„Auf immer verbunden“ von Domenico Starnone

Auf immer verbunden von Domenico Starnone

Also, das ist schon harter Tobak, den ich mir hier auf den ersten Seiten anhören muss. Mir nichts, dir nichts bin ich gut gelaunt in den Roman „Auf immer verbunden“ gestolpert und fange mir schon zu Beginn die Breitseite einer gesalzenen Standpauke einer verlassenen Ehefrau ein, bevor ich auch nur behutsam umblättern kann. Ich kann gar nicht so schnell lesen, wie ich alle stereotypen Beschimpfungen und Vorwürfe aus dem Munde der betrogenen Ehefrau und Mutter Vanda um die Lese-Ohren bekomme. Der arme Aldo ist gottlob nicht in Reichweite. Auf den gepfefferten „Ich-bin-die-ärmste- Sau-der-Welt-Briefmonolog“ seiner Noch-Ehefrau kann er sich allerdings freuen.

Dabei ist es echt nicht so abwegig, was er da angestellt hat. Besonders, wenn man sich den Tonfall Vandas mal auf der Zunge zergehen lässt. Verlassen, abgelegt und ins Abseits gestellt von einer blutjungen Konkurrentin – so kommt sie sich vor. Am Ende, in Armut versunken, alleine verantwortlich für die gemeinsamen und inzwischen erheblich traumatisierten Trennungskinder Sandro und Anna, während es sich der „feine Herr“ in den Armen einer 19-Jährigen gutgehen lässt. Hier weht Männern ein scharfer Wind um die Ohren, sind doch Vandas Ehevorwürfe so einseitig, dass man nur noch schnell den Kopf einziehen und sich rennend in Sicherheit bringen kann. Dabei sollte man doch die beiden Seiten der Medaille betrachten. Niemals ist es die Schuld eines Partners, wenn sich der gemeinsame Weg an einer dramatischen Kreuzung zu teilen beginnt

Auf immer verbunden von Domenico Starnone – Überspitzte Einleitung

“Auf immer verbunden“ von Domenico Starnone (DVA) provoziert auf den ersten Seiten, um in der Folge die gescheiterte Beziehung der beiden Protagonisten auf dem literarischen Seziertisch in ihre Bestandteile zu zerlegen. Schonungslos und neutral. In diesem Sinne gilt es Ruhe zu bewahren, diese erste Standpauke zu ertragen und dann mit Weitblick und vorurteilsfrei zu erlesen, was, warum und wie geschah. Es dauert nie lange, bis sich der erste Eindruck relativiert. Wirklich nie… Die Abwesenheit von Glück hat viele Ursachen. Entfremdung trägt viele Namen und der Beziehungskiller Alltag hat schon mehr Ehen in den Abgrund driften lassen, als man es sich vorstellen kann. Sucht man nach Schuldigen und dreht man jeden Stein der gemeinsamen Zeit um, dann wird man schon sehen, dass nie einer allein für die Ruine einer Beziehung verantwortlich ist.

„Falls du´s vergessen haben solltest, mein Lieber, muss ich dich eben mal daran erinnern: Ich bin deine Frau. Ich weiß, du warst mal froh darüber, aber jetzt stört es dich plötzlich…“

So kommt man nicht weiter. Das weiß auch Domenico Starnone. Und so bleibt der Roman „Auf immer verbunden“ nicht in der Selbstmitleids-Arie einer verlassenen Frau gefangen, sondern befreit sich mit einer ungeheuren Dynamik in eine Richtung, die mir den Glauben an dieses Buch nach einigen verstörenden Seiten schnell wiedergegeben hat.

Auf immer verbunden von Domenico Starnone – Am Ende eines langen Weges

Hier wird aus dem Ende einer Ehe der Beginn einer neuen Zeit. Hier wird aus dem Davor die Basis für das Danach. Richterlich geregelt, auf ewig getrennt, seiner Kinder durch das alleinige Sorgerecht der Mutter entsorgt, wider- und einspruchslos. Aldo ist Geschichte. Als Ehemann und Vater. Endgültig. Schmutzig. Rosenkrieg. Suizidversuch der Ehefrau. So kann eine Geschichte beginnen. Hier erlangt der Buchtitel „Auf immer verbunden“ eine fast schon bodenlose Skurrilität, die wie ein Reset-Knopf diese Liebe auf Anfang stellt und dann lauthals Überraschung ruft! Man muss nur ein wenig Zeit ins Land einer guten Geschichte gehen lassen.

„Du schreibst, dass du das Bedürfnis hast, wieder Kontakt zu deinen Kindern aufzunehmen. Sagst, dass es nach nunmehr vier Jahren möglich sein müsse das Problem konstruktiv anzugehen… Sie haben beschlossen, dich zu treffen. Sie leiden unter Unsicherheit und Angst. Mach es für sie nicht noch schlimmer.“

Starnone spielt mit der Vorverurteilung der ersten Seiten. Er bezweckt das genaue Gegenteil und lässt uns stutzig werden. Als wir Aldo dann zum ersten Mal sehen, bleibt vom Zweifel wenig. Ich möchte mir selbst ein Urteil bilden, seine Sicht der Dinge sehen und seinen Teil der Geschichte hören. Nicht nur die Geschichte einer Ehe, sondern die Geschichte von Lidia, die ihn in ein neues Leben katapultiert hatte. Was war passiert?

