Flüchtige Seelen von Madeleine Thien

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien - Luchterhand

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien – Luchterhand

Zeit, wieder einmal so richtig zu verreisen. Buchig, versteht sich. Und wenn sich ein aktueller Roman aus dem Luchterhand Literaturverlag als Reiseleiter ins Leben schleicht, dann kann ich meist nicht widerstehen, packe meine Lesetasche und checke ein. Kanada – das hört sich verlockend an und einen Abstecher nach Südostasien verspricht der Klappentext auch noch. Also Freizeitkleidung einpacken, kurze Bücherhosen in den Koffer und mit dem Lesen der ersten Zeilen bin ich eingecheckt.

Flüchtige Seelen“ von Madeleine Thien begrüßt mich mit zwei Sätzen, die bereits die Frage aufkommen lassen, ob ich wirklich alles eingepackt habe, was ich auf dieser interkontinentalen Reise in, zwischen und durch die Zeit so alles dringend benötigen würde. Aber ich startete meine Lesereise hoffnungsvoll im weichen und ganz eigenen Sprachstil einer Autorin, deren Lebenswurzeln von Vancouver über Malaysia bis nach China reichen.

„Am 29. November 2005 verließ mein Freund Dr. Hiroji Matsui um 19.29 Uhr das Hirnforschungszentrum Montreal. Seine Miene auf der Videoaufzeichnung verrät nichts.“

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien - Seelenqualen

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien – Seelenqualen

Drei Monate liegen diese Aufzeichnungen zurück und ich erfahre schnell, dass sie von Janie stammen. Die Neurowissenschaftlerin und Kollegin von Dr. Matsoui lässt seit seinem Verschwinden nichts unversucht, seine Spur ausfindig zu machen. Sie scheint einen Verdacht zu haben, wohin er so plötzlich verschwunden sein könnte, und doch sucht sie in seinem Büro und in seinen Dokumenten unablässig nach einem Beleg für ihre Vermutung. Sie spürt, dass er auf der Suche nach dem größten Verlust seines Lebens ist.

Sie allein weiß am besten, was es bedeutet, etwas zu verlieren, sie kennt die unfassbare Dynamik, die das Leben bestimmen kann, wenn man die „Verlierende“ und nicht die Verlorene ist. So, wie sie jetzt durch ihre unermüdlichen Nachforschungen ihre kleine Familie zu verlieren droht, so hat sie bereits alles verloren, was man als Mensch nur verlieren kann. 1975 in Kambodscha. Jenem Land, aus dem sie nach Kanada flüchtete. Jenem Land, das ihr alles nahm. Jenem Land, das ihr Eltern, Bruder und die eigene Identität raubte. Jenem Land der Roten Khmer – damals vor 30 Jahren. Jenes Land, das sie mit Dr. Matsui verbindet.

Zwei Menschen im modernen Kanada des Jahres 2005 verbunden durch die akribische Erforschung des menschlichen Hirns und getrieben von einer Vergangenheit, die in Südostasien mehr als das Delta einer Gemeinsamkeit verbirgt. Zwei Menschen, die erkennen mussten, wieviel Raum sich vermisste Angehörige in ihren jetzigen Leben verschaffen. Zwei Menschen, die daran zu scheitern drohen, dass die nicht bewältigte Vergangenheit in ihnen weiterlebt. Zwei Menschen, denen das Terrorregime der Roten Khmer in Kambodscha lebenslängliche Fesseln angelegt hat.

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien - Rote Khmer

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien – Rote Khmer

An diesem Punkt öffnet Madeleine Thien ein schwarzes Loch für ihre Leser und lässt in dosierten, aber inhaltlich gewaltigen Zeitsprüngen das Phnom Penh des Jahres 1975 lebendig werden. So lebendig, dass man es nicht mehr vergessen kann und manchmal froh wäre, es nicht gelesen zu haben. So unvorstellbar ist, was geschah und zu schlimm sind die Auswirkungen bis in die heutige Zeit. 1975 – das Jahr in dem Janie noch Mei hieß und James, der Bruder von Dr. Hiroji Matsui als Rotkreuzhelfer versuchte das Leid der Bevölkerung zu lindern. Es ist das Jahr, in dem die Roten Khmer Phnom Penh erobern und die Welt verändern.

