnen mehr. Hier entfaltet George Saunders ein ökologisches Szenario, in dem wir eigentlich die Hauptrolle spielen. Ja, wir wirken freundlich und nett. Ja, wir gehen im Großen und Ganzen liebevoll mit unseren Kindern um und ja, man könnte Vertrauen zu uns fassen. Wäre da nicht das neue Einkaufszentrum, das sich in den Fuchswald frisst und den Lebensraum des Rudels gefährdet.

George Saunders erzählt die Geschichte eines Lebewesens mit einer besonderen Begabung. Ein Querdenker, von Neugier getriebener und auf das Gemeinwohl seines Rudels bedachter Fuchs. Als ihm bei seinem Freund Fuchs 7 das Menschenwort „wow“ rausrutscht, wird dem Rudel klar, dass Fuchs 8 den Fortbestand der Art retten kann. Er muss nur mit den Menschen reden. Sie überzeugen und ihnen ihre Not erklären. Es ist der Hunger, der Fuchs 8 einen Plan in die Tat umsetzen lässt. Ich war fuchsteufelswild, als ich seine Worte las. Ich war zornig, traurig, entsetzt und doch hält uns jene Parabel nur den Spiegel vor. Man sollte sich auf Augenhöhe mit den Füchsen begeben, um nur ein klein wenig zu verstehen, was wir anrichten. Nicht nur auf den kleinen Fuchsbau bezogen.

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Fuchs 8 von George Saunders

Eine lehrreiche und relevante Geschichte in Kleinformat. Auch wenn sie kindlich daherkommt, ist sie zum Vorlesen für Kinder nicht geeignet. Zu heftig, zu brutal ist die Realität, wenn Fuchs und Mensch aufeinandertreffen. Saunders schreibt auch aus der Sicht seines Fuchses nicht verharmlosend oder geschönt. Natur trifft auf Mensch. Was ist daran zu beschönigen? Lest die Geschichte des Fuchses und findet heraus, warum er uns schreibt. Ihr werdet schnell vergessen, dass ein Autor dahintersteckt. Ihr werdet es nach wenigen Seiten vergessen haben. Bereitet Euch aber darauf vor, dass Ihr am Ende der Geschichte nicht regungslos vor einem harmlosen Büchlein sitzen werdet!

Ich war neugierig auf das Original „FOX 8“. Ich musste beide Fassungen unbedingt miteinander vergleichen. Ich musste Saunders unübersetzt lesen, um der Übersetzung gerecht zu werden. Was soll ich sagen? Frank Heibert hat hier nicht nur eine Fassung für deutschsprachige Leser erzeugt. Er hat nicht nur übersetzt. Er hat ein eigenständig nachhaltiges Werk geschaffen, dass die Saunder´sche Sprachmelodie aufnimmt, dem kleinen Fuchs eine authentische deutsche Stimme verleiht und uns zu Tränen rührt. Es wird deutlich, wenn ich das oben aufgeführte Zitat hier im Original niederschreibe. Hier wird deutlich, was Übersetzung heute bedeutet… Chapeau

Fuchs 8 von George Saunders - AstroLibrium

Fuchs 8 von George Saunders

„Deer Reeder: First may I say, sorry for any werds I spel rong. Because I am a fox!

So don`t rite or spel perfect. But here is how I lerned to rite and spel as gud as I do. One day, walking neer one of your Yuman houses, smelling all the interest with snout, I herd, from inside, the most amazing sound…“

Fuchs 8 und Pax leben nun zusammen in meinem Bücherregal. Sie verbindet sehr viel in meinem Lesen. Pax ist wirklich für Kinder geeignet und öffnet das Herz für einen kleinen einsamen Fuchs auf der Suche nach seinem Freund. Beide Füchse haben sehr schwer zu kämpfen in ihren Geschichten. Gut, dass sie in meinem Buchschutzgebiet eine Heimat gefunden haben. Als BuchhändlerIn würde ich beide Bücher gemeinsam in gute Kundenhände abgeben. Jeder sollte einen Fuchsbau im Bücherregal haben.