Auf immer verbunden von Domenico Starnone – Perspektivspiele

„Auf immer verbunden“ ist ein Sehnsuchtsroman allererster Güte. Unausweichlich schleicht sich Distanz durch Routine in unser Leben. Unausweichlich ist es die Eitelkeit, die uns für Verführungen empfänglich macht. Unausweichlich steht man dann vor dem Scherbenhaufen eines gemeinsamen Versprechens. Wie tief die Verbindungen reichen erweist sich, nachdem man in die falsche Richtung abgebogen ist. Eine Flucht ist dabei nie nur demjenigen anzulasten, der ausbrechen will. Schuld ist etwas, das uns ewig mit dem Menschen verbindet, den wir treu begleiten wollten. Ob das neue Leben geeignet ist, das Versprechen von Freiheit, Liebe und Neustart ohne Routine einzulösen, ist eher fraglich. Wer jedoch am Ende eines solchen Weges unbeschadet bleibt, ist lesenswert.

Die Verlassene? Der Ausbrechende? Die Verführende? Der Rückkehrer? Ist es die Flucht von einer Lebenslüge in die nächste und zurück oder steckt mehr dahinter, wenn es Aldo wieder in die Arme seiner Familie treibt? Bekommt der Begriff Entscheidung in diesem Roman eine völlig neue Bedeutung im Sinne der Umkehr einer Trennung? Wird die Verlassene jemals vergeben können? Domenico Starnone berührt uns nachhaltig in und zwischen den Zeilen seines Romans. Keine der aufgeworfenen Verwerfungen lässt uns kalt. Keine Frage wird umschifft und keine Antwort verweigert. Und doch gelingt es auch diesem Roman nicht, uns gegen Versuchungen zu immunisieren. Zielstrebig geht es in Richtung Untergang, wenn Unzufriedenheit und Eitelkeit sich ihren Weg bahnen.

Auf immer verbunden von Domenico Starnone – Endgültig getrennt?

Vielleicht ist dies gar nicht so sehr ein Roman für die Menschen, die sich hier so treffend getroffen fühlen. Vielleicht ist er ja gar nicht für Verlassene und Fliehende im eigentlichen Sinne geschrieben. Eine unverhoffte Wendung zeigt mir vielmehr, dass er die Kinder anspricht, die diesem Ehetaifun ihrer Eltern gnadenlos ausgesetzt sind. Ihre Fragen bleiben im Leben unbeantwortet. Ihre selbst zugewiesene Schuld zerstört mehr, als die Scheidungen oder Entscheidungen der Eltern. Sie sehen sich als Mittäter eines Scheiterns und belasten sich lebenslänglich mit diffusen Vorwürfen.

Die große Botschaft dieses Romans ist, dass man „Auf immer verbunden“ bleibt. Egal auf welcher Seite man steht, egal welchen Weg man wählt. Das große Fehl eines Lebens ist die unausgesprochene Wahrheit. Man sollte sie niemals vor den Menschen verbergen, die einem am wichtigsten sind. Und auf keinen Fall sollte man sie von den eigenen Kindern ans Tageslicht bringen lassen. Dann ist es zu spät. Lesenswert.

„LENNON“ von David Foenkinos

Lennon von David Foenkinos

Walking on thin ice, I’m paying the price…

Diese Liedzeile vibrierte wohl noch in der New Yorker Luft, als John Lennon am 8. Dezember 1980 das Record-Plant-Studio verließ und gemeinsam mit seiner Frau Yoko Ono nach Hause ging. Vor dem Dakota Building wartete Mark David Chapman auf das Paar. Der Mann, dem John Lennon noch am Vormittag beim Verlassen des Gebäudes ein Autogramm gegeben hatte. Diesmal jedoch wollte er kein Andenken vom Musikidol einer ganzen Generation. Er erschoss John Lennon aus sechs Metern Entfernung. Der Song, den Lennon an diesem Tag im Studio aufgenommen hatte, scheint zur Metapher dieses Anschlages zu mutieren. Ich gehe auf dünnem Eis und zahle den Preis…

Gerade mal 18 Jahre alt war ich an diesem Tag, als Nachrichtenfetzen vom Mord an John Lennon berichteten. Ich fühlte mich so unverletzlich wie der Kopf der Beatles, war davon überzeugt, dass man wie er aus dem Bett heraus die Welt verändern könnte und dass Musik eine Waffe gegen die Gleichgültigkeit und Kälte war. Weltweites Entsetzen und stumme Aufschreie seiner Fans setzten ein. „Imagine“ wurde zum Soundtrack der Stunde. „Give Peace a Chance“ entwickelte sich zum Rhythmus der Trauer. Und nicht zuletzt blickten wir alle auf eine wohl beispiellose Zeit zurück, die heute als die Epoche der Beatles gilt. Der Gedanke an diesen Tag lässt eine Melancholie in mir auferstehen, die mich nie ganz losgelassen hat. Ein einziger Song der Beatles reicht mir schon aus. Manchmal auch ein einziges Wort. „Imagine…“ Dann bin ich wieder dort…

Lennon von David Foenkinos

„Walking on thin ice“. Auf ebensolches dünnes Eis begibt sich auch ein Schriftsteller, wenn er heute über John Lennon schreibt. Besonders dann, wenn er versucht sich ihm in einem biografischen Roman zu nähern, der geeignet scheint, eine Ikone vom Sockel zu stoßen. Besonders dann, wenn er eine Ausgangssituation wählt, die echte Fans von John Lennon erschaudern lässt. Besonders dann, wenn er vorgaukelt, mehr zu wissen, als Lennon selbst jemals preisgeben wollte. David Foenkinos, ein Schwergewicht der französischen Literatur, begibt sich mit seinem neuen Roman „Lennon“ auf das dünne Eis einer fiktionalen Betrachtung eines omnipräsenten Künstlers, dessen Spuren durch die Zeit weichgespült und idealisiert wurden. Die Frage ist: Will ich das lesen?