Agrarkommunismus – so lautete die fatale dogmatische Doktrin der ideologischen Kämpfer – Gleichschaltung der gesamten Bevölkerung war das Mittel. Wie man dies erreichte? Es gibt nur einen Begriff, der dafür verwendet werden kann: „Autogenozid“. Die massenhafte Auslöschung des eigenen Volkes, um den Rest unter Kontrolle zu haben. In kurzer Zeit wurde die Hauptstadt des Landes entvölkert und die Bewohner entweder zur Zwangsarbeit auf den Reisfeldern („Killing Fields“) deportiert, ermordet oder inhaftiert.

Intellektuelle, Lehrer, Künstler, Wissenschaftler und Gelehrte wurden sofort liquidiert. Familien wurden brutal voneinander getrennt, Kleinkinder wurden wahllos hingemetzelt und die Gewalt kannte keine Grenzen. Gemordet wurde mit Dachlatten und Knüppeln, weil man keine Mittel für moderne Varianten des Genozids hatte. Der Hunger tat sein übriges. Schwarz wurde zur Einheitskleidung, Bildung und Schreiben waren verboten und grundlos konnte man als Opfer von Denunzianten von einer auf die andere Sekunde erlöschen.

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien - Autogenozid

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien – Autogenozid

Von sieben Millionen Kambodschanern wurden nach vorsichtigen Schätzungen zwei Millionen Männer, Frauen und Kinder ermordet. die Überlebenden hatten nach der Befreiung von dieser Terrorherrschaft nicht nur Tote zu beklagen. Es gab kaum Familien. Namenlos und der Identität beraubt, war nicht mehr zusammenzuführen, was zusammengehörte. Bindungen waren für immer getrennt. Kinder hatten keine Chance mehr, ihre Eltern zu finden, auch wenn sie am Leben waren.

In dieser Umgebung erlitt Janie ihre Verluste, als sie noch Mei genannt wurde. Und genau zu dieser Zeit verschwand der Bruder ihres Kollegen, weil er einfach nur helfen wollte. Verluste, die zwei Leben verändern sollten. Verluste, die sich auf die Psyche legen, wie dunkle vorwurfsvolle Schatten der Vergangenheit. Die Ungewissheit über das wahre Schicksal der flüchtigen Seelen ist wohl die schlimmste Erfahrung, die man hierbei machen kann.

Janie und Dr. Matsui lebten zu lange in der Vergangenheit und schließlich folgt sie ihrem Kollegen auf dessen Reise in das Land, in dem beide Antworten zu finden hoffen. Kambodscha – das Land, das sie als kleines Mädchen namens Mei verlassen hatte – völlig alleine. Gerüchte treiben sie an. Könnten die Vermissten noch leben? Kann man ihre Geschichte erforschen? Kann man endlich abschließen mit dem nicht bewältigten Verlust? Eine beseelte Seelenreise zweier Seelenverwandter auf der Suche nach den flüchtigen Seelen.

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien - Eine Suche

Flüchtige Seelen von Madeleine Thien – Eine Suche

Madeleine Thien öffnet ein sprach- und bildgewaltiges Fenster zu einem Land, dessen Geschichte bis heute von der damaligen Herrschaft der Roten Khmer belastet ist. Es gibt kaum alte Menschen in Kambodscha, Familienalben sind unbekannt und die Nachforschungen gehen auf Grundlage der akribischen Vernehmungsprotokolle der Khmer endlos weiter. Menschen ohne Identität und Bindung, viele davon Täter und Kindersoldaten von einst, viele von ihnen gepeinigte Opfer ohne Wurzeln und Erbe versuchen ein Land aufzubauen, über dem der Schatten des größten Autogenozids aller Zeiten liegt.

Eine willkürliche Auslöschung der eigenen Bevölkerung als Machtmittel. 40 Jahre nachdem in Deutschland Konzentrationslager befreit wurden und die Wahrheit über die Shoa ans Tageslicht der Weltöffentlichkeit kam. Wieder einmal hatte es der menschliche Geist vermocht, den Schrecken eines grausamen Regimes erneut zu übertreffen und um die Dimension des „Nichtbewältigens“ zu erweitern.

Madeleine Thien gelingt es in harten und weichen Passagen uns für die Reise von zwei Menschen zu interessieren, deren Geschichten wir vielleicht sonst niemals erfahren hätten. Sie ermöglicht den Blick hinter den Spiegel des Einzelnen und lässt uns zu hoffnungsvollen Wutlesern dieses Romans werden. Ich denke am Ende des Buches an alle heutigen Flüchtlinge, sehe Lampedusa vor mir und stelle mir die Frage, ob man auch diesmal erst in 40 Jahren über die einzelnen Schicksale lesen wird. Ein wichtiges Buch – zeitlos in seiner Aussage und der grenzenlosen Botschaft.

Lesenswert – Prädikat „Erschütternd“.

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