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Fuchs 8 von George Saunders

Fuchs 8“ von George Saunders / Luchterhand Verlag / 50 Seiten / 26 Illustrationen von Chelsea Cardinal / aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert / 12 Euro

„Die geheimen Briefe“ – Jane Gardam [The Sidmouth Letters]

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Sie schrieb sich mit ihrer „Old-Filth-Trilogie“ in mein Leben. Sie hat mir Hongkong gezeigt, das Britische Empire von einer ganz anderen Seite gezeigt und mehrere Blicke hinter die Charakterkulissen ihrer Protagonisten geworfen. Jetzt bin ich leidenschaftlich in ihr Schreiben verliebt: JANE GARDAM. Ihre Romane bilden im Lesen, wie im Leben eine geschlossene Einheit und haben sich einen Herzensplatz in meinem Bücherregal erobert.

Nichts war untadelig, niemand war treu und die letzten Freunde waren nicht diejenigen, die man unbedingt auf der Rechnung hatte. Jane Gardam weiß zu überraschen und zu erzählen, wie man es sich als Freund großer Geschichten nur wünscht. Einzig ihr Alter gibt mir ein wenig zu denken. Mit ihren 88 Jahren gehört sie wirklich nicht mehr zu den jungen Hüpfern der Literaturszene und ich hatte schon leichte Bedenken, wie mein Weg an ihrer Seite weitergehen würde.

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Doch diesmal kam mir ein Zufall zu Hilfe und spielte mir eine limitierte literarische Blaue Mauritius in die Hände. Ihr wollt wissen was ein bibliophiles Unikat auszeichnet und woran man es erkennt? Ganz einfach. Das Buch ist in limitierter und nummerierter Auflage, begrenzt auf 5900 Exemplare, in der Edition 5Plus erschienen. Das macht es selten, aber nicht einzig. Mein Exemplar weist jedoch eine kleine Unregelmäßigkeit auf, die es für mich so wertvoll macht. In der Zeile „Ihr Exemplar hat die Nummer…“ fehlt die (eigentlich von Hand eingetragene) Zahl…! Ist das nicht wundervoll?

Dieser Zufall ereilte mich in Gestalt einer aufmerksamen Mitarbeiterin des Hanser Verlages, die meine Rezensionen zu Jane Gardams Büchern kannte und genau diese Lücke in meinem Lesen schließen wollte, die ohne ihre Hilfe wohl noch offen wäre. Ich danke an dieser Stelle mehr als herzlich, denn nicht nur der Unikatstatus, sondern auch der Inhalt der zweisprachig veröffentlichten Kurzgeschichte macht den wahren Wert der literarischen Aufmerksamkeit aus. Denn sie hat es faustdick hinter den Ohren!

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

In der Kürze liegt die Würze. Das kann man hier wohl sagen, da Jane Gardam auf 40 Seiten einen Erzählraum gestaltet, der die Literaturgeschichte aushebelt, Protagonisten in unser Leben spült, die wir schon seit langen Jahren zu kennen glauben und darüber hinaus auch noch als eine Hommage an die große Jane Austen zu verstehen ist. Geht das mit so wenigen Worten? Eindeutige Antwort: Ja, es geht, wenn man mit dem Raum zurechtkommt, den man sich selbst erdacht hat.

Und dabei fasst sich die Autorin zwar kurz, jedoch nicht zu kurz, wenn sie uns in ein Beziehungsgeflecht zweier in der Literatur beheimateter Menschen entführt, die zufällig auf die Spur handgeschriebener Briefe aus der Feder von Jane Austen kommen. Diese Briefe sind allerdings nicht irgendwelche Zeitzeugnisse aus dem Leben der legendären Schriftstellerin. Sie sind die einzigen Beweise für das Gerücht einer geheim gehaltenen Liebesbeziehung von Jane Austen zu einem Mann, dessen Identität sie niemals verriet.

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Und nun sind sie zum Greifen nah. Nur ein Schritt trennt den Literaturwissenschaftler Shorty Shenfold noch davon, diese „Geheimen Briefe“, die Sidmouth Letters, in seinen Besitz zu bringen und der ganzen Welt eine literarische Sensation zu offenbaren. Es ist das wohl letzte noch fehlende Puzzlesteinchen in der Biografie von Jane Austen. Wenn nur Jane Gardam nicht wäre, das Projekt wäre vielleicht glücklich verlaufen. Ihr gelingt es jedoch erneut, ihrem Protagonisten so viele Steinchen in den Weg zu legen, um ihm das Erreichen seines Traumes so unmöglich wie irgend möglich zu machen.

Sie platziert mit Annie einen weiblichen Stolperstein, den Shorty Shenfold nicht auf der Rechnung hatte. Jedenfalls nicht so, wie er dachte, als er Annie um ihre Hilfe bat.

Das war es jetzt noch lange nicht von Jane Gardam, denn ihre Geschichte geht für uns weiter. Wie gewöhnlich gut unterrichtete Kreise berichten, ist schon im Herbst 2017 mit der Veröffentlichung von Kurzgeschichten im Hanser Verlag zu rechnen. Ich drücke uns jedenfalls alle literarischen Daumen, dass den Absichten Fakten folgen und bleibe am Ball. Jedenfalls soll die Gardam-Übersetzerin Isabel Bogdan schon fleißig bei ihrer grandios zu lesenden Arbeit sein. (PS: „Der Pfau“ stammt aus ihrer Autorenfeder). Und wer es gar nicht abwarten kann, Hetty von Jane Gardam ist seit wenigen Wochen auf dem Markt.

Die geheimen Briefe von Jane Gardam - Edition 5 Plus

Die geheimen Briefe von Jane Gardam – Edition 5 Plus

„Die geheimen Briefe“ sind ein göttliches Lesevergnügen und wenn Ihr jetzt wissen wollt, auf welchem geheimen Wege man in den Besitz eines solchen Kleinods gelangen kann, dann habe ich hier ein paar gute Tipps zur Buchhandelskooperation 5Plus. Es haben sich folgende Buchhandlungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu einer verschworenen Einheit verbunden, um ein Gegengewicht zum sich verändernden Buchmarkt auf die Waagschale des reinen Onlinehandels zu legen. Die so publizierten Werke kann man nur in diesen Büchertempeln erwerben, sie sind nicht in den Online-Shops gelistet und verleiten tatsächlich zum Besuch der Kompetenzzentren des guten Lesens. Also macht Euch auf den Weg…

Ich habe mir jedoch sagen lassen, dass man sich auch über Anrufe und Mails freut und auch auf diese Art und Weise die Bücher der Edtion 5Plus den Besitzer wechseln. Hier findet ihr eine Übersicht der Werke, die inzwischen Kult- und Sammlerstatus haben und das kleine Wörtchen „vergriffen“ weist auf bereits ausverkaufte Editionswerke hin. Die Bücher werden übrigens vor Ort in den Buchhandlungen der Kooperation von Hand nummeriert, was ein Hinweis für mich ist, dass mein Exemplar das Licht der Bücherwelt noch gar nicht erblickt hat, als es mir zugespielt wurde. Ich sage ja: Blaue Mauritius.

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

Die geheimen Briefe von Jane Gardam

David Foster Wallace – Der Planet Trillaphon und die Üble Sache

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache - David Foster Wallace

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache – David Foster Wallace

Auch heute noch ist vieles Neuland für mich, wenn ich mich einem Buch nähere. Auch heute noch gibt es Gratwanderungen, die ich gangbar mache, um herauszufinden, wie weit ich mit mir selbst gehen kann. Über David Foster Wallace zu schreiben ist für mich eine Sache der puren Emotion und meine langjährigen Leser wissen, dass ich noch nie sonderlich sachlich über seine Bücher berichten konnte.

Ich wage mich einen Schritt weiter und habe für Literatur RADIO Bayern erstmals über eines seiner Bücher gesprochen. Ich lade euch dazu ein, die folgende Rezension zu lesen oder mir einfach zuzuhören und die Artikelbilder auf euch wirken zu lassen. Vielleicht könnt ihr dann hören was ich schreibend dann und wann verbergen kann. Ich kann mich nicht verstecken, wenn es um ihn geht…

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache - Mit einem Klick zur Audio-Rezension

Der Planet Trillaphon – Mit einem Klick zum Radio-Beitrag

„Ich nehme jetzt seit, mal überlegen, rund einem Jahr Antidepressiva, und ich würde mal sagen, da kann ich ganz gut einschätzen, wie die so sind. Sie sind eigentlich ganz okay.“

Eigentlich ganz okay, so die Worte eines Schriftstellers, der genau wusste worüber er schrieb als er diese Zeilen verfasste. Worte eines Mannes, die verharmlosend wirken, besonders vor dem tragischen Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte. Worte eines Autors, der sich 1984 in der absoluten Frühphase seines Schaffens befand. 22 Jahre seines Lebens hatte er mehr oder weniger unfallfrei hinter sich gebracht und 24 weitere, weniger unfallfreie Jahre, lagen noch vor ihm.