Will ich einen John Lennon erleben, der über einen Zeitraum von fünf Jahren seinem erfundenen Psycho-Therapeuten das Herz und die Seele ausschüttet? Möchte ich zum Zeugen fiktiver Sitzungen werden, in denen John Lennon auf der Couch liegend auf ein Leben zurückblickt, von dem wir heute nur das Positive in Erinnerung behalten wollen? Möchte ich den zerbrechlichen, zerrissenen, zugekifften, gewalttätigen, egozentrischen und psychotischen Lennon kennenlernen, den ich als genialen Sänger, Weltveränderer und Friedensaktivisten im Herzen trage? Will ich mich unter den Sockel dieses Buches stellen und darauf warten, bis mir die Ikone Lennon zerbrochen in die Arme fällt. Nein. Will ich nicht.

Lennon von David Foenkinos

Und doch lese ich, weil mich David Foenkinos bisher noch nie enttäuscht hat. Ich lese weil er mir mit „Charlotte“ einen der außergewöhnlichsten Romane geschenkt hat, den ich je lesen durfte. Ich lese, weil mir „Das geheime Leben des Monsieur Pick“ so viele Facetten des Lächelns abgerungen hat, wie selten zuvor in meinem Lesen. Ja, ich lese „Lennon“, weil ich einem Schriftsteller vertraue und doch erwarte ich, ihn auf dem dünnen Eis dieses Projekts einbrechen zu sehen. Einfach nur, weil ich vielleicht Dinge erfahre, die ich gar nicht wissen möchte und die vor dem Hintergrund eines Romans in jeder Beziehung interpretierbar und faktenfrei sind. Ich mag meinen John Lennon so in Erinnerung behalten, wie ich mir einbilde, dass es ihm gerecht wird.

Und ich mag mich ab und an in Yoko Ono hineindenken, deren eigenes Leben am Ende war, als sie die Schüsse vor dem Dakota-Building hörte. Ich möchte mir das nicht kaputtmachen lassen. Auch nicht von Foenkinos. Gerade nicht von ihm. Und dann bin ich lesend auch schon an dem Punkt angelangt, der mir Kopfschmerzen bereitet. Höre John Lennon zu, der auf der Couch liegend einen wahren Seelenstriptease vorführt, in seine Kindheit und Jugend zurückblickt und sich seinem Therapeuten so schonungslos öffnet, wie es wohl in der Realität niemals geschehen ist. Aus der Ich-Perspektive wird nun erzählt, was man vielleicht vermuten, aber nicht wissen konnte. Schwere Kindheit, Vereinsamung, fehlende Nestwärme, Vaterkomplex… alles, was es so braucht, um zu erklären, warum man später auf die schiefe Bahn geraten war.

Lennon von David Foenkinos

Ich breche ab. Zuviel für mich. Das ist nicht Lennon. Das hört und fühlt sich nicht nach ihm an. Ich verabschiede mich ins Internet, suche nach Interviews und Aufnahmen aus der New Yorker Zeit, Statements zu seiner Karriere und werde stutzig. Ich wollte es so vielleicht nie hören, aber ich erkenne die Stimme und den Tonfall aus dem Buch wieder und lese weiter. Vielleicht hat David Foenkinos aus seiner Warte als Schriftsteller mehr gehört, genauer zugehört, neutraler betrachtet und ist deshalb zu einer Sichtweise des Erzählens gelangt, die John Lennon eher gerecht wird, als jeder verklärte Blick von mir. Ich lasse mich auf Foenkinos und seinen „Lennon“ ein. Nun ohne Vorbehalte. Erkenne und realisiere, wie er das Idealbild von Lennon in ein brutal zerrissenes Puzzle zerlegt und es dann Stein für Stein wieder zusammensetzt. 

Das so entstehende Portrait sieht am Ende so aus, wie das Bild, an das ich mich erinnern wollte. Jetzt erst erkenne ich all das, was meine eigene Vorstellung auf dem Bild übertüncht und überschminkt hatte. Aus kleinen Falten im Gesicht werden Narben, aus Grübchen Gruben und aus dem bohrenden Blick wird ein Hilfeschrei. Das ist keine Demontage eines Idols. Es ist das Erden einer Ikone. Was auf diese Weise entsteht ist der ungeschönte Abriss der Geschichte der Beatles, die Beschreibung aller Kollisionen und der Abgesang auf die Musikindustrie jener Tage. Der Soundtrack des Romans ist die Anthologie der Beatles-Songs und die Beatlemania hämmert ihre fatalen Rhythmen in und zwischen die Zeilen. Nein. Foenkinos hat Lennon nicht zerstört, er hat ihn nicht erhöht, er romantisiert ihn ebenso wenig, wie er ihn schlachtet. Ich habe das Gefühl, in der Tiefe der Auseinandersetzung mit John Lennon etwas gewonnen zu haben. Etwas, das ich nie wahrhaben oder erkennen wollte. Einen Blick ins Innere, der plausibel und ehrlich erscheint.

Lennon von David Foenkinos

Lennon ist fiktionale Künstlerbiografie und tatsächliche Kulturstory von Format und wird gerade bei eingefleischten Fans des Sängers sehr polarisieren. Entweder ich liebe, oder ich hasse dieses Buch. Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Ich bin mit diesem Roman im Reinen. Ich bin mit meiner Erinnerung im Reinen. Und vielleicht bewirkt dieses Buch ganz nebenbei noch etwas, was Biografien bisher nicht gelang. Es wirft ein neues Bild auf jene Yoko Ono, die heute noch als die skrupellose Frau gilt, die den Beatles den Todesstoß versetzte. Sie wird immer noch als die Egomanin gesehen, die John Lennon, wie bei einer feindlichen Übernahme besetzte und ihn seiner eigenen Vergangenheit entfremdete.

