Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko

Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko - Astrolibrium

Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko

Es gibt immer wieder die unterschiedlichsten Gründe, die meine Entscheidung für ein bestimmtes Buch beeinflussen. Natürlich ist der inhaltliche Aspekt von besonderem Interesse, wenn ich einen neuen Lesewegbegleiter auswähle. Hier jedoch sieht es auf den ersten Blick anders aus. „Der ehemalige Sohn“ von Sasha Filipenko stößt mich in eine Wahrnehmungsebene hinein, die ich als zutiefst schaurig empfinde. Wann habe ich jemals einen aktuellen Roman gelesen, der im europäischen Heimatland des Autors nur unter dem Ladentisch erhältlich ist, und den man tunlichst nicht in der Öffentlichkeit lesen sollte? Wann hatte ich zuletzt ein mehr oder weniger verbotenes Buch in Händen und wann habe ich mir zuletzt darüber Gedanken gemacht, welche Gefühle Menschen haben, die genau dort leben. In Weißrussland. Belarus. Einem Land in Europa. Es ist Sasha Filipenko, der sich seiner Heimat literarisch nähert und den Machthabern in der Pseudo-Demokratie den Boden unter den Füßen wegzieht. Sein Roman ist Utopie und Streitschrift zugleich. Er ist flammender Appell und selbsterfüllende Prophezeiung, weil die brutale Realität im Land dieses Buch täglich bestätigt. Wirklich täglich.

Der ehemalige Sohn“ hat mich wütend gemacht, weil ich während des Lesens im Fernsehen auf Nachrichten stoße, die mich demokratisch abstoßen. Da ist es ein vom Volk gewählter Präsident, der seine Macht undemokratisch ausdehnt und das Land in einen Satellitenstaat seines großen Nachbarn verwandelt. Proteste werden mit Gewalt unterdrückt, Regimegegner finden sich plötzlich an der Landesgrenze wieder, im Exil lebende Blogger werden mit Passagierflugzeugen ins Land entführt, um ihrer habhaft zu werden. Uniformierte Sonderkommandos ohne Hoheitsabzeichen streifen durch die Straßen von Minsk und verschleppen Demonstranten. Besonders hart trifft es Frauen. Bei den Olympischen Spielen in Tokio steht eine kritische Sprinterin kurz davor, in ihre Heimat entführt zu werden und in diesem Moment tickert die Nachricht über den Tod eines Dissidenten über den Bildschirm, der sich in der Ukraine beim Joggen erhängt haben soll. Kein Tag ohne eklatante Verletzung aller Menschenrechte. Kein Tag ohne Nachrichten aus einer Diktatur im Herzen Europas.

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Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko

Ich wollte den Roman von Sasha Filipenko erst rezensieren, wenn die Lese-Wut verflogen ist. Dann, so habe ich jedoch festgestellt, würde ich nie ein Wort über einen Roman verlieren, der eigentlich zur Pflichtlektüre in unseren Schulen gehören müsste. Also schreibe ich wütend. Aufgewühlt und zornig. Gefühle, die eigentlich hier Fehl am Platz sein sollten, die ich aber nicht ausblenden kann. Das liegt natürlich an der mehr als brillanten Perspektive, aus der Sasha Filipenko mich zum Zeugen der Entwicklung der sozialen und politischen Missstände in seiner Belarussischen Heimat macht. Es ist das Stilmittel eines medizinischen Tiefschlafs, mit dem er uns alle einschläfert, um uns dann abrupt aufwachen zu lassen, und uns damit nicht nur die Augen öffnet. Es ist das Koma, in das er seinen Protagonisten fallen lässt, um ihn dann erst zehn Jahre später wieder aufwachen zu lassen. Schneewittchen in Weißrussland, könnte man sagen…

So erleben wir Franzisk, einen ganz normalen Jugendlichen in Belarus, mit seiner Lebensgier, seinen Freunden, Problemen und Träumen. Die politischen Umstände sind eher Schatten im Licht seiner Energie, aber er spürt die Einschränkungen, die aus dem normalen Leben ein vorsichtiges Herumtasten auf politischen Minenfeldern machen. Es ist ein fröhlicher Ausflug zu einem Rockkonzert, der dramatisch endet. Es fühlt sich an, wie das Drama der Love-Parade, als wir Franzisk aus den Augen verlieren. Erst in der Klinik finden wir ihn wieder. Er liegt im Koma. Hoffnung auf ein baldiges und gesundes Erwachen: Fehlanzeige. Während Ärzte, Eltern, Freunde und sogar seine Freundin ihn aufgeben, hält nur noch seine Oma zu ihm. Sie begleitet sein Koma wie eine gute Fee. Niemand ahnt, dass es genau zehn Jahre dauern wird, bis er die Augen öffnet. Er wird wach und erkennt, dass sich sein gesamtes Umfeld verändert hat. Nur das Land seiner Jugend hat sich nicht verändert. Es fühlt sich für den jetzt 26-Jährigen so an, als hätte auch Belarus im Koma gelegen. Ein Tiefschlaf, den der allmächtige Präsident nur dazu genutzt hatte, seine Position unangreifbar zu machen.

„Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen. Monatelang, jahrelang, ewig…“

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Das Koma als zentrale Metapher steht für die Teilnahmslosigkeit und die fehlende Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize. Es ist hier der kollektive Tiefschlaf eines Volkes, den Filipenko auf drastische Art und Weise beschreibt. Die höchste Form der Lähmung des zentralen Nervensystems wird hier zum literarischen Symptom aller Unterdrückten. Fehlt nur noch der letzte Schritt. Der Hirntod. Die letzte Konsequenz. Doch hier versagt die allmächtige Regierung. Der Patient erwacht. Er erinnert sich an den Zustand, der in seiner Heimat vor zehn Jahren vorherrschte. Dieses Brennglas auf einen Herzstillstand löst nun ein fulminantes Erwachen aus, das einer Eruption gleicht. Ein Koma ist für ein Leben genug. Es ist die unfassbare Vitalität, die aus dem zweiten Teil dieses Romans das Buch einer Widerstandsbewegung macht, die in den Straßen von Minsk zu neuem Leben erwacht. Es pulsiert, es vibriert und wirkt endlich ansteckend, wie eine heilsame Krankheit. Sasha Filipenko träumt den Freiheitstraum seines Protagonisten.

Sein ehemaliger Komapatient befreit sich von den Ketten der Vergangenheit und steht auf. Es ist alles Ehemalige, das er nun abstreifen muss, um ein Gegenwärtiger zu werdenUnd genau hier begegnen wir den Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen in den Straßen von Minsk. Hier fühlen wir die Träume und die Grenzen, die ihnen gesetzt sind. Hier beginnt nach dem Lesen des Romans die Wut. Hier beenden wir ein Buch in der Hoffnung, die Zeiten würden sich ändern und werden doch täglich von Neuem von der Findigkeit eines Machthabers überrascht. Sind es nicht wir, die im Koma liegen? Ist es nicht die Staatengemeinschaft, die ihre Werte verliert und wie lange darf man im Herzen Europas einer solchen Fehlentwicklung zuschauen? Diese Fragen bleiben am Ende von „Der ehemalige Sohn“. Es sind bohrende Fragen und fehlende Antworten, die uns beschäftigen. Es ist ein tiefes Koma, aus dem wir hier geweckt wurden. Ist es zu spät, um endgültig wach zu bleiben? Sasha Filipenko hat seine Antwort literarisch formuliert. Ein erschreckend aktueller Roman, der täglich zitiert werden kann.

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„Du weißt ja, in welchem Land du lebst. Hier sind schon die nichts wert, die gesund und am Leben sind, von Menschen im Koma ganz zu schweigen.“

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren, lebt und schreibt in Sankt Petersburg und arbeitet als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und TV-Moderator. Der belarussische Schriftsteller schreibt auf Russisch. Die Übersetzerin des Romans Ruth Altenhofer hat das Buch um einige hilfreiche Anmerkungen ergänzt, die den Zugang zum gesellschaftlichen Hintergrund und zum Verständnis des Textes mehr als erleichtern. Kompliment.

Constanze Matthes war mit „Zeichen & Zeiten“ ebenfalls literarisch in Minsk. Hier geht´s zu ihrer keinesfalls komatösen Rezension…!

Ein wütender Nachtrag: Wenn man hier Querdenker und Corona-Leugner durch die Straßen ziehen sieht, die unsere Demokratie mit einer Diktatur vergleichen, Berlin mit Minsk verwechseln und sich dabei auf eine Stufe mit belarussischen Demonstranten stellen, muss man sie deutlich fragen: Warum gibt es euch noch? Wo sind die ganzen Sprinter, die euch von den Straßen verschleppen? Wo bleiben die illegalen Milizen, die auf euch einprügeln? Welche Querdenker wurden ausgebürgert? Wie ist es möglich, in der Öffentlichkeit, bei genehmigten Demonstrationen und im frei zugänglichen Internet vom fehlenden Recht auf freie Meinungsäußerung zu reden? Eure Haltung ist abstrus. Lesen bildet. Sasha Filipenko könnte helfen…  Nur so ein Tipp an alle Unterdrückten.

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