Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

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Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

Sie ist eine der ganz Großen der französischen Literatur: Delphine de Vigan. Ihre Romane haben mein Lesen verändert, meine Wahrnehmung geschärft und gehören zu den wichtigsten Wegmarken in meiner kleinen Bibliothek. Sie hat „Loyalitäten“ von mir eingefordert, „Das Lächeln meiner Mutter“ zur Kunstform erhoben und es im Roman „Nach einer wahren Geschichte“ in ihr Leben als Schriftstellerin gespiegelt. Was für mich vor vielen Jahren mit „No & ich“ begann, setzt sich nun mit „Dankbarkeiten“ fort. Das Buch trägt mein persönliches Gefühl gegenüber der kreativen Lebensleistung von Delphine de Vigan in seinem Titel. Ich empfinde Gratitudes, Dankbarkeiten für jedes einzelne Wort aus ihrer Feder. Ein Gefühl, das sich erneut steigern sollte….

Während Delphine de Vigan in ihren bisherigen Büchern eher komplex angelegte und in sich verwobene Geschichten erzählte, besticht sie in „Dankbarkeiten“ durch die klar definierte und einfache Struktur ihres Erzählraumes. Man ist schnell drin in der Erzählung, freundet sich rasant mit den drei Protagonisten an, und wird von einem Plot aufgesaugt, der ein Unterbrechen des Lesens nicht erlaubt. Empathisch und gefühlvoll entführt uns Delphine in den letzten Lebensabschnitt einer Dame, deren Beruf sich dem Wort verschrieben hatte. Korrektorin bei großen Magazinen war sie. Wortgewaltig und präzise in ihren Formulierungen. Und jetzt? Im hohen Alter wird sie von einer Krankheit eingeholt, die sie besonders trifft. Aphasie. Der Verlust des Sprechvermögens.

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Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

Madame Seld, oder nennen wir sie einfach Michka, ist keinesfalls dement. Es sind die Worte, die verschwinden. Begriffe des täglichen Lebens, die plötzlich nicht mehr zu ihrem vormals reichhaltigen Sprachschatz gehören und die sie jetzt durch ähnliche oder gleichlautende zu ersetzen versucht. Michka hat Angst, fühlt, dass etwas zerreisst und, dass der Zustand in dem sie sich nun befindet unumkehrbar ist. Rücksichtsvoll lesen wir ihr die Worte von den Lippen ab, versuchen ihr auf die Sprünge zu helfen, um ihr das Gefühl zu vermitteln, sie immer noch gut zu verstehen. Sie selbst ahnt jedoch, dass ihr nicht nur die Worte entgleiten. Es ist das ganze Leben, das verschwindet.

Es ist Marie, eine junge Frau, die sich Michka verpflichtet fühlt, die nun die Reißleine zieht und die alte Dame davon überzeugt, dass ein Seniorenheim der sicherste Platz für die schwierige Lebensphase wäre. Abschied nun nicht mehr nur von Worten. Abschied vom gewohnten Umfeld, von der eigenen Wohnung und den Gegenständen, die sie ein Leben lang begleitet haben, all dies sorgt bei Michka für Albträume und das Gefühl, in einem Strudel zu versinken. Jerome, der Logopäde des Altenheims, wird als Therapeut mit der alten Dame konfrontiert und nun ist er gefordert, die Reste des Sprachschatzes zu bewahren und weitere Verluste zu verhindern. Die Übungen beginnen.

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Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

Aus dieser Dreierkonstellation gestaltet Delphine de Vigan ihren Erzählkosmos, in dessen Zentrum ein Fixstern namens Dankbarkeiten hell leuchtet. Eine junge Frau, in deren Leben viele offene Fragen toben und die nicht weiß, wie sie Michka danken soll. Ein Therapeut, der bevorzugt mit alten Menschen arbeitet, um einen ungelösten Konflikt zu kompensieren und die alte Dame, die am Ende des Lebens kaum noch die richtigen Worte findet, um die großen offenen Fragen der Vergangenheit zu beantworten. Es gibt noch einen letzten Wunsch, den man ihr erfüllen kann. Ihre Dankbarkeit zu übermitteln und den Menschen, die ihr einst das Leben gerettet haben zu zeigen, dass Michka sie nie vergessen hat.

Delphine de Vigan schreibt sich in die zunehmende Sprachlosigkeit der alten Dame hinein, als würde sie selbst in Aphasie versinken. Es ist beklemmend zu lesen, wie viele Worte sich verabschieden. Es ist ein brillanter literarischer Kunstgriff, der uns Michka trotzdem verstehen lässt, weil wir schnell fühlen, was sie eigentlich sagen will. Und es ist der alles überstrahlende Charakter der alten Dame, der sie zur eigentlichen Akteurin in diesem Roman macht. Nein, sie ist nicht vergesslich. Im eigentlichen Sinne ist sie es, die ihre beiden letzten Wegbegleiter therapiert. Hier ist es die fast sprachlose Michka, die ihr letztes Pulver verschießt, um ihre Dankbarkeit zu zeigen. Unglaublich emotional.

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Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

Delphine de Vigan richtet unsere Antennen neu aus, sie stellt uns auf Empfang und zeigt deutlich auf, wie wichtig ein aufrichtiger Dank sein kann. Wann haben wir uns bei jemandem bedankt, der mehr für uns getan hat, als es zu erwarten gewesen wäre? Wie haben wir uns bedankt und gibt es noch „Dankbarkeiten„, die wir noch nicht erwiesen haben? Diese Fragen bleiben uns Lesenden am Ende dieses unglaublich bewegenden Buchs. Das Ringen um gemeinsame Zeit mit uns nahestehenden Menschen mag eine der wesentlichen Triebfedern sein, um Verluste zu vermeiden. In Wahrheit jedoch geht es um die Qualität dieser Zeit, bevor alles endet. Diese Lektion überstrahlt dieses Buch.

Eine tiefe Hommage an die Dankbarkeit. Eine Hommage an Therapeuten, die sehen wann die Schlacht verloren ist und trotzdem weiter kämpfen. Ein großer Roman gegen die Selbstverständlichkeit von kleinen und bedeutenden Gesten. Dieses Buch ist nicht beliebig. Es ist in jeder Nuance besonders und bleibt haften. Wie es der Übersetzerin Doris Heinemann hier gelungen ist, der französischen Sprachlosigkeit zur Wortgewalt zu verhelfen, ist grandios. Ihrem Sprachschatz haben wir zu verdanken, dass Delphine de Vigans Originalvorlage mit Sprachwitz und Gewandtheit in der deutschen Ausgabe so harmonisch umgesetzt wurde.

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Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

Am Ende erwartet uns eine Begegnung, die von einer besonderen Sprache geprägt ist. Auch hartgesottene Leser sollten sich mit Taschentüchern wappnen, denn hier ist es die große Delphine de Vigan, die ihre Geschichte mit einem sprachlichen Knalleffekt ins Ziel bringt. Das muss man lesen, um es nachfühlen zu können. Das muss man auf sich wirken lassen, um den Hoffnungsschimmer am Ende der „Dankbarkeiten“ ganz tief zu verinnerlichen. Madame Seld zu vergessen, wird nicht gelingen. Vielleicht hilft ja ihr Roman dabei, uns dann ein bisschen Halt zu geben, wenn wir mit Menschen konfrontiert werden, denen ein dramatischer Verlust droht. Sei es Sprache oder Erinnerung. Sei es körperliche Gesundheit oder emotionaler Schaden. Ja, dieser Roman öffnet Horizonte.

Der vergessliche Riese“ von David Wagner und „Dankbarkeiten“ gehen Hand in Hand durch mein Lesen. Der empathische Umgang mit alten Menschen und die Würde, die ihnen durch diese Geschichten zurückgegeben wird sind unverzichtbare Elemente einer Gefühlslage, die in einer immer gefühlloser werdender Zeit abhanden kommt. Ich bedanke mich für diese Bücher.

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Dankbarkeiten von Delphine de Vigan

„Loyalitäten“ von Delphine de Vigan – Ein Weckruf

Loyalitäten von Delphine de Vigan

Ich bin loyal. Das stelle ich einfach mal in den Raum. Loyal gegenüber Schriftstellern, die mich schon mehrfach aus der Komfortzone meines Denkens befreien konnten und mir mit ihren Werken neue Sichtweisen, unvergessliche Lese- sowie Hörmomente oder einfach nur gut erzählte Geschichten ins Leben geschrieben haben. Sie genießen den Vertrauensvorschuss, den sich ein „neuer“ Autor in meinem Lesen erst erwerben muss. Ihnen liefere ich mich gerne aus, weil ich aus eigener Erfahrung abschätzen kann, dass ich nicht enttäuscht werde. (Diese Rezension kann man auch im Radio hören. Hier.)

Loyalitäten von Delphine de Vigan – Die Rezension fürs Ohr

Ja, Leser können loyal sein. Sie gehen mit ihren Herzensschriftstellern Allianzen ein, die man fast schon als heilig bezeichnen könnte. Sie folgen ihnen ergeben, treu, integer und ziehen, wenn erforderlich, auch für sie in die Schlacht. In diesem besten Sinne der literarischen Loyalität gehöre ich zum linientreuen Gefolge von Delphine de Vigan. Ja, man kann mir für die nun folgende Rezension durchaus Befangenheit unterstellen. Mir bliebe nichts übrig, als mich in allen Punkten der Anklage für schuldig zu bekennen. Ich folgte der französischen Schriftstellerin, egal in welchem Verlag sie veröffentlicht wurde und stellte dabei immer wieder fest, dass ihre Bücher auch über diese Grenzen hinaus eng miteinander verbunden sind. Ein Lebenswerk im besten Sinne des Wortes.

Loyalitäten von Delphine de Vigan

Mir ist bereits vor zehn Jahren Lou Bertignac über den Weg gelaufen. Sie war das „Ich“ in Delphine de Vigans Meisterwerk „No & ich“. Sie war das behütete Mädchen im zerrissenen Paris, das zwischen Kultur und Subkultur changierte. Sie war es auch, die von der obdachlosen No auf die andere Seite jenseits aller Komfortzonen gezogen und dort losgelöst von allen Konventionen festgehalten wurde. Dieser Roman hat mich auf die widersprüchlichen Welten innerhalb einer einzigen Stadt aufmerksam gemacht und nachhaltig geprägt. Diesem Roman verdanke ich eine faszinierende Reise nach Paris und Romane, die ich ansonsten nie für mich entdeckt hätte.

Ich bin Delphine de Vigan weiter gefolgt. Ich war stets fasziniert von ihrem Umgang mit der eigenen Vergangenheit, vom autobiografischen Aspekt ihres Schreibens. „Das Lächeln meiner Mutter“ und „Nach einer wahren Geschichte“ spielten auf höchstem Niveau mit meinen Gefühlen, mit meiner Wahrnehmung und meinem Denken bezogen auf Identität, Kontrollverlust und psychische Probleme. Keines dieser Bücher hat dabei enttäuscht. Jeder Roman hat neue Maßstäbe gesetzt und bleibt bis zum heutigen Tag tief in meinem Lesen verankert. Ihr neues Werk setzt diese Tradition nahtlos fort. Hier finde ich mich in dem Paris wieder, das Delphine de Vigan als Erzählraum kultiviert hat. Und ich finde mich in einer Geschichte wieder, die losgelöst von Raum und Zeit überall beheimatet sein könnte.

Loyalitäten von Delphine de Vigan

Loyalitäten“ von Delphine de Vigan – DuMont Buchverlag

Herzlich willkommen erneut in Paris. Delphine de Vigan bleibt sowohl ihrer Stadt als auch dem soziokulturellen Setting des modernen Frankreichs gegenüber loyal. Es dient nicht nur als Kulisse für eine erneut brillant erzählte Geschichte. Die Stadt an der Seine ist zugleich Nährboden für die Handlung, wie schillernd verstörende Kulisse, in der sich die wahren Dramen des Alltags abspielen. Besonders für den zwölfjährigen Théo, dem alles fehlt, was man unter der Überschrift „behütete Kindheit“ subsummieren könnte. Er ist Trennungskind, wechselt wöchentlich die Territorien zweier tief verfeindeter Parteien und wird zum leidtragenden Grenzgänger zwischen der Welt seiner Mutter und der des Vaters. Wobei man gerade bei Letzterer nicht von Welt, sondern von Apokalypse reden muss.

Wie Delphine die Vigan die Zerrissenheit beschreibt, die Théos Leben prägt, ist für Väter besonders schwer zu verkraften. Das Versagen auf ganzer Linie steht für jenen Menschen, der seinem Sohn in einer solchen Lebensphase Halt und Zuversicht geben sollte. Hier findet Théo jedoch nur ein Loch vor, in dem er Woche für Woche einziehen muss. Selbstaufgabe, Arbeitslosigkeit, Armut und krankhafte Lethargie macht Delphine de Vigan so greifbar, als würden wir selbst die heruntergekommene Wohnung betreten. Die andere Seite bedient sich des Sohnes als Instrument nie verwundenen Schmerzes. Seine Mutter ist nie über die Trennung von ihrem Mann hinweggekommen. Wenn Théo vom Vater zur Mutter zurückkehrt, wird er behandelt, als käme er vom feindlichen Lager zurück in die eigenen Reihen. An ihm lässt sie den Hass gegenüber ihrem Ex aus. Hier zerreißt ein junges Leben zwischen den Fronten verfeindeter Eltern. Beklemmend.

Loyalitäten von Delphine de Vigan

Théos Loyalität wird von Woche zu Woche auf eine harte Probe gestellt. Einziger Fluchtpunkt ist sein gleichaltriger Freund Mathis, dessen Elternhaus dagegen wie eine heile Welt wirkt. Oberflächlich betrachtet. Hier ziehen sich die Risse eher subversiv und schwer zu erkennen durch das Leben seiner Familie. Die psychisch gestörte Mutter und ein Vater, der ein mediales Doppelleben innerhalb der gemeinsamen vier Wände führt, machen auch diesen Alltag zur Hölle. Die Jungs verbindet die fehlende Nähe, die Liebe und der Schutz, den nur Eltern bieten können. Beide flüchten sich in den Alkohol. Beide im Alter von 12 Jahren. Mathis, um Théo gegenüber loyal zu sein. Théo, um den finalen Ausweg aus der Unerträglichkeit zu finden. Delphine de Vigan lässt ihre Leser in einem Rausch aus Kälte und Wodka versinken. Sie zieht uns in den Strudel, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Würde sie nicht Hélène ins Feld führen. Die Lehrerin der beiden Jungs, die bemerkt, wie sehr sie langsam abdriften. Sie findet keine Beweise. Théo und Mathis bleiben loyal gegenüber jenen, die sie zuhause verraten. Die eigenen Eltern zu verraten kommt nicht in Frage. Als Hélène auf Spurensuche geht, stellt sie ihre eigene Loyalität infrage. Hier überschreitet sie Grenzen und Kompetenzen, hier stellt sie ein blindes Schulsystem auf die Probe. Hier spürt sie menschliche Katastrophen auf, ohne sie beweisen zu können. Hier wird nun auch sie zerrissen zwischen dem äußeren Schein und ihrem Verdacht. In letzter Konsequenz ist sie die einzig Sehende unter allen Blinden. Und ihr wirft man vor, sich alles einzubilden.

Loyalitäten von Delphine de Vigan

Vier Erzählperspektiven setzt Delphine de Vigan ein, um uns allwissend zu machen. Die Lehrerin, Théo, sein Freund Mathis und dessen Mutter kommen zu Wort. Methoden und Sichtweisen wechseln sich ab. Direkt, indirekt, mittelbar und unmittelbar. Ein Spiel auf höchstem literarischen Niveau. Ein beharrlicher Kampf gegen die Loyalitäten, deren Folgen Leben kosten können. Selbstverrat und gekündigte Allianzen wären die einzige Rettung. Der Blick hinter die Kulissen könnte das Schlimmste verhindern. Die Zeit läuft gegen die Lehrerin, weil man auch ihr gegenüber nicht loyal ist. Schwer zu verkraften. Besonders, wenn man eine eigene Vergangenheit mit sich schleppt, in der Missbrauch an der Tagesordnung war. Ein gebranntes Kind versucht Kinder vor dem Flächenbrand zu bewahren.

Ein wichtiges Buch über Entfremdung innerhalb von Familien. Ein Meisterwerk zu den Problemfeldern Trennungskinder und falsch verstandene Loyalität. Ein Roman, der dem Leser Kadavergehorsam abfordert, weil man sich ihm nicht entziehen kann. Väter sollten sich ein dickes Fell zulegen, bevor sie „Loyalitäten“ lesen. Dem Roman liegt ein desaströses Vaterbild zugrunde. Ein Bild, mit dem ich nur schwer zurechtkam, weil ich für mich zeitlebens versucht habe, die Folgen von Verrat und Illoyalität gegenüber der eigenen Familie zu bekämpfen. Dieser Roman liegt schwer auf meinem Denken. Man sollte ihn lesen, wenn man mit dem Gedanken spielt, eine Ehe zu beenden. Man sollte ihn lesen, wenn man sie bereits beendet hat und sich einbildet, mit den gemeinsamen Kindern sei alles in Ordnung. Man sollte ihn lesen, wenn man mal wieder einem Lehrer unterstellt, er sähe Gespenster. Man sollte ihn auch dann lesen, wenn all dies nicht der Fall sein sollte. „Loyalitäten“ ist ein Weckruf. Ein empathisches Frühwarnsystem gegen alle Folgen des Verrats. Er ist ein Früherkennungssystem für eine verstörte Psyche, die sich zum Kampf erhebt und sich auflehnt. Dieser Roman kann Leben retten.

Loyalitäten von Delphine de Vigan

Paris in meinem Lesen

Das Leben des Vernon Subutex“ – Virginie Despentes
Das Mädchen, das in der Metro las“ – Christine Féret-Fleury
Die Schönheit der Nacht“ – Nina George
Ein Ire in Paris“ – Jo Baker
Dann schlaf auch du“ – Leïla Slimani

und viele weitere Titel, die unter dem unter dem Schlagwort „Paris“ zu finden sind.

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„Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Es ist DIE allgegenwärtige Frage im Dialog mit Schriftstellern.

„Wie autobiografisch ist Ihr Roman?“ Eine Frage, die auch ich oft gestellt habe und immer wieder in Interviews einfließen lasse, um zu den Hintergründen ihres Schreibens und zu den wahren Motiven vorzustoßen, die einen Autor dazu veranlassen, bestimmte Themen aufzugreifen und sie literarisch zu verdichten. Viele Autoren verstecken sich in diesem autobiografischen Ansatz hinter einem fiktionalen Deckmantel, um sich und die Menschen zu schützen, über die sie schreiben.

Was geschieht jedoch mit einer Schriftstellerin, die ihre Deckung verlässt und so ihren Lesern, den Kritikern und allen Menschen, die in ihren Büchern vorkommen eine breite und ganz persönliche Angriffsfläche bietet? Kann ein autobiografisch angelegter Roman zum tiefen Loch mutieren, aus dem man selbst nicht mehr rauskommt? Gehört man der Öffentlichkeit, wenn man diese Grenze einmal überschritten hat und wie findet man zurück zum befreiten Schreiben, nachdem man in den Augen der Welt gläsern und nackt auf dem Präsentierteller der Literatur steht?

Delphine de Vigan weiß ein Buch darüber zu schreiben, weil sie ein Lied davon zu singen weiß. Nach einer wahren Geschichte, erschienen bei DuMont, thematisiert genau diese Aspekte des Schreibens. Der Titel lässt auf etwas real Erlebtes schließen. Nur die kleine Einschränkung „Nach“ öffnet die Tür zur Fiktionalisierung und bietet der Autorin die Chance, ihre Spuren in ihrem neuen Buch ein wenig zu verschleiern. Genau dies scheint schon nach dem Lesen der ersten Seiten zwingend erforderlich, denn wir treffen auf eine Schriftstellerin, die seit zwei Jahren nicht mehr schreiben konnte. Kein Wort, kein Satz. Nichts fand mehr seinen Weg nach draußen.

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Wir treffen auf Delphine de Vigan selbst, die völlig verunsichert und demoralisiert ist, sich in ihre kleine Welt hinter hohen Mauern zurückgezogen hat und an den Folgen des letzten Buches zu knabbern hat. Zu offen hat sie sich wohl über ihre Familie geäußert, zu intensiv hat sie die angeblich schmutzige Wäsche ihrer Mutter in aller Öffentlichkeit gewaschen und zu wenig hat sie wohl darüber nachgedacht, wie sehr dieses Buch jene Menschen verletzt, die als Verwandte der populären Schriftstellerin klar in Erscheinung treten. Und doch musste diese Geschichte erzählt werden. Sie musste einfach raus. Zu viele Fragen hatte der Selbstmord ihrer Mutter aufgeworfen. Das Buch war ein Muss.

Dass sie anschließend an dieser Stelle nicht mehr weiterschreiben konnte, war Delphine de Vigan nicht klar. Lesungen, Buchmessebesuche und die Konfrontation mit Verwandten machten ihr jedoch schnell klar, dass sie zu weit gegangen ist. Seitdem ist das Schweigen ihr ständiger Begleiter. Es ist mehr als eine Schreibblockade. Delphine verstummt, wenn es darum geht, neue Ideen zu Papier zu bringen. Diese Schockstarre hält an, bis sie eines Tages einer Frau begegnet, die ihr Leben verändert.

L. tritt wie ein Phantom in ihr Leben. L. interessiert sich für die Delphine hinter den hohen Mauern der selbst verordneten Isolation und L. findet in vielen Gesprächen den Schlüssel zur Seele der Autorin. Von diesem Moment an vollzieht sich die schleichende Entwicklung, die man als „Feindliche Übernahme“ bezeichnen kann. L. schmeichelt sich ein, gewinnt das Vertrauen von Delphine, ergründet die Ursachen der Schreibblockade, gibt Ratschläge und wird zur einzigen und besten Freundin der tief verunsicherten Frau. Delphine hat L. nicht viel entgegenzusetzen. Sie liegt am Boden, als L. immer tiefer in sie vordringt.

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Der Prozess des Eindringens in die Persönlichkeit von Delphine vollzieht sich in psychologischen Etappen, die faszinierend und abschreckend zugleich sind. L. scheint einem geheimen Plan zu folgen, ist zielstrebig und unbeirrbar. Ihr Ziel scheint es zu sein, Delphine dazu zu bewegen, weiterzuschreiben. Und zwar genau dort, wo sie in ihrem letzten Buch aufgehört hat. Reales, nicht Fiktionales. Einen Schritt weiter soll sie gehen. Nur Reales hat Eier! Und Fiktion ist was für Feiglinge. Um sich diesem Ziel zu nähern schreckt L. vor nichts zurück.

Sie wird zur einzigen Vertrauten, schottet Delphine von der Außenwelt ab und ist zunehmend dominant, wenn es darum geht, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. L. schleicht sich ein, zieht in Delphines Wohnung und übernimmt Aufgaben, zu denen sich die Autorin selbst nicht in der Lage sieht. Der Annexion folgt zwangsläufig das WIR. L. verschmilzt mit der Gedankenwelt von Delphine und übernimmt die Kontrolle. Auf diese Verschmelzung folgt die Verdrängung und die Übernahme der Identität. L. wird zur Schriftstellerin Delphine de Vigan und tritt auch in der Öffentlichkeit so auf.

Ebenso schleichend, wie dieser Prozess erfolgt, beginnt Delphine zu ahnen, was ihr geschieht und sie nimmt den inneren Kampf gegen die Kontrahentin auf. Aus Vertrauen wird Zweifel, aus Hilfe formt sich Bedrohung und so realisiert die Autorin, dass sie sich auf verlorenem Posten bewegt. Ist es zu spät, sich von L. freizumachen? Wird Delphine de Vigan in bester Stephen-King-Manier zum Opfer einer Fremden? Ist es noch möglich, den Weg zum eigenen Ich zu finden und was bleibt dann übrig? Wird die Schriftstellerin zum Opfer ihrer Zweifel und letztlich bleibt die größte aller Fragen:

Wer hat „Nach einer wahren Geschichte“ geschrieben? Delphine oder L.?