David Foenkinos hat das gut gemacht. Ich verdanke diesem Roman, dass ich mich mal wieder in meine Jugend fallen lassen konnte, meine Playlist von damals erneut im Ohr habe und an den 8. Dezember 1980 denken kann, ohne in Schockstarre und pure Resignation zu verfallen. Manchmal braucht man einen guten Freund, der einem dabei hilft. Manchmal kann ein Schriftsteller ein guter Freund sein. David Foenkinos ist nicht im dünnen Eis eingebrochen. Er hat es ein wenig tragfähiger gemacht. Danke dafür. Es klingt wie ein alter Beatles-Song, den ich jetzt ganz leise höre, wenn ich hier an diesen Roman denke. Manchmal braucht man einen Freund, für einen neuen Blick aufs Leben.

No, I get by with a little help from my friends
Mm, I get high with a little help from my friends
Mm, gonna try with a little help from my friends

Lennon von David Foenkinos

„Wege, die sich kreuzen“ von Tommi Kinnunen

Wege, die sich kreuzen von Tommi Kinnunen

Eigentlich klingt es ja wie eine der vielen Familiensagas, die uns in der letzten Zeit sehr oft über den literarischen Weg laufen. Das Muster scheint bekannt und gilt doch gerade im Bereich der Generationen übergreifenden Erzählungen als ganz besonders vielversprechend. Man findet im Hier und Jetzt im Nachlass der Vorfahren Dokumente, Briefe oder Tagebücher, die nicht nur den Stammbaum der Familie sondern auch das eigene Leben in neuem Licht erstrahlen lassen. Im Rückblick kann man auf diese Art und Weise in den gut gehüteten Geheimnissen stöbern, ein paar Familien-Leichen im Keller entdecken und vielleicht sogar mehr über sich selbst erfahren. Ja, diese Bücher finden ihre Leser, sind unterhaltsam, bewegend und beleuchten dabei sogar Epochen, die wir lesend besser greifen können, als dies in Geschichtsbüchern möglich wäre.

Das könnte man auch vermuten, wenn man „Wege, die sich kreuzen“ von Tommi Kinnunen zu seinem literarischen Wegbegleiter erwählt. Könnte. Der Konjunktiv ist bewusst gewählt, bezieht er sich doch auf den Klappentext, der genau auf die bekannte Struktur einer solchen Geschichte hindeutet. Aber so ganz unter uns: Vergesst einfach den Text im Schutzumschlag. Er führt in die Irre und nimmt vorweg, was wir lesend erst gegen Ende eines Romans erfahren, den ich im Vergleich zu den Familiengeschichten, die ich zuletzt las, als außergewöhnlich, brillant erzählt, faszinierend konstruiert und als Geschenk an das aktive Lesen empfand. Never read any Klappentext! Glaubt mir!

Wege, die sich kreuzen von Tommi Kinnunen

Dabei sind alle Bestandteile einer solchen Familiensaga vorhanden. Geheimnisse und Schuld, Versagen und Enttäuschung, Unausgesprochenes und Vielgesagtes. Aber nicht eine Entdeckung eines Briefes auf dem Dachboden eines finnischen Hauses tritt die Ereignisse los. Das machen die Menschen, um die es hier geht schon ganz alleine. Und wie sie dies tun, ist sehr beeindruckend. Beginnen wir mit Tommi Kinnunen doch einfach mal im Finnland des Jahres 1996. Beginnen wir mit dem Ende eines Lebens, in dessen Verlauf Lahja alles erlebt hat, auf das man kurz vor dem letzten Atemzug voller Zweifel und Unbehagen zurückblicken kann. Eine Kindheit ohne Vater, eine dominante Mutter, Krieg, Flucht und Armut, Hunger, einen Neubeginn an der Seite eines Mannes, der sie nicht lieben konnte und ein Ende, an dem die Bilder aus der Vergangenheit sie auf dem Sterbebett einholen.

Was Tommi Kinnunen literarisch konstruiert, um uns die Geschichte zu erzählen ist eine dreifach geschwungene Erzählschleife, die sich wie drei Ströme durch das Lesen mäandert. Wir erleben ruhige Seitenarme, Stromschnellen und Wasserfälle im Verlauf der Geschichte. Wir treiben dahin, betrachten die Menschen und Landschaften an den Ufern und Ausläufern dieser Flüsse, sehen Dörfer im Krieg untergehen, erkennen ihre vertriebenen Bewohner auf der Flucht und sehen neue Häuser auf den Ruinen der alten entstehen. Aus den verbrannten Kaminen der Vergangenheit entstehen Feuerstellen, an denen die neue Glut des Lebens die Menschen wärmt. Und doch ist es die Erinnerung an einst, die alles dominiert. Es sind die eingeschlagenen Wege, die das Leben prägen. Es ist das Verständnis für die Vorfahren, die das eigene Leben verständlich machen.

Wege, die sich kreuzen von Tommi Kinnunen

Wer sich der sterbenden Lahja 1996 nähern möchte, muss ihre Mutter verstehen. Wer die Verluste und Erfahrungen eines Lebensentwurfes nachvollziehen möchte, hat nur diese eine Chance, dem Lebensweg der Hebamme Maria zu folgen, der 1895 als erster der drei Erzählflüsse in den Roman mündet. Kinnunen erzählt ihre Geschichte in unregelmäßigen Zeitsprüngen konsequent bis zu ihrem Ende. Die resolute Frau braucht alles, um ihre Tochter Lahja zu beschützen und ihr ein sicheres Zuhause zu bieten. Sie investiert ihre gesamte Energie in das Lebenshaus und die Zimmer, die sie für sich und ihre Tochter entstehen lässt. Eins braucht Maria nicht: Einen Mann. Das muss doch zu schaffen sein. Ohne jemanden, nach dem man sich selbst richten muss. Wer dem Weg von Maria folgt, kommt zu den Wegkreuzungen, die alles erklären.

Kein Wunder also, dass auch Lahja ihr erstes Kind bekommt, ohne den Vater zu heiraten. Auch das wäre doch wohl zu schaffen. Zwei starke Frauen unter einem Dach und keine Männer, die ihnen ihren Willen aufzwingen. Dann nimmt der Erzählfluss ihrer Tochter Lahja im Jahr 1911 ihren Beginn und auch hier erzählt Kinnunen, was von ihr zu erzählen ist. Bis zu ihrem Ende im Jahr 1996. Was sich schnell erschließt, ist dass der männerlose Traum Lahjas ein Wunschgebilde blieb. Sie war nicht so stark, wie die Mutter und sie hatte Glück.Sie traf auf Onni. Ungewöhnlich für die damalige Zeit, dass er eine Frau mit unehelichem Kind zu seiner Frau nahm. Ungewöhnlich, dass er guter Vater und guter Mann war. Ungewöhnlich, dass zwei weitere gemeinsame Kinder das Leben unter einem Dach komplettierten. Maria, Lahja und Onni. Die uneheliche Anna und die beiden gemeinsamen Kinder Johannes und Helena. Eine kleine Gemeinschaft, in der nichts so war, wie es nach außen schien.

Wege, die sich kreuzen von Tommi Kinnunen

Onni bringt die Unwucht ins Leben zweier starker Frauen. Onni tut scheinbar viel, um sich als guter Mann und Vater zu erweisen. Eines jedoch gelingt ihm nie. Er kann Lahja nicht das geben, wonach sie sich am meisten sehnt. Körperliche Erfüllung. Auch die Zeit heilt diese Wunden nicht und im Erzählfluss von Onni, dem wir ab 1930 folgen dürfen, erschließt sich die immer größer werdende Belastung, die auf dem gemeinsam errichteten Lebensgebäude lastet. Onnis Geschichte ist eine Geschichte, die gelesen werden muss, um zu verstehen, warum dieses gemeinsame Leben unter Vorbehalt steht. Dass Lahja am Ende ihres Lebens ohne ihren Mann mit ihrer Geschichte konfrontiert wird hat einen Grund. Und genau dieser Grund ist Grund genug, diesen Roman nicht nur zu lesen. Er ist Grund, die Zeitschleifen übereinander zu legen.

Tommi Kinnunen erzählt auf den drei Wegen seines Romans nichts doppelt. Wir finden Anküpfpunkte zu den jeweiligen Perspektiven, sehen Bestätigungen für manche Vermutung und fühlen auf beklemmende Art und Weise, wie sich die Zimmer im Haus immer wieder neu verteilen. Maria wird im Lauf ihres Leben an den Rand gedrängt. In vielen Momenten ihres Lebens befürchtet Lahja, dass ihr ähnliches widerfahren könnte. Sie nimmt den Kampf auf. Einen Kampf, der alles verändert. Einen Kampf, der sie am Ende ihres Lebens zu einer einsamen Frau macht. Sie hat den Kampf gewonnen. Der Preis jedoch ist hoch. Erst hier – erst am Ende – erst im letzten Moment findet sich ein Brief aus ihrer Feder. Ein Brief, der mir den Boden unter den Füßen wegzog. Zeilen, die mich dazu verführten, einige Kapitel des Buches erneut und neu zu lesen. Aktiver kann Lesen nicht sein.

Wege, die sich kreuzen von Tommi Kinnunen

Tommi Kinnunen erzählt nicht nur über „Wege, die sich kreuzen“. Er lässt uns auf diesen Kreuzungen mit seinen Protagonisten kollidieren. Er gibt uns das Gefühl, viel zu wissen und doch verunsichert er uns mit Details, die nicht ins Bild zu passen scheinen. Die Spannungsbögen ziehen seine Leser in einen tiefen Sog einer Geschichte, die so typisch finnisch klingt, sich so finnisch anfühlt und von der kämpferischen Melancholie getragen wird, die wir mit diesem Land und seiner Geschichte assoziieren. Die Wege, die ich lesend beschritt, überlagern sich an manchen Stellen. Diese gilt es aufzuspüren und sich gut zu merken, sie vielleicht sogar zu markieren. Es sind die Jahre, die in den drei Wegen von Maria, Lahja und Onni gemeinsam erzählend betreten werden.

Ein großer Roman. Ein Lesevergnügen der besonderen Art und ein Ende, das ich kaum vergessen werde, weil es den Roman neu erzählt. Vielleicht habt ihr Lust, am Ende aller Wegkreuzungen weiter im finnischen Literaturmeer zu fischen. Es lohnt sich wirklich, weil sich ja vielleicht eine gemeinsame Melodie aufspüren lässt, die zur Melodie eines Landes und seiner Autoren und Autorinnen verschmilzt…

Eine weitere Blog-Wegkreuzung führtt Euch zu Constanze und Zeichen und Zeiten. Ihre Rezension mündet ebenso auf die Allee des guten Literatur…  .

Finnland und AstroLibrium

Auf in ein großes Abenteuer auf hoher See. Meeresroman“ von Petri Tamminen.

„Acht Berge“ von Paolo Cognetti

Acht Berge von Paolo Cognetti

Manche Bücher erscheinen aus rein persönlicher Sicht „Just in Time“. Sie treffen ihre Leser aus der Tiefe des Raums und zeigen ihnen, dass sie mit ihren Fragen nicht allein sind auf dieser Welt. Hier geht es nicht um Ratgeber oder Lebensweisheiten, die uns zur Seite stehen. Es sind Romane, die Themen aufgreifen, die relevant sind und in besonderer Art und Weise Stimmungen und Gefühle reflektieren, die uns beschäftigen und denen wir auf den Grund gehen wollen. Es sind Stimmen unserer Zeit, die zeitlose Fragen aufgreifen und allein schon deshalb inspirieren oder zum Diskurs anregen.

Acht Berge“ von Paolo Cognetti ist ein solcher Roman. In einer globalisierten und immer urbaner ausgerichteten Welt widmet sich der italienische Schriftsteller wohl nicht ganz zufällig der Frage, welcher Lebensweg in diesen Zeiten der richtige ist. Er schreibt über individuelle Lebensentwürfe und ihre Konsequenzen. Dabei ist sein Roman sicher auch autobiografisch angehaucht, da sein eigenes Leben in der Zerrissenheit des Plots angesiedelt ist, den sein Buch in den Mittelpunkt stellt. Paolo Cognetti lebt in Mailand, hat vor seinem literarischen Durchbruch Dokumentarfilme produziert und verbringt die Freizeit am liebsten in der Abgeschiedenheit seiner Berghütte im Aosta-Tal…

Acht Berge von Paolo Cognetti

Wer „Acht Berge“ aufmerksam liest, wird Paolo Cognetti hier wiederfinden. Seine Geschichte handelt von zwei Freunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Bruno und Pietro verbringen in ihrer Jugend viel Zeit miteinander. Bruno, ein Kind der Berge und Pietro, ein typischer Stadtjunge, der mit seinen Eltern die Ferien im Monte-Rosa- Massiv verbringt. Es vergeht keine Stunde dieser gemeinsamen Erlebniswelt, in der die beiden Welten nicht aufeinanderprallen. Und doch entsteht in der Schnittmenge dieser Lebenswahrheiten eine Freundschaft, die mehr als dreißig Jahre Bestand haben sollte.

Die Berge sind Zufluchtsort und Refugium zugleich. Abenteuer pur für zwei Jungs, die den Blick noch nicht in die Zukunft gerichtet haben, sondern im Hier und Jetzt leben und erleben wollen. Doch während Pietro immer wieder in die Stadt zurückkehrt, seine Ausbildung in der Schule absolviert und zu einem typisch urbanen Vertreter seiner Art wird, bleibt Bruno in den Bergen zurück und erlebt seine Jugend zwischen Ziegen, der Alm und den zurückgezogen lebenden Menschen seiner Heimat. Der Begriff Natur ist ihm fremd.

„Nur ihr Städter redet von Natur: Für euch ist sie dermaßen abstrakt, dass sogar der Name abstrakt ist. Wir sagen Wald, Weide, Bach, Fels. Alles Dinge, die man anfassen und nutzen kann. Was nutzlos ist, bekommt erst gar keinen Namen…“

Acht Berge von Paolo Cognetti

In der Szenerie der Bergwelt entwirf Paolo Cognetti einen wundervollen Roman einer Freundschaft, die trotz unterschiedlicher Lebensumstände die Basis nie verliert. Berge werden zur zweiten und oftmals eigentlichen Heimat von Pietro. Das Leben jenseits der Hektik der Städte und die Konzentration auf das Wesentliche werden zu seinem Anker. Und doch treibt das Leben die beiden Freunde immer weiter auseinander. Während im Monte-Rosa-Massiv die Zeit stehenzubleiben scheint, Bruno in die Tradition der Familie verschwindet, wird aus Pietro der Weltenwanderer und Dokumentarfilmer, den es bis zu die Weiten des Himalayas treibt. Die Rückkehr zu Bruno wird jedoch zum Ritual, dem er lange folgt. Zwei Blätter im Wind. Oft verweht – immer wieder neu vereint.

Paolo Cognetti beschränkt sich nicht auf die Beschreibung einer Freundschaft, ihre Entwicklung und die Strömungen, die sie zu zerreißen drohen. Er geht weiter und damit wesentlich tiefer, als man es vermuten könnte. Es fühlt sich an, als stünde der Autor auf einem Gipfel und ließe uns an seinem Weitblick teilhaben. Familien flankieren den Weg der beiden Freunde. Pietros Vater nimmt eine magnetisierende Rolle im Roman ein. Da wo Pietro sich von ihm abgestoßen fühlt, seinen eigenen Weg gehen möchte und auch die Konfrontation sucht, fühlt sich Bruno von ihm angezogen. Der Ersatzsohn wird zum Gefährten. Ein Konflikt, der auch die Freundschaft tangiert. Am Ende des Weges ist es jedoch genau dieser Vater, der mit seinem Vermächtnis den Weg für das Fortbestehen der Freundschaft zwischen Bruno und Pietro bereitet.

Acht Berge von Paolo Cognetti

Cognetti gelingt mit „Acht Berge“ ein starker selbstreflektierender Roman, der in der Lage ist, unser eigenes Leben in diesem Szenario zu spiegeln. Das Spannungsfeld zwischen Fernweh und Heimweh gehört sicherlich zu den wesentlichen Faktoren einer moderenen Gesellschaft, in der Arbeitsplätze nur zu finden sind, wenn man mobil ist, der Heimat den Rücken kehrt und sich der Achterbahnfahrt des Lebens aussetzt. Hier stellt das Monte-Rosa-Massiv die große Metapher des Romans dar und es ist nicht nur Zufall, dass Pietro erst auf einer Reise zum Mount Everest die Legende von den „Acht Bergen“ kennenlernt. Eine Legende, die so sinnbildlich für seine Freundschaft steht.

Welcher Lebensentwurf ist der richtige? Eine Frage, die auch dieses Buch nicht zu beantworten in der Lage ist. Eine Frage, die es auch gar nicht beantworten will. Hier ist es eher die klare Botschaft, die besticht. Den Weg eines Freundes zu akzeptieren, ihn nicht zu verbiegen, an den Unterschieden zu wachsen, gemeinsame Werte lebenslang zu zelebrieren und in der Schnittmenge zwischen Heimweh und Fernweh eine Welt zu gestalten, in der es sich leben lässt. Paolo Cognetti gibt die Frage des Lebensentwurfs an seine Leser weiter. Er macht uns nachdenklich, lässt uns eigene Wege erfühlen und beraubt uns jeglicher Illusion, dass es nur EINE Wahrheit gibt. Die Dramatik von „Acht Berge“ gleicht dabei einem Gipfelsturm auf die eigene Denkwelt der Leser. Man sollte dieses Buch lesen, am Gipfelkreuz angekommen das Gipfelbuch in die Hand nehmen und eine persönliche Nachricht hinterlassen. Vielleicht ist es gerade dieser Weitblick in einer immer stromlinienförmigeren Welt, der uns abhandengekommen ist.

Acht Berge von Paolo Cognetti

„Acht Berge“ ist ein richtiger Naturbursche unter den philosophischen Büchern, die unser Leben verändern können. Es strotzt nicht vor Weisheiten, sondern vor Kraft. Und darüber hinaus vermittelt der Roman ein ungeschöntes Bild von der Konsequenz einmal getroffener Entscheidungen. Sie sind zumeist irreversibel, so sehr man sich oft auch bemühen mag. Ein Leben zwischen den Welten ist ein Leben ohne Heimat. Mein Weg gleicht dem von Pietro. Meiner Heimat, der Eifel, habe ich den Rücken gekehrt. In der Rückschau auf diese Entscheidung ein alternativloser Weg. Und doch tobt sich das Heimweh oft in mir aus. Welcher Weg ist richtig? Was gewinnen wir, wenn wir gehen? Was hätten wir, wenn wir geblieben wären? Wo liegt heute die Stärke des Kleinen, wo das Große immer anonymer wird. Was kann ein kleines Kaff, was die Großstadt nicht hinbekommt? Fragen, denen ich mich auch literarisch weiter widmen möchte.

„Heimweh.. Fernweh… Sehnsuchtsbücher“ – Ein Arbeitstitel für eine Lesereise, die hier ihren Anfang fand. Auf der Frankfurter Buchmesse habe ich Neuerscheinungen in Augenschein genommen, die mich bald intensiv beschäftigen werden. Und auch mein Interview mit Sven Nieder zu seinem Lebensentwurf, seinem Eifelbildverlag und dem Weg, dem er schon immer folgte, kann als Initialzündung eines neuen Lesens gesehen werden. Hier könnt ihr es hören… „Eifeljungs unter sich

Sven Nieder und sein Eifelbildverlag im Porträt

„Acht Berge“ – nicht der erste Gipfelsturm der kleinen literarischen Sternwarte:

Tod in eisigen Höhen – Eine Reportage zum Mount Everest Drama 1996
Absturz des Himmels – Reinhold Messner und das Matterhorn
Abgründig – Betreutes Klettern mit Arno Strobel
Bluteis von Marc Ritter – St. Moritz verliert seine Unschuld – Ein Icebreaker
Kreuzzug von Marc Ritter – Das Zugspitz-Attentat

Acht Berge von Paolo Cognetti – AstroLibrium und die Gebirgszüge des Lesens

„Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri

„Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri

Ein besonderes literarisches Stilmittel zur Bekämpfung klischeehafter Vorstellungen ist die multiperspektivische Beschreibung von ungeklärten Sachverhalten. Nehmen wir zum Beispiel den Tod eines jungen Menschen, der Fragen aufwirft. Aus einer einzigen Sichtweise heraus mag es vielleicht unerklärlich sein, was sich abgespielt hat, aber eine Erweiterung des Horizonts auf unterschiedliche Betrachtungsweisen führt uns näher an das eigentliche Ziel. Diese Erzählkonstruktion hat viel von Polizeiarbeit und schließt am Ende Spekulationen und Interpretationen weitgehend aus.

Die Bücher Dann mach ich eben Schluss“ von Christine Fehér oder „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher sind vielleicht die absoluten Paradebeispiele, wie man sich als Schriftsteller in einer ganz besonderen Konstruktion dem eigentlichen Kasus eines Romans vorsichtig nähert. Der Selbstmord junger Menschen steht im Vordergrund der Betrachtung. Doch wer trägt Schuld, wer hätte es wissen müssen und was geschah in den letzten Minuten dieses tragischen Lebensweges? Fragen, die sich allen Beteiligten stellen und Antworten, die dabei so unterschiedlich aussehen. In der Schnittmenge der Aussagen liegt der Zauber eines solchen multiperspektivischen Romans. Indizien und Fakten verdrängen die pure Vermutung. Vorurteile lösen sich auf und Erkenntnis heißt der Zugewinn des Lesers.

„Alles, was ich nicht erinnere“ – Multiperspektivisch verwandte Romane

Jonas Hassen Khemiri scheint sich auf den ersten Blick in seinem Roman Alles, was ich nicht erinnere (DVA) für dieses Stilmittel entschieden zu haben und dabei in der Tradition der oben aufgeführten literarischen Vorbilder seine eigene Geschichte zu entwickeln. Es wirkt wie ein Film, in dem unterschiedliche Kamerapositionen ein jeweils ganz neues Licht auf ein Ereignis werfen, das in sich immer ungeklärt belieben wird. Es ist jedoch nicht ganz so einfach, wie man es sich auf den ersten Blick vielleicht vorstellt. Denn der Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter und einer der unbestrittenen Stars der schwedischen Literaturszene fordert seine Leser nicht nur auf, diesen unterschiedlichen Perspektiven zu folgen. Nein. Er drückt uns quasi die Kamera in die Hand und lässt uns oftmals im Ungewissen, wen wir eigentlich im Blick haben. Es ist der Zauber seines Erzählraumes, dass er ohne die üblichen „Samuel sagt“ oder „Sie erwiderte“ auskommt.

Wir sind gefordert. Wir sind diejenigen, die in seinem dynamischen Roman erkennen müssen, wer gerade erzählt. Wir müssen uns in die Stimmen der Protagonisten und in ihre Perspektiven hineinversetzen und dann die Fragmente der Erkenntnisse zu einem großen Puzzle zusammensetzen, dessen Teile am Anfang überhaupt nicht zueinander zu passen scheinen. Sie haben keine Form, keine Ausbuchtungen, nichts hält sie und nur ganz wenig scheint sie zu verbinden. Von Seite zu Seite jedoch entsteht ein einzig denkbares Bild, in das sich immer mehr Puzzleteile einfügen, die wir lesend gesammelt haben.

„Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri

Das zentrale Puzzleteil trägt den Namen Samuel und im ersten Lesemoment passen die ersten erlesenen Teile ganz gut in das entstehende Puzzle seiner Persönlichkeit. Er ist ein fürsorglicher Enkel, sehr verliebter Gefährte und guter Freund. Schade nur, dass er schon zu Beginn des Romans tot ist. Ein Unfall, sagen die einen. Selbstmord, sagen die anderen. Im Auto seiner Großmutter frontal gegen einen Baum. Das allein steht fest und ist unstrittig, aber die Umstände seines Todes bleiben verborgen. Solange, bis ein Schriftsteller mit seiner Recherche für ein Buch beginnt, in dem er den Tod Samuels in seine Bestandteile zerlegen und das Geheimnis lösen möchte.

Hier begegnet Jonas Hassen Khemiri sich selbst in seinem Roman und stellt alle Kontakte her, von denen er sich Aufklärung erwartet. Die Jugendfreundin Panther, den besten Freund Vandad und Samuels große Liebe Laide sind die zentralen Figuren in dem tragisch endenden Spiel, das Leben hieß. Khemiri befragt sie intensiv, lässt sie zu Wort kommen und beschießt seine Leser mit den ständig wechselnden Sichtweisen auf einen jungen Mann, der nicht mehr widersprechen oder zustimmen kann. Es ist zu Beginn leicht verwirrend, diese Menschen auseinanderzuhalten, weil der Autor uns mit ihnen  alleine lässt. Er führt sie nicht ein. Sie konturieren sich gegenseitig. Perspektiven entwickeln ihre ganz eigene Dynamik und Wucht.

„Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri

Und so finden wir uns in einem literarischen Puzzle mit 1000 Teilen. Wenn man die einzelnen Teile benennen müsste, dann trügen sie folgende Namen. Stockholm, Berlin, Multikulti, Kunst, Kleinkriminalität, Liebe, Beziehung, Enttäuschung, Leidenschaft, Hass, Scham, Gewalt, Diskriminierung, Verrat, Flucht, Fürsorge und Trennung. Sie fügen sich langsam zusammen. Das Muster ist brillant und das Gesamtbild in seiner Emotionalität bestechend. Khemiri überrascht in vielfacher Hinsicht. Seine Story entzieht sich in jeder Hinsicht dem Versuch, sie zu kategorisieren. Dafür ist sie zu facettenreich angelegt. Es fühlt sich an, wie das wahre Leben.

Wie starb Samuel? Diese Frage trägt den kompletten Spannungsbogen des Romans. Sie bleibt nicht unbeantwortet. Der literarische Dreh, mit dem Khemiri hier in doppelter Hinsicht arbeitet, hebt den Roman aus den Angeln. Schließlich kommt jemand zu Wort, mit dem man gar nicht mehr gerechnet hätte. Welche Sichtweise auf Samuels Tod nun der Realität entspricht und welches Bild von ihm bleibt, das gilt es selbst zu erlesen. Es ist ein Spiel mit Erinnerungen, eine Frage des Gedächtnisses und ein Spiegelbild einer dementen Großmutter, das unsere Erinnerungen an Samuel über die letzte Seite einer sprachlich großartig erzählten Geschichte hinaus bestimmt. Samuel bleibt bei uns, auch wenn der Buchtitel verdeutlicht, dass es in „Alles, was ich nicht erinnere“ deutlich zu erkennende Grauzonen gibt, die sich der Erinnerung widersetzen.

„Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri

Am Ende des Romans stellt man sich die Frage, wessen Geschichte man eigentlich gelesen hat. Diese Frage ist umso bedeutender, weil man hier auch auf die Spur eines Schriftstellers und seiner Motivation zu schreiben kommt. Man darf sich getrost auf das Spiel von Jonas Hassen Khemiri einlassen. Am Ende fehlt kein Puzzleteil und doch hat man plötzlich ein fertiges Bild vor Augen, das zu einem anderen Bild gehört. Es ist echt. So fühlt es sich an. Es ist authentisch. So liest es sich. Es ist realer als real. Das denke ich mir. Es ist eigentlich viel mehr als nur ein Roman.

Wer Jonas Hassen Khemiri liest, sollte sich darauf gefasst machen, keine leichte literarische Schonkost serviert zu bekommen. Wer ihm vertraut, der wird einen Weg durch diese Geschichte finden, der sich mit dem eigenen Lebensweg verknüpfen lässt. Wer auch nur einmal im Leben diesen Satz gefühlt hat, wird wissen was bleibt wenn es sich nicht mehr wie ein Ganzes anfühlt.

„… wir hatten uns getroffen, wir hatten jemanden gefunden, der machte, dass wir uns weniger halb fühlten, einen Menschen, der nicht perfekt war, aber wir wollten keine Perfektion, wir waren die Perfektion leid…“

Lesenswert.

„Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri