Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Olive Schreiner - Die Geschichte einer afrikanischen Farm - Astrolibrium

Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Er kommt so harmlos und idyllisch daher, dieser Roman. Er spricht uns bereits in den Momenten an, in denen wir ihn betrachten, berühren und ganz plötzlich von ihm in Assoziationen verwickelt werden, die sich ausbreiten, wie ein Flächenbrand. Es ist der Titel dieses Buches, der uns träumen lässt. Es ist der Titel, der Erinnerungen an einen Roman weckt, der zum Lebenswegbegleiter und Wegweiser in unserem Lesen wurde. Es sind Bilder, die wir sehen, ohne auch nur eine einzige Zeile gelesen zu haben. „Die Geschichte einer afrikanischen Farm“ von Olive Schreiner lässt uns sofort an einen Roman denken, der so autobiografisch und authentisch war, wie man es sich wünscht. Ein Buch, das mit einem emotionalen Satz beginnt, den wohl jeder Buchliebhaber dem Werk zuordnen kann, zu dem er gehört. „Ich hatte eine Farm in Afrika„.

Es war Tania Blixen, die uns in ihre afrikanische Welt entführte. Sie beschrieb ein Land im Würgegriff der Kolonisatoren, erlebte die Unterdrückung der Einheimischen und wurde selbst zum Teil eines Systems, das auf Ausbeutung ausgerichtet war. Aber sie lernte und setzte sich ein, korrigierte die vorherrschenden Bilder von ungebildeten und naiven Schwarzen, lehnte sich auf und verließ die Farm, um in der fernen Heimat über ihre Zeit auf dem geheimnisvollen Kontinent zu schreiben. „Jenseits von Afrika“ wurde zum Synonym für starke Literatur starker Frauen, die ihrem Rollenbild zu einer Zeit den Rücken kehrten, in der ihnen sogar der Zutritt zu den Clubs der feinen Herren verwehrt wurde. Ich schrieb viel über Tania Blixen. Ihr verdanke ich meine Idee, eine ganze Artikelreihe unter der Überschrift „Ich hatte einen Blog in Afrika“ zu schreiben. Hier, am Fuße der Ngong-Berge begann meine Auseinandersetzung mit jener fatalen Unterdrückung, dem Rassismus und der Apartheid auf dem damals dunklen Kontinent.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Natürlich war mir klar, dass ich in Olive Schreiners Roman keine Spuren jener Farm finden würde, an die ich mich im Titel erinnert fühlte. Was mich umso mehr reizte, mir dieses Buch genauer anzuschauen, war die Zeitepoche, in der es angesiedelt ist. Weit vor den ersten Spuren einer Tania Blixen, die von 1914 an mehr als 17 Jahre in Kenia lebte, erleben wir hier die Kapkolonie Karoo, die wir als das heutige Südafrika kennen. Hier hatten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Buren bereits etabliert und ihre Kolonisation von Teilen Afrikas als abgeschlossen betrachtet. Sie sahen sich nicht als Kolonialherren. Nein, sie gingen so perfide vor, dass sie sich aufgrund der Zeit, in der sie sich hier breitgemacht hatten, als Einheimische betrachteten. Die Minderheit hatte sich über die Mehrheit der Ureinwohner erhoben und sprach nun von ihrem Land. Der Machtanspruch war total.

Fast so total, wie die Macht, die Tant` Sannie für ihre Farm beansprucht. Sie hat hier die Hosen an, sie ist reich und umworben und ihr Besitz ist so weitläufig, wie es ihr Körperumfang vermuten lässt. Hier, auf der afrikanischen Farm, siedelt Olive Schreiner ihre Geschichte an. Wir lernen Sannies Stieftochter Em kennen, die dieser im Umfang in nichts nachsteht und freunden uns mit Sannies Nichte Lyndall an, einer Waise, die sich im Verlauf des Romans zur eigentlichen Hauptfigur mausert. Diesen Frauen steht eine ambivalente Männerwelt aus Verwaltern und Freiern gegenüber. Sie sind begehrt und stehen im Mittelpunkt des Interesses. Als ein gewisser Bonaparte Blenkins in der korpulenten Sannie das perfekte Opfer für seine unehrenvollen Absichten sieht, macht er der Besitzerin des Hofes den Hof und bringt alles durcheinander. Das bekommt der deutsche Aufseher Otto als erster zu spüren. Die treue Seele der Farm wird plötzlich zum Ziel der manipulativen Angriffe des Neuankömmlings. Als sich auch noch Sannie dazu verleiten lässt, ihren Aufseher zu schikanieren, bricht die Welt für ihn und seinen Sohn Waldo in sich zusammen.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Dieses Setting aus Reichtum, Brautwerbung und Betrug steckt den Rahmen der Handlung ab, in dem sich die beiden Mädchen Em und Lyndall kaum entfalten können. Dabei könnte alles so harmonisch sein. In Waldo finden sie nicht nur einen aufrechten Freund, sondern einen jungen Mann, dessen Tiefgang und Lebensfreude ihn zu mehr machen würde, wenn es die Umstände auf der Farm nur möglich machen würden. Als sich die Willkür auf Waldo ausweitet, stehen die Zeichen auf Trennung. Das Herz reißt in diesen Momenten der Ungerechtigkeit. Die Wege der beiden Mädchen trennen sich und finden nie wieder zusammen. Waldo verlässt die Farm. Jeder Schritt fühlt sich an, wie ein schmerzhafter Abgesang. Gerade in der aufflammenden Liebe für Lyndall hätte so viel Potenzial gelegen. Nicht nur für den jungen Waldo. Und so beginnt langsam der Abgesang auf die Menschen der Farm, die man als Leser liebgewonnen hatte.

Ein dramatischer und tragischer Roman in einem Szenario, das uns fesselt. Was sich hier auf den ersten Blick wie ein einfach konstruierter Roman anfühlt, weist für die Zeit seiner Veröffentlichung allerdings Charakteristika auf, die überraschend sind. Wir erleben in Lyndall eine zusehends selbstbestimmte Frau, die ihre Rolle selbst definiert und ihren Platz im Leben sucht. Wenn sie sagt, dass sie keinen Mann kennt, der sich ein Leben als Frau vorstellen kann und, wenn sie von der Benachteiligung der Frauen von Geburt an spricht, dann ahnt man, welche Sprengkraft in dem 1883 erschienenen Roman verborgen ist. Emanzipation war das nicht nur literarische Nogo dieser Zeit. In Lyndall jedoch zeigen sich erste Spurenelemente späterer Suffragetten. Hier wird klar, warum Olive Schreiner das männliche Pseudonym Ralph Iron verwendete, damit ihr Buch überhaupt veröffentlicht werden konnte. Eine skandalöse Geschichte.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Hier lohnt sich der Blick von Kate auf diesen Roman. Wie sieht die moderne Frau von heute diesen emanzipatorischen Aspekt der Geschichte? Wie empfindet sie diese Annäherung an ein Afrika, das sie selbst erlebte und liebt? Und nicht zuletzt, was sagt eine bekennende Blixen-Liebhaberin zu dieser afrikanischen Farm? Ihr KateView

Eine afrikanische Farm - KateView - Astrolibrium

Eine afrikanische Farm – KateView

Ich hatte eine Farm in Afrika… Ach nein, das war ein anderes Buch. Mein Lieblingsbuch. Mein Lebensbuch. Würde Olive Schreiner da mithalten können?

Zumindest schaffte sie es leicht mit ihren lebendigen Worten die Bilder meines Afrikas vor meine Augen zu rufen. Ich fühlte, roch, sah und hörte mit den eindrücklich gezeichneten Figuren, lernte Em, Lyndall, Waldo kennen und mögen. Ich litt, lachte und weinte mit ihnen. Und dann plötzlich lag die Farm hinter uns. Und alles veränderte sich. Lyndall erschien wieder auf der Bildfläche und schien völlig aus der Zeit gefallen. Was uns heute so normal erscheint, passte in die damalige Zeit so überhaupt nicht hinein.

Als ob sich ein Schwan in einen Ententeich verirrt hat oder ein Schmetterling zwischen Raupen. Und so nahm die Tragik ihren Lauf, denn wo das enden würde, ja musste, legten die Umstände ganz klar fest. „Es muss ein Jenseits geben, weil wir uns nicht vorstellen können, dass unser Leben einmal zu Ende geht.“ Wenn einer gegangen ist, kann der Andere nicht mehr sein. Und der Letzte bleibt zurück.

Auch wenn es kein Blixen ist, lasen wir hier ein packendes Buch. Liebe, Emanzipation, Glaube, all das finden wir in diesem Buch, Sprengkraft zwischen den Zeilen sozusagen. Und durchaus lesenswert.

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Olive Schreiner – Die Geschichte einer afrikanischen Farm

Ein kritisches Wort zum Schluss. Olive Schreiner verwendet Begriffe, die man heute nicht mehr gerne in Romanen lesen würde. Wenn sie rassistische und diskriminierende Bezeichnungen für die schwarze Bevölkerung, wie Kaffir, Nigger oder Hottentot wählt, die auch in der vorliegenden Neuübersetzung von Viola Siegemund verblieben sind, hat dies einzig den Grund, das Machtgefüge in der Kapkolonie Karoo zