Es war ein kalter, grauer und glanzloser Tag, an dem der neu gewählte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Joe Biden, seinen Amtseid sprach. Es war Mittwoch, der 20. Januar 2021, an dem sich ein neues Amerika präsentierten wollte, um der Welt zu zeigen, dass die Amtszeit von Donald Trump nun auch formal beendet war. Wenige Tage nach der Erstürmung des Capitols durch enttäuschte Anhänger, und aufgewiegelt durch den umstrittenen Populisten, sollte dieser Tag deutliche Signale der Normalität im Umgang mit Menschen aller Hautfarben, jeder Religion und Herkunft aussenden, damit der Ruck des Neubeginns weltweit spürbar sein würde. Hoffnungen begleiteten den Tag und selten zuvor waren so viele Augen auf den neuen Präsidenten gerichtet. Selten im politischen Washington jedoch war die Szenerie einer Inauguration derart gespenstisch, weil die weltweite Corona-Pandemie statt Hunderttausender Zuschauer nur einen Wald aus schweigenden Fahnen als stumme Zeugen zuließ.
Es war eine angespannte Atmosphäre, die alles dämpfte, was hier auf den entehrten Stufen des Repräsentantenhauses gesprochen wurde. Selbst die Rede von Joe Biden wollte nicht richtig zünden, selbst das demonstrative Fernbleiben des Vorgängers trug nicht zur Entspannung bei. Es fühlte sich trotz der erhofften Befreiung nicht an, wie der Befreiungsschlag, den diese geschundene Demokratie so dringend benötigte. Es fühlte sich nicht an, wie die Naht, die eine zerrissenen Nation zusammenführen, vereinen und verbinden konnte. Wo blieb das Signal an die Welt? Wo war der Paukenschlag? Hatten die „Make Amerika Great Again„-Ambitionen so viel zerstört? War die Unsicherheit so groß, dass selbst die neue Regierung sich noch nicht frei bewegen wollte. Ein Land in Fesseln. Dieses Gefühl drängte sich mir auf. Ich war sprachlos. Bis. Ja, bis eine junge Frau zuerst das Podium mit ihrer Präsenz und dann die Welt mit ihren Worten eroberte.
Amanda Gorman.
Ich denke, niemand, der diesen Moment miterlebt hat, wird dieses Mädchen jemals vergessen können. Niemand, der auch nur ein leises Gefühl für historische Momente in sich trägt, wird leugnen können, dass hier etwas wahrhaftig Großes geschah. Die junge Dichterin Amanda Gorman erhob die Stimme und beschwor alle Geister, die wir schon verloren geglaubt hatten. „The Hill We Climb“ lautet der Titel des Gedichts, das sie mit Herz, Stimme, Mimik und Gestik vortrug. Ein Gedicht, das an Poetry Slam erinnerte, in sich sehr festlich, getragen und doch keine Spur pathetisch war. Auch, wenn man nicht fließend Englisch sprach, erschloss sich der Inhalt auf der Emotionsebene. Ein Gedicht, der leisen Zwischentöne, der Wortspiele und der grenzenlosen Hoffnung. Eine Frau, die sich den Strömungen des Zeitgeistes entgegenstellte und mit ihrer Zerbrechlichkeit eine Wand gegen Nationalismus, Unterdrückung und Hass vor dem Capitol errichtete. Nach der Amtseinführung von Präsident Biden war klar, wer hier die lebenswichtigen Akzente gesetzt hatte und es war auch klar, dass dieses Gedicht lange nachhallen würde.
Was dann jedoch geschah, war erschreckend für mich. Als es darum ging, den Text in die Welt zu tragen, die Zeilen zu übersetzen, sie nachhaltig auch jenen zugänglich zu machen, die keine Englisch-Native-Speaker waren, entbrannte ein Streit darüber, wer in aller Welt berufen sein könnte, und dürfte, diese Übersetzung zu wagen. Was? Ich war entsetzt. Es ging hier nicht um die Deutungshoheit der Zeilen. Es ging nur noch darum, dass weltweit jeder Übersetzer, jede Übersetzerin ein bestimmtes Profil erfüllen müsste, um sich des Gedichtes würdig zu erweisen. Es ging nicht darum, wer es am besten zu können versprach. Darf ein weißer Mann, dessen Leben nicht durch Ausgrenzung und Rassismus eingegrenzt wurde, es wagen, diesen Text zu übertragen? Ach bitte. Diese Frage ist ebenso obsolet, wie der Gedanke, ob ich es denn wagen dürfte, das Gedicht auf meinem Blog zu rezensieren. In dieser Diskussion ging der Inhalt dessen verloren, was uns Amanda Gorman so euphorisch zugerufen hatte. Wer die Zukunft bewältigen will, muss zuerst die Differenzen beseitigen.
Also lassen wir doch mal die Kirche im Dorf und schauen uns die zweisprachige Ausgabe des Gedichtes vom Hoffmann und Campe Verlag an.
Da hat uns die charismatische Dichterin Amanda Gorman am Tag der Inauguration von Präsident Joe Biden berührt, bewegt, aufgerüttelt, zu Tränen gerührt und geflasht. Ihr Gedicht „The Hill We Climb“ hat Eruptionswellen losgetreten, die bis zu uns spürbar waren. Eine andere Welle war unbeabsichtigt. Wer darf dieses Gedicht übersetzen? Ein Streit der vieles überlagerte. Lasst das Capitol auf seinem Hügel. Das Übersetzerinnen-Team Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşai hat mehr als nur den Versuch gewagt, sich dieser Herausforderung zu stellen und sie zu meistern. Wer sich jemals mit einer Übersetzung eines Gedichtes aus einer anderen Sprache ins Deutsche beschäftigt hat, weiß wie schwierig es ist, ein solches Unterfangen zu bewältigen, ohne von der Kritik an die Wand genagelt zu werden. Versucht es doch einfach selbst mal mit den Poetry-Slams von Julia Engelmann. Was will ein Übersetzer erreichen? Will man sich zur Konkurrenz eines Künstlers erheben und auf der Bühne gar noch besser sein als das Original? Nein. Das ist nicht die Intention. Es geht um die Annäherung an einen Text. Es geht um ein besseres oder gar erstes Verständnis des Textes, um Zugang und das Einreißen sprachlicher Barrieren. Das ist dem Team der Übersetzerinnen gelungen. Ich verstehe ihre Übertragung des Gedichtes als Annäherung, nicht als Versuch, selbst damit die Bühnen der Welt zu erobern. Die Ehrfurcht vor dem Original lässt kaum einen anderen Schluss zu.:
Amanda Gorman zu übersetzen ist, als würde man den Flügelschlag eines Engels mit dem einer Taube synchronisieren. Man hört ihn vielleicht und fühlt sogar, wie der Aufwind entsteht, aber es fehlt die Magie des Unbegreiflichen, die diese Flugbewegung zu einem ikonischen Ereignis werden lässt. (Aber hört doch selbst zu…)
Und nun betritt das „kleine dünne schwarze Mädchen„, die Nachfahrin von Sklaven, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die Träumerin und sprachgewaltige Künstlerin, die nicht nur eine Nation bewegte, eine neue Bühne und lässt ihrem Gedicht ein Buch folgen, an dem man nicht vorbeikommt. „CHANGE. Eine Hymne für alle Kinder“, so lautet der Titel eines Bilderbuches, zu dem Amanda Gorman den Text und Loren Long die farbenfrohen Illustrationen beigesteuert haben. Versetzen wir uns noch einen ganz kleinen Moment auf die Stufen des Capitols und denken an die junge Dichterin, die dort stand und dem Establishment der alten weißen Männer den Marsch blies. Dann gehen wir einen Schritt weiter und träumen davon, diese Botschaft von Gleichheit und Mut zur Veränderung wäre für Kinder greifbar. Seid Ihr noch bei mir? Denn jetzt sind wir genau da angekommen, wo uns die junge Künstlerin haben wollte. Jetzt können wir im Klang ihres Gedichts und im Wissen um ihre Hoffnungen mit unseren Kindern ein Bilderbuch öffnen, dessen Botschaft nicht einfacher klingen kann. Change. Jeder kann die Welt verändern. Egal, woher man kommt, wie alt man ist, wie reich die Eltern sind und wo man aufgewachsen ist. Man muss es nur tun.
So können wir „The Hill We Climb„ und „Change„ als literarisches Tandem sehen, auf dem sich Groß und Klein gemeinsam in eine Welt ohne Vorurteile lesen. Im selben Tempo, in die richtige Richtung und im gemeinsamen Takt.
Dieses Buchtandem funktioniert, weil der Erwachsene am Lenker sitzt, das Gedicht vom Capitol als emotionales Navigationssystem in sich trägt und sich nun anschickt, mit dem eigenen Nachwuchs in die Zukunft zu fahren. Change, die Veränderung wiegt dabei nicht viel. Das Buchtandem nimmt an Fahrt auf und wer beiden Geschichten hilft sich zu entwickeln, wird später einmal feststellen, dass man die Rollen tauschen kann. Denn sehr bald werden unsere Kinder das Lenkrad übernehmen und dann kommt es darauf an, welchem inneren Kompass, welchem Navigationssystem sie folgen. Ich hätte mir auch für das Bilderbuch eine zweisprachige Ausgabe gewünscht, da ich die Originalfassung sehr liebe. Man findet den englischen Text im Internet. Versucht es einfach mal, ihn parallel zu lesen. Er ist magisch. Naja und spätestens, wenn eure Kinder mal wieder ein Fußballspiel sehen, vor dessen Beginn die Spieler niederknien, um ein Zeichen gegen Rassismus in die Welt zu schicken, dann greift zum Bilderbuch. Hier findet Amanda Gorman die richtigen Worte für eine große Geste.
„Ich summe mit Hunderten Herzen
und jeder von uns reicht eine Hand.
Ich nutze meinen Verstand, meine Stärken,
beuge ein Knie für den Widerstand.“
Oder in der Originalfassung:
„I hum with a hundret hearts,
Each of us lifting a hand.
I use my strengths and my smarts
Take an knee to make a stand.“
Wer auch hier die Übersetzerinnen-Diskussion führen möchte, dem lege ich nahe, sich meine Gedanken zur Intention des Übersetzens erneut zu Gemüte zu führen. Die beiden Übersetzerinnen von „CHANGE„, Joy Denalane (Musikerin und Soul-Sängerin) und Daniela Seel (Lyrikerin und Übersetzerin) haben eine kindgerechte Anverwandlung des Originals geschrieben, die dem gemeinsamen Verändern unserer Welt Tür und Tor öffnen kann.
Und nun heißt es „Den Hügel hinauf„, „The Hill We Climb“ und „Change„…
Danke Amanda Gorman für die inspirierenden Flügelschläge.