Sie ist eine der ganz Großen der französischen Literatur: Delphine de Vigan. Ihre Romane haben mein Lesen verändert, meine Wahrnehmung geschärft und gehören zu den wichtigsten Wegmarken in meiner kleinen Bibliothek. Sie hat „Loyalitäten“ von mir eingefordert, „Das Lächeln meiner Mutter“ zur Kunstform erhoben und es im Roman „Nach einer wahren Geschichte“ in ihr Leben als Schriftstellerin gespiegelt. Was für mich vor vielen Jahren mit „No & ich“ begann, setzt sich nun mit „Dankbarkeiten“ fort. Das Buch trägt mein persönliches Gefühl gegenüber der kreativen Lebensleistung von Delphine de Vigan in seinem Titel. Ich empfinde Gratitudes, Dankbarkeiten für jedes einzelne Wort aus ihrer Feder. Ein Gefühl, das sich erneut steigern sollte….
Während Delphine de Vigan in ihren bisherigen Büchern eher komplex angelegte und in sich verwobene Geschichten erzählte, besticht sie in „Dankbarkeiten“ durch die klar definierte und einfache Struktur ihres Erzählraumes. Man ist schnell drin in der Erzählung, freundet sich rasant mit den drei Protagonisten an, und wird von einem Plot aufgesaugt, der ein Unterbrechen des Lesens nicht erlaubt. Empathisch und gefühlvoll entführt uns Delphine in den letzten Lebensabschnitt einer Dame, deren Beruf sich dem Wort verschrieben hatte. Korrektorin bei großen Magazinen war sie. Wortgewaltig und präzise in ihren Formulierungen. Und jetzt? Im hohen Alter wird sie von einer Krankheit eingeholt, die sie besonders trifft. Aphasie. Der Verlust des Sprechvermögens.
Madame Seld, oder nennen wir sie einfach Michka, ist keinesfalls dement. Es sind die Worte, die verschwinden. Begriffe des täglichen Lebens, die plötzlich nicht mehr zu ihrem vormals reichhaltigen Sprachschatz gehören und die sie jetzt durch ähnliche oder gleichlautende zu ersetzen versucht. Michka hat Angst, fühlt, dass etwas zerreisst und, dass der Zustand in dem sie sich nun befindet unumkehrbar ist. Rücksichtsvoll lesen wir ihr die Worte von den Lippen ab, versuchen ihr auf die Sprünge zu helfen, um ihr das Gefühl zu vermitteln, sie immer noch gut zu verstehen. Sie selbst ahnt jedoch, dass ihr nicht nur die Worte entgleiten. Es ist das ganze Leben, das verschwindet.
Es ist Marie, eine junge Frau, die sich Michka verpflichtet fühlt, die nun die Reißleine zieht und die alte Dame davon überzeugt, dass ein Seniorenheim der sicherste Platz für die schwierige Lebensphase wäre. Abschied nun nicht mehr nur von Worten. Abschied vom gewohnten Umfeld, von der eigenen Wohnung und den Gegenständen, die sie ein Leben lang begleitet haben, all dies sorgt bei Michka für Albträume und das Gefühl, in einem Strudel zu versinken. Jerome, der Logopäde des Altenheims, wird als Therapeut mit der alten Dame konfrontiert und nun ist er gefordert, die Reste des Sprachschatzes zu bewahren und weitere Verluste zu verhindern. Die Übungen beginnen.
Aus dieser Dreierkonstellation gestaltet Delphine de Vigan ihren Erzählkosmos, in dessen Zentrum ein Fixstern namens Dankbarkeiten hell leuchtet. Eine junge Frau, in deren Leben viele offene Fragen toben und die nicht weiß, wie sie Michka danken soll. Ein Therapeut, der bevorzugt mit alten Menschen arbeitet, um einen ungelösten Konflikt zu kompensieren und die alte Dame, die am Ende des Lebens kaum noch die richtigen Worte findet, um die großen offenen Fragen der Vergangenheit zu beantworten. Es gibt noch einen letzten Wunsch, den man ihr erfüllen kann. Ihre Dankbarkeit zu übermitteln und den Menschen, die ihr einst das Leben gerettet haben zu zeigen, dass Michka sie nie vergessen hat.
Delphine de Vigan schreibt sich in die zunehmende Sprachlosigkeit der alten Dame hinein, als würde sie selbst in Aphasie versinken. Es ist beklemmend zu lesen, wie viele Worte sich verabschieden. Es ist ein brillanter literarischer Kunstgriff, der uns Michka trotzdem verstehen lässt, weil wir schnell fühlen, was sie eigentlich sagen will. Und es ist der alles überstrahlende Charakter der alten Dame, der sie zur eigentlichen Akteurin in diesem Roman macht. Nein, sie ist nicht vergesslich. Im eigentlichen Sinne ist sie es, die ihre beiden letzten Wegbegleiter therapiert. Hier ist es die fast sprachlose Michka, die ihr letztes Pulver verschießt, um ihre Dankbarkeit zu zeigen. Unglaublich emotional.
Delphine de Vigan richtet unsere Antennen neu aus, sie stellt uns auf Empfang und zeigt deutlich auf, wie wichtig ein aufrichtiger Dank sein kann. Wann haben wir uns bei jemandem bedankt, der mehr für uns getan hat, als es zu erwarten gewesen wäre? Wie haben wir uns bedankt und gibt es noch „Dankbarkeiten„, die wir noch nicht erwiesen haben? Diese Fragen bleiben uns Lesenden am Ende dieses unglaublich bewegenden Buchs. Das Ringen um gemeinsame Zeit mit uns nahestehenden Menschen mag eine der wesentlichen Triebfedern sein, um Verluste zu vermeiden. In Wahrheit jedoch geht es um die Qualität dieser Zeit, bevor alles endet. Diese Lektion überstrahlt dieses Buch.
Eine tiefe Hommage an die Dankbarkeit. Eine Hommage an Therapeuten, die sehen wann die Schlacht verloren ist und trotzdem weiter kämpfen. Ein großer Roman gegen die Selbstverständlichkeit von kleinen und bedeutenden Gesten. Dieses Buch ist nicht beliebig. Es ist in jeder Nuance besonders und bleibt haften. Wie es der Übersetzerin Doris Heinemann hier gelungen ist, der französischen Sprachlosigkeit zur Wortgewalt zu verhelfen, ist grandios. Ihrem Sprachschatz haben wir zu verdanken, dass Delphine de Vigans Originalvorlage mit Sprachwitz und Gewandtheit in der deutschen Ausgabe so harmonisch umgesetzt wurde.
Am Ende erwartet uns eine Begegnung, die von einer besonderen Sprache geprägt ist. Auch hartgesottene Leser sollten sich mit Taschentüchern wappnen, denn hier ist es die große Delphine de Vigan, die ihre Geschichte mit einem sprachlichen Knalleffekt ins Ziel bringt. Das muss man lesen, um es nachfühlen zu können. Das muss man auf sich wirken lassen, um den Hoffnungsschimmer am Ende der „Dankbarkeiten“ ganz tief zu verinnerlichen. Madame Seld zu vergessen, wird nicht gelingen. Vielleicht hilft ja ihr Roman dabei, uns dann ein bisschen Halt zu geben, wenn wir mit Menschen konfrontiert werden, denen ein dramatischer Verlust droht. Sei es Sprache oder Erinnerung. Sei es körperliche Gesundheit oder emotionaler Schaden. Ja, dieser Roman öffnet Horizonte.
„Der vergessliche Riese“ von David Wagner und „Dankbarkeiten“ gehen Hand in Hand durch mein Lesen. Der empathische Umgang mit alten Menschen und die Würde, die ihnen durch diese Geschichten zurückgegeben wird sind unverzichtbare Elemente einer Gefühlslage, die in einer immer gefühlloser werdender Zeit abhanden kommt. Ich bedanke mich für diese Bücher.