Ich denke, ich muss wirklich niemandem erklären, zu welchem Kunstwerk ich eine tiefe emotionale Bindung aufgebaut habe. Kenner der kleinen literarischen Sternwarte wissen, welche Kunstgalerie in München ich als Kraftraum meines Geistes bezeichne und ein paar wertvolle Menschen durften mich schon zu einem Gemälde begleiten, das für mich viel mehr ist, als nur ein Bild. Ich habe Biografien des Schöpfers dieses Werks gelesen, wurde von lieben Menschen mit Büchern beschenkt, die mir den Hintergrund seines Schaffens näherbrachten und nicht zuletzt meine Tochter begleitete mich in die Städtische Galerie im Lenbachhaus, durchquerte mit mir das lichtdurchflutete Foyer und stattete einem besonderen Pferd einen emotionalen Besuch ab. Das Blaue Pferd von Franz Marc war und ist für mich der magische Anziehungspunkt meines Lebens.
Ich schrieb sehr viel über diesen Fluchtpunkt, seine Bedeutung und die Bücher, die mir im Lauf der Zeit über den Lebensweg gelaufen sind. Von Else Lasker-Schüler bis hin zu Florian Illies, von einem Skizzenbuch aus dem Felde bis zu einem Maler, der in den Krieg zog. Facettenreich verliefen meine Annäherungen an dieses Gemälde im Zusammenhang mit seiner Entstehungsgeschichte und vor dem Hintergrund der tiefen Bedeutung des Blauen Pferdes für mich selbst. Man darf hier gerne von einer sakralen Beziehung zu einem Kunstwerk sprechen. Mein Pferd. Nur für mich gemalt. Das ist ein Gefühl, dem ich mich oft hingebe, wenn ich in stiller Ehrfurcht vor ihm verharre. Nur im Lesen bin ich vorsichtiger, nähere mich selten in Romanen und bevorzuge schon eher stilsichere Sachbücher. Ich brauche keine Fantasie, wenn es um Franz Marc geht. Ich laufe über, wenn ich mich in sein Schaffen fallen lasse.
Und doch wurde ich mehr als hellhörig, als ich auf den den Roman „Der Turm der blauen Pferde“ von Bernhard Jaumann aufmerksam gemacht wurde. Es ist wie ein Tunnelblick auf das gute Lesen, wenn sich mein Gesichtsfeld verengt, und ich schon im Klappentext und der Inhaltsbeschreibung nach Spuren einer intelligenten Verarbeitung kunstgeschichtlicher Fakten und gut durchdachten fiktionalen Settings suche. Ich muss gestehen, dass ich gerade in diesem Sujet extrem anspruchsvoll bin. Ich fühle vielleicht zu intensiv, ich weiß vielleicht zu viel und ich erwarte mehr, als es mit zusteht. Und hier kommt nur ein Kunstkrimi ins Spiel. Der erste Fall und der Auftakt einer ganzen Reihe. Geschrieben von einem Schriftsteller, der sich bereits einen guten Namen gemacht hat. Bernhard Jaumann, Friedrich-Glauser- und Deutscher Krimipreisträger. Klingt gut. Zu gut? Ich musste es herausfinden.
„Der Turm der blauen Pferde“. Welches Bild von Franz Marc wäre geeigneter für eine kriminalistisch fundierte Story, als dieses? Keins. Die Ausgangssituation dieses Buches ist durch die Geschichte des Bildes vorgegeben. Zwei Jahre nach dem Blauen Pferd in Sindelsdorf von Franz Marc im Jahr 1913 gemalt. Nach seinem Tod vor Verdun im Jahr 1916 im Besitz seiner Witwe Maria. 1919 an die Nationalgalerie Berlin verkauft und dort ausgestellt. Klingt eigentlich nach dem normalen Weg eines Gemäldes. Bis hierhin. Bis es 1937 von den Nationalsozialisten als „entartet“ deklariert wurde. Blaue Reiter waren der braunen Kunst zu expressionistisch. Der Turm der blauen Pferde wurde danach in der Ausstellung „Entartete Kunst“ als abschreckendes Beispiel ausgestellt. Jedoch nur kurz. Auf Intervention seiner Kameraden aus dem Ersten Weltkrieg wurde das Bild aus der Ausstellung entfernt. Diese Verunglimpfung sollte ihm erspart bleiben.
Was dann mit dem großformatigen Bild geschah? Man riss es sich unter den Nagel. Wer? Na, immerhin der zweite Mann im Staat. Hermann Göring, der offensichtlich sehr gut wusste, welche Gemälde (ob entartet oder nicht) sich später einmal bestens an den Mann bringen ließen. Der Rest der Geschichte ist bekannt. 1945 verendete die braune Ideologie und mit ihr ging verloren, was ihre Gralshüter angehäuft hatten. Der Turm der blauen Pferde ist seit 1945 spurlos verschwunden. An Legenden und Spekulationen ist nicht gespart worden. Aufgetaucht ist das Gemälde bis heute nicht. Das sind die Fakten und daran ist nicht zu rütteln. Bernhard Jaumann rüttelt nicht. Er holt seine Leser an der Stelle ab, an der das Bild verschwand. Hier beginnt seine fiktionale Geschichte, die auf solideren Füßen nicht stehen könnte.
Zeitsprünge aus den letzten Kriegstagen im Chaos eines untergehenden Reiches bis in unsere Zeit kennzeichnen die Struktur seines Kriminalromans. Dabei erfindet er eine plausible Schar an Protagonisten, die aus der Zeit in unser Lesen gefallen sind. Er spinnt einen unsichtbaren Faden weiter, erzählt eine Familiengeschichte, die sich wohl so zugetragen haben könnte, wenn… Ja, wenn der Turm der blauen Pferde doch nicht ganz von der Bildfläche verschwunden wäre. Jetzt ist es wieder da. 2018. Farbenfroh und unversehrt. Als wäre es niemals fort gewesen, gelangt es jetzt in den Besitz eines Kunsthändlers, der es für vergleichsweise spottbillige drei Millionen Euro erstanden hat. Eine absolute Legende kehrt zurück. Ein Beben in der Kunstszene ist vorprogrammiert. Es ist die Sensation auf dem Kunstmarkt. Wenn es echt ist. Und genau hier kommt die Kunstdetektei von Schleewitz ins Spiel.
Und was für ein Spiel. Mit Rupert von Schleewitz, Klara Ivanovic und Max Müller lässt Bernhard Jaumann ein grandios eingespieltes und pfiffiges Team auf die Kunstszene in München los. Ihr Job? Keinesfalls die Echtheit des Kunstwerks beweisen. Dafür gibt es ja Institute und renommierte Kunsthistoriker. Nein. Es geht vielmehr um die Provenienz des Bildes. Die Herkunftsgeschichte, die bis zum Jahr 1945 lückenlos nachweisbar ist. Die Detektei wird vom neuen Besitzer des Gemäldes auf die Erforschung des Verbleibs der blauen Pferde nach 1945 angesetzt. Und wenn dieser lückenlos geklärt werden und bis zum jetzt aufgetauchten Bild zurückverfolgt werden kann, dann ist es zweifelsohne das Original. Mit Rupert, Klara und Max tauchen wir in eine unglaublich spannende und frisch erzählte Geschichte ein, die nicht nur Kunstfreunde begeistern wird. Hier ist nicht Kunsttheorie der Schwerpunkt der Betrachtung, hier geht es um die Menschen, die den Pferden seit 1945 begegnet sein können. Es geht um die Motive, das Bild zu verbergen und natürlich um den wahren Grund, der jetzt zum Verkauf führte.
Weder antiquiert, wissenschaftlich oder theoretisch gehen die Detektive vor. Sie haben ihre eigenen Methoden, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Egal wie schwer der Nachweis der Provenienz ist, sie finden Mittel und Wege, den Kreis der verdächtig erscheinenden Folgebesitzer des Gemäldes immer mehr einzugrenzen. Lokalkolorit im besten Sinne zeichnet ein ganz eigenes Bild der Menschen in dem Landstrich, in dem sich die Spur des Gemäldes verlor. Das Berchtesgadener Land färbt auf den Turm der blauen Pferde ab. Hier entwickelt sich ein grandioses Puzzlespiel, in dem die Teilchen langsam zueinander finden, jedoch nie ganz richtig ineinanderpassen. Erfrischend und spannend erzählt, durchdacht und intelligent konstruiert und voller Liebe zum Detail zu Papier gebracht. Kunstgeschichte kann nicht nur spannend sein. Sie ist es. Beutekunst ist ein relevantes Thema und derart modern und expressionistisch verpackt, findet man neben dem perfekten Zugang zum Buch auch einen Zugang zur Kunst von Franz Marc.
Das wesentliche Verdienst von Bernhard Jaumann liegt jedoch für mich in einem anderen Aspekt seines Romans. Er holt mich als beseelten Marc-Jünger ab und lässt mich zum Teil eines Bildes werden, das ich bisher nur auf Postkarten betrachten durfte. Die Liebe zur Kunst schwingt in jeder Sequenz dieser Geschichte durch und hinterlässt tiefe Spuren beim Leser. Hier geht es nicht nur um Werte, Summen oder Beute. Hier ist die Kunst, ihre Wirkung und jene Faszination, die sie auslöst, der wahre Kern eines in sich geschlossenen Romans. Jaumann schreibt mir aus der Seele, dass es möglich ist, dass ein Bild von seinem Betrachter Besitz ergreift. Er lässt Raum für Leidenschaft und Liebe zu einem Gemälde. Er formuliert meine Sehnsüchte, die besagen:
„… dass jedes Bild, das etwas wert war, nur für einen einzigen Menschen gemalt worden sein könnte. Was für alle taugt, taugte für niemanden.“
Hier finde ich mich wieder. Jeden Schaffensprozess, jedes Betrachten und Staunen hat Bernhard Jaumann zu einem höchst individuellen Erleben erhoben. Liebhaber von Stilrichtungen und Kunstformen unterschiedlichster Art hebt er über eine Interpretation der einzelnen Bilder heraus. Er macht Kunst ohne schlechtes Gewissen genießbar und verleitet dazu, nicht nur Ausstellungen zu besuchen, sondern selbst zu malen. Darüber hinaus gibt er uns einen Ratschlag mit auf den Weg, wenn wir wirklich von Angesicht zu Angesicht einem Meisterwerk gegenüberstehen:
„… Ein Bild merkt, wenn es wirklich betrachtet wird. Nur dann zeigt es, was es zu zeigen hat. Nur dann beginnt es zu sprechen.“
Das wird nicht mein letzter Fall der Kunstdetektei von Schleewitz bleiben. Sicher nicht. Bitte mehr davon.
Weitere Artikel zu Franz Marc, dem Blauen Pferd, dem magischen Jahr 1913 und dem Kraftraum meines Geistes finden Sie hier:
1914 – Ein Maler zieht in den Krieg [Der Blaue Reiter vor Verdun]
Das Blaue Pferd von Franz Marc – Ein Besuch
Klee & Kandinsky – Nachbarn, Freunde, Konkurrenten
Else Lasker-Schüler und Franz Marc – Eine Brieffreundschaft
„Franz Marc – Skizzenbuch aus dem Felde“ – Eine Suche
Else Lasker-Schüler – In Memoriam
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts„ von Florian Illies
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ geht weiter
„1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ – Florian Illies
„Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ [Neil MacGregor]