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

„Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan ist ein wahres Manifest des aktiven Lesens. Die Autorin nimmt ihre Leser mit in eine tief angelegte und sehr persönliche Reflexion über Beweggründe, Intentionen und Irrwege, die das Leben von Schriftstellern kennzeichnen. Dabei greift sie nicht ins Leere, wenn sie über Blockaden, Bedrohungen und Fluchten in Erfundenes schreibt. Das „letzte Buch“, das hier für alles ursächlich erscheint, hat es wirklich gegeben. „Das Lächeln meiner Mutter“ war ihre autobiografische Annäherung an den Selbstmord ihrer Mutter. Und genau damit setzt sie sich in der eigenen Familie zwischen alle Stühle:

„Über seine Familie zu schreiben, ist wahrscheinlich die sicherste Methode, mit ihr in Streit zu geraten… Das spüre ich an der Spannung. Und meine Gewissheit, dass ich sie verletzten werde, beunruhigt mich mehr als alles andere.“

Diese Entdeckung ist einer der wahren Aha-Momente meines Lesens. Delphines Schreiben setzt sich logisch nachvollziehbar fort und beide Bücher gehören, wenn auch durch Verlage getrennt, zusammen wie literarische eineiige Zwillinge. Die Reihenfolge ist für Fans der Autorin vorbestimmt. Wer „Nach einer wahren Geschichte“ neugierig geworden ist, kann heute zu dem bei Droemer erschienen Taschenbuch greifen und Das Lächeln meiner Mutter in den Kontext des Gesamtwerks von Delphine stellen. Und glaubt mir, die Neugier wird siegen. Allzu faszinierend sind die Einsichten, die uns hier literarisch gewährt werden.

Künftig sollte man sich die Frage „Wie autobiografisch ist Ihr Roman“ jedenfalls gut überlegen. Vielleicht öffnet man nur die Büchse der Pandora! Vorsicht!

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte“ ist ein unglaublich intensiver Roman, der auch unter Berücksichtigung der Vorgeschichte als autobiografische Spiegelung der Realität daherkommt. Und doch muss man Delphine den Freiraum des Fiktionalen einräumen. L. zu erkennen, ihrer eigenen Identität auf die Spur zu kommen, das ist die Challenge, der sich alle Leser dieses Buches stellen müssen. Investigatives Lesen geht hier mit dem hohen literarischen Unterhaltungswert eines Buches mit Déjà-vu-Erlebnissen Hand in Hand.

Man begegnet nicht nur Delphine de Vigan. Sie bricht eine literarische Lanze für ihre Kollegen und vermittelt ungeschönt die Verletzlichkeit einer Autorenseele. Letztlich ist dieses Buch eine Liebeserklärung an das geschriebene Wort, weil es den Prozess der Wortfindung vor dem Hintergrund der Öffentlichkeit beschreibt, die auf jede Schwäche eines Schriftstellers lauert. In psychologischer Hinsicht ist es eine Geschichte über den drohenden Kontrollverlust und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Identität und Selbsterkenntnis. Eine gewagte und gelungene Konstruktion, die sich im Gedächtnis des Lesers tief verankern wird.

Und ganz zuletzt ist es eine Begegnung, auf die ich lesend lange gewartet habe. Vor vielen Jahren war ich in einen Roman von Delphine de Vigan verliebt, der mich zu einer Gratwanderung zwischen der behüteten Welt eines jungen Mädchens und einem Leben als Obdachlose auf den Straßen entführte. No & ich hat mich als Vater sehr bewegt und diese Geschichte hallt bis heute in mir nach. Und ja, ich habe auch meine alte junge Freundin Lou Bertignac wiedergefunden.

Danke für diese bewegenden Momente, Delphine de Vigan & L.

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

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So liebe ich mein Lesen – Eine Radioreportage zu diesem Buch

Blogger lesen anders. Wir kommen anders zu einem Urteil. Vieles hat nichts mit dem zu tun, was man in einer Rezension lesen kann und vieles bleibt im Verborgenen. Mein Leseweg zu Delphine ist mir eine Reportage für Literatur Radio Bayern wert, weil es nicht nur mein Weg ist, der sich hier niedergeschlagen hat.

Gemeinsames Lesen mit vielen Menschen, eine intensive Recherche bei Droemer und DuMont, sowie ein tolles Gespräch mit Irmgard Veit zum Lächeln meiner Mutter bilden den Kern dieser Reportage. Und nicht zuletzt erlaube ich mir im Radio etwas, das in Bloggerkreisen einem Sakrileg gleicht: 

Einen Spoiler, aber nicht unverhofft und sicher nicht ohne Vorwarnung. Genau hier geht es zur Reportage.

Nach einer wahren Geschichte - Eine Radio-Reportage

Nach einer wahren Geschichte – Eine Radio-Reportage