Er ist sicher einer der leisesten Autoren unseres Landes. Ein Mensch, der es nicht unbedingt liebt, im Mittelpunkt des medialen Interesses zu stehen. Ein Schriftsteller, der sich scheut, Bäder in den Menschenmassen zu nehmen und einer, der sich nicht gerne durch die Bücherwelt herumreichen lässt. Gerade das zeichnet ihn aus, weil er nur sein Schreiben in den Vordergrund stellt. Und genau das entspricht ihm. Es ist feinfühlig und empathisch. Es ist ein Schreiben der leisen Töne, die er jedoch so komponiert, dass es in Kompositionen mündet, die in ihrer Bildhaftigkeit unverwechselbar sind. Die Rede ist von Hanns-Josef Ortheil. Er zieht sich oft an Schauplätze seiner Romane zurück, lebt in der Atmosphäre der zu erzählenden Geschichte und lässt sich intuitiv vom Schreiben überraschen. Das Ergebnis ist für ihn selbst und seine Leser ein kleines Wunder.
So auch diesmal. „Der von den Löwen träumte“ ist das wohl ungewöhnlichste Buch aus seiner Feder, weil der feinfühlige und bescheidene Schriftsteller sich hier mit einem Kollegen auseinandersetzt, der genau dem Gegenteil dessen entspricht, wie Ortheil im literarischen Kosmos wahrgenommen wird. Es geht um einen wahren Egozentriker, der literarisch absolut unübersehbar ist. Einen Schriftsteller, der sich beharrlich selbst in die gefährlichsten Krisenherde versetzte, um an diesen Extremsituationen zu wachsen. Ein Mann, der den Krieg suchte, sich in Stierkampfarenen stürzte und seine Ehefrauen mit zahlreichen Affären um den Verstand brachte, um in neue literarische Höhen vorstoßen zu können. Ernest Hemingway.
Hanns-Josef Ortheil schreibt über Ernest Hemingway. Leisetreter trifft Lautsprecher könnte man schablonenhaft sagen. Für Ortheil jedoch lag wohl gerade hier der Reiz, in diesem Aufeinanderprallen so unterschiedlicher Charaktere eine Gemeinsamkeit in den Vordergrund zu stellen. Das Schreiben. Die Literatur. Die Gabe, Menschen mit Worten begeistern zu können. Dabei lohnt der Blick hinter die Kulissen, wenn der Vorhang zur Bühne noch geschlossen ist. Ein kleiner Blick, der doch aufschlussreich sein kann. So zog sich Hanns-Josef Ortheil auf eine Insel zurück. Torcello in der Laguna Morta, der nördliche Teil der Lagune von Venedig wurde zum Refugium seines Schreibens. Dort hatte Hemingway 1948 / 1949 in einer kleinen Pension zwei Zimmer gemietet, um sich und sein Schreiben wiederzufinden.
Was für ein perfektes Ambiente für einen Roman über jenen Mann, „Der von den Löwen träumte“. Die Zimmer sehen noch heute so aus, als würde Hemingway gleich zurückkehren. Sie verströmen einen Hauch seiner Präsenz. Genau hier schrieb Hanns-Josel Ortheil sein Buch über den Venedig-Aufenthalt Ernest Hemingways. Eine Phase, in der er sein Schreiben verloren hatte. Schreibblockade. Unsicherheit, worüber noch zu schreiben sein könnte, und wie es ihm wieder gelingen könnte. Nach zwei Kriegen, die er an vorderster Front erlebte, schien es nun an Extremsituationen zu mangeln. Er war in Begleitung seiner vierten Ehefrau Mary Welsh Hemingway und auch hier hatte der gute Ernest wohl sein Pulver verschossen, durch weitere Eskapaden für Eifersucht zu sorgen. Stillstand.