David Foster Wallace blieben nur 46 Jahre, seine literarische Kraft zu entfalten, einer der meistdiskutierten, -geliebten und auch -ignorierten Schriftsteller der USA zu werden, bevor er 2008 seinem Leben ein Ende setzte. Unvergessene Werke wie Unendlicher Spaß, „Der Besen im System“ und unzählige Kurzgeschichten und Reflexionen, wie Das hier ist Wasser – Eine Anstiftung zum Denken kennzeichnen seinen Weg als Autor, und sein posthum erschienenes Buch Der bleiche König hat die Buchwelt erneut in Aufruhr versetzt und ganz im Stile seines Verfassers polarisiert.

Und wenn David Foster Wallace schreibt, dass Antidepressiva ganz okay sind, dann wissen die Kenner seines Stils, dass auf eine solche abgeschwächte These sehr schnell die komplette Wendung folgt, die in ihrer Tragweite allein durch diesen Quantensprung an Bedeutung gewinnt. Schon mit seinen 22 Jahren beherrschte er dieses ganz eigene Auf und Ab, das sich in seinem kurzen Schaffen oft wiederholt. Dabei stammen diese Zeilen tatsächlich aus einer der ersten Kurzgeschichten, die er veröffentlichen konnte.

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache - David Foster Wallace

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache – David Foster Wallace

Sie sind ganz okay. Ja. Aus Sicht eines Menschen, der an tiefen Depressionen leidet und in Anbetracht von Alternativen, wie Elektroschock-Therapien, mag das so sein. Aber wie wenig okay diese Medikamente sind beschreibt David Foster Wallace in seiner Kurzgeschichte Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache aus dem Jahr 1984 noch auf der gleichen (allerersten) Seite:

„Sie sind eigentlich ganz okay, aber so, wie es okay wäre, auf einem anderen Planeten zu leben… Es wäre okay, aber es wäre natürlich nicht die gute alte Erde. Ich war jetzt fast ein Jahr nicht mehr auf der Erde, weil es mir auf der Erde nicht besonders gut ging.“

Ganz okay. Natürlich! Wenn man über Depressionen schreibt und selbst unter dieser Krankheit leidet, dann schlüpft man als Autor gerne in die Position eines Beobachters, der versuchen kann völlig neutral einen Blick auf und in einen Menschen zu werfen, der depressiv ist, als depressiv gilt und nach der Veröffentlichung einer solchen Geschichte auch noch autobiografisch an seiner Depression gemessen wird.

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache - David Foster Wallace

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache – David Foster Wallace

Dieses Schlüpfen hat David Foster Wallace gar nicht erst versucht. Wenn wir hier seinem namenlosen Protagonisten zuhören, dann hören wir zwangsläufig David selbst zu und verstehen diese Geschichte als Erklärungsversuch dessen, was man sich als depressiver Mensch besser nicht selbst erklären sollte.Wir betreten an seiner Seite den Planeten Trillaphon, der nur deshalb so heißt, weil der Name so ähnlich klingt, wie das Medikament Tofranil, das er regelmäßig nehmen muss, aber wesentlich besser zu den elektrischen Geräuschen passt, die ihn plagen.

Geräusche von einer Intensität, dass es unmöglich scheint, sie zu unterdrücken oder ihnen zu entkommen. Und der Name passt auch besser zu der Lebensweise auf dem Planeten, der zum Zufluchtsort wird und doch keine Flucht vor der wahren Welt erlaubt, die sich parallel entfaltet. Geräusche sind nicht die einzigen Symptome der Erkrankung, die David letztlich selbst besiegte. Sie sind nicht die einzigen Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt.

„Die Üble Sache“ ist komplexer und im Verhältnis zum Leben in der medikamentösen Welt auf einem anderen Planeten jeden Tag, jede Minute und in jeder Sekunde präsent. Die Üble Sache ist unkalkulierbar und gleicht einem Überfallkommando auf das eigene Denken. Das wahre Leben auf der Erde wirkt sich auch auf den Planeten Trillaphon als Brandbeschleuniger dieses psychischen Flächenbrandes aus. Familie, Gefühle, Schule, Akne und Liebe erscheinen völlig anders. Bedrohend. Zerstörend und ausweglos. Egal, wie okay die Medikamente sind.

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache - David Foster Wallace

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache – David Foster Wallace

Wir erkennen auf den schmalen 57 Seiten dieser Kurzgeschichte sehr viel, vor dem wir vielleicht manchmal die Augen verschließen, wenn wir an Menschen denken, die von Depressionen geplagt werden. Wir denken unbewusst an all die Robert Enkes dieser Welt, für deren Selbstmord verzweifelt nach Gründen und nach Anzeichen gesucht wird, wann man diese hätte verhindern können.