Hier. Genau hier lässt sich Hanns-Josef Ortheil fallen. In der Abgeschiedenheit der kleinen Insel, im authentischen Ambiente des ehemaligen Biotops seines Protagonisten und mit freiem Blick auf die Lagune. Hier entsteht ein Buch, das Hemingway von vielen Seiten zeigt, die sich mir so noch nicht erschlossen haben. Wie eine Urgewalt bricht er mit kleiner Entourage über Venedig her. Äußerlich ungebrochen, weltmännisch und der ganz große prominente Autor. Innerlich verzweifelt auf der Suche nach Inspiration und dem Funken, der alles wieder in Gang setzen würde. Seine Ankunft spricht sich rum. In aller Munde ist die Kunde vom Weltstar in der Lagunenstadt. Schnell umgibt er sich mit Menschen, die ihm behilflich sein sollen. Ein kleiner lokaler Journalist und dessen Sohn Paolo öffnen ihm die Tore zu den kleinen und großen Geschichten von Venedig.
Ortheil beschreibt die widersprüchlichen Facetten eines Charakters, der einerseits nach Aufmerksamkeit heischt und andererseits auf der Suche nach Anonymität ist. Ein Widerstreit, der niemals spurlos an Hemingway vorüberging. Ortheil gelingt mit seinem Roman nicht nur, das gesamte Werk Hemingways im Kontext mit Venedig einzuordnen. Er schließt Lücken in der Darstellung eines Schriftstellers, der in seiner Außenwirkung extrem polarisierte. Venedig ist das Niemandsland zwischen den Schaffensphasen des Genies. Ein Territorium nach erstem Weltruhm, nach drei gescheiterten Ehen und noch deutlich vor der Verleihung des Literaturnobelpreises. Hier erleben wir Hemingway pur und greifbarer, als in so mancher Biografie.
Hanns-Josef Ortheil erweist sich als großer Verführer. Diese Hommage an Ernest Hemingway verleitet dazu, in den Kanon seiner Bücher einzutauchen. Und Ortheil gibt den Weg vor, den man beschreiten kann, um sich die Meta-Ebene seines Romans zu erschließen. Warum kam Hemingway nach Venedig? Man lese einfach seinen Roman über den Ersten Weltkrieg „In einem anderen Land“. Welches Buch entstand während seines Aufenthaltes am Ende der 1940er Jahre? Man lese den Venedig-Roman „Über den Fluss und in die Wälder“. Was ihn zum wahren Meisterwerk „Der alte Mann und das Meer“ inspirierte, erfährt man jedoch besser als in jeder Biografie von Hanns-Josef Ortheil im Roman „Der von den Löwen träumte“.
Ein Roman, der eine Zeit beschreibt, in der die Lebensgeister Hemingways neuen Aufschwung erhielten. Gespräche mit einem jungen Fischer, die eine Idee reifen und Gestalt annehmen ließen, die Hemingway zur Legende machte. Eine platonische oder eben gar nicht platonische Affäre mit der blutjungen Venezianerin Adriana Ivancic, mit der er literarisch „Über den Fluss und in die Wälder“ zog. Sie ist seine „Renata“. Eine Affäre, die seine Ehe belastete und die Weltpresse in Atem hielt. Und dann sind es die leisen Momente auf der Suche nach dem eigenen Schreiben, die Hemingway inmitten der größten Schreibblockade seines Lebens so nahbar machen. Ortheil gelingt eine im großen Ganzen und im Detail extrem atmosphärische Charakterstudie, die zugleich die Liebeserklärung Hemingways an die Lagunenstadt widerspiegelt.
Ich habe mir oft vorgestellt, wie es wohl wäre, beide Schriftsteller an einem Tisch in Harry`s Bar erleben zu können. Ich denke, sie hätten sich viel zu erzählen. Wobei doch die Gefahr bestünde, dass Hemingway in einem seiner endlosen Monologe über sich und die Welt dozieren würde, während Hanns-Josef Ortheil still und leise genießen und beobachten würde. Und wahrscheinlich würde Hemingway den guten Ortheil unter den Tisch trinken. Aber das ist nur eine Vermutung. Lesenswert. Nicht nur für Fans von Ernest Hemingway, sondern eben auch für diejenigen, die der feinen Feder Ortheils treu ergeben sind.
Mehr zu Ernest Hemingway findet man hier. Die kleine literarische Sternwarte ist ein Ort, an dem sich sein Schreiben vielfältig verankert hat.