David Foster Wallace macht uns im absoluten und unverschnörkelten Klartext deutlich, dass der Selbstmord eines depressiven Menschen der letzte Schritt ist, der nur noch bedeutet, Ordnung zu schaffen. Der eigentliche Suizid liegt oft lange vor diesem finalen Schritt. Er beginnt, als der kleine Steppke zum ersten Mal bemerkt, dass nicht die Üble Sache sein Leben dominiert, sondern dass er selbst die Üble Sache zu sein scheint. Er beginnt dort, wo selbst das Leben auf dem Planeten Trillaphon unerträglich wird.

„Der kleine Steppke hier hat ein Problem.“ Diesen Satz wird man so schnell nicht vergessen, wenn man diese Geschichte gelesen hat. Ebenso wenig wie den Begriff, den David in seiner Originalfassung dafür wählte: „troubled little soldier“. Ein Steppke, der mit seinen Waffen ganz allein versucht einen verlorenen Kampf zu führen und dem fast nicht zu helfen ist, weil jede Hilfe wie eine zusätzliche Bedrohung wirkt. Ich war David Foster Wallace selten näher als in diesen Momenten meines Lesens. Er ist immer dieser kleine „troubled little soldier“ geblieben, der uns mit seinen Büchern beschenkt hat. Und doch…

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache - David Foster Wallace

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache – David Foster Wallace

Und doch sollte man nie vergessen, dass sie auf dem Planeten Trillaphon verfasst wurden. In einer Situation, die immer näher an den Moment seines „Ordnung-Machens“ heranrückte. Bücher mit denen er sich vielleicht befreien wollte, die aber selbst neue Symptome verursachten, die der Üblen Sache sehr zuträglich waren. Versagensangst, öffentlicher Druck und das lebenslange Gefühl, nicht alles gesagt zu haben. All dies gehört zu David.

Er schrieb nie klarer als in dieser Kurzgeschichte. Es gibt keinerlei Fußnoten, keine Abwege, keine umständlichen Metaphern, keine kryptischen Traumbilder. Es gibt diesen Steppke, der an seiner Akne verzweifelt, dessen erste Verliebtheit von der Üblen Sache gefressen wird und dem auch dann nicht mehr geholfen werden kann, als der „absolut lächerliche Vorfall“ ans Tageslicht kommt.

Eine Badewanne in die er zuvor „ungefähr dreitausend Elektrogeräte gezogen hatte“, sollte sein erster Aufschrei sein. Es war jedoch nicht der Versuch Ordnung zu schaffen. Aber es war die Startrampe zu einem Flug auf den Planeten Trillaphon. „Nun war ich praktisch die einzige Lichtquelle im Haus…“. Für mich hat David diesen Planeten nie verlassen. Für mich strahlt er noch heute lichthell. Für mich ist der Weg an seiner Seite nicht am Ende angelangt. Gebt ihm einfach eine Chance. Dieser zweisprachige kleine Band aus dem Hause Kiepenheuer und Witsch bringt euch ohne Umwege zu ihm.

David Foster Wallace und AstroLibrium

David Foster Wallace und AstroLibrium

PS: Wenn David über Liebe schreibt, dann bedient er sich vor dem Hintergrund dieser Geschichte gewaltiger Worte: „Dass ich dieses Mädchen namens May kennenlernte und Bekanntschaft mit ihm schloss, ist bis heute die lebhafteste Erinnerung an meine letzte gute Erfahrung auf der Erde.“

Ach, David…

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Folgende Artikel sind David Foster Wallace gewidmet:

Alles ist grün – KiWi
Am Beispiel des Hummers – KiWi
Das hier ist Wasser – Eine Anstiftung zum Denken – KiWi
Der bleiche König hält Hof in Deutschland – Eine Vorschau auf sein letztes Buch
Der bleiche König – Die Reise durch das Buch – KiWi
Ein erstes Gedicht – Wie alles begann – The Viking Poem
Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich– Goldmann
Signifying Rappers– KiWi
The Pale King – Eine Kolumne – Pulitzerpreis – Verweigerung 2012
Unendlicher Spaß – KiWi
Unendliches Spiel – Eine besondere Hörspielaktion zum unendlichen Spaß
Der große rote Sohn – Kiwi

Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte – David Foster Wallace – Ein Leben von Daniel T. Max – KiWi (Eine Biografie)

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Landezone der Artikelspringer im Advent 2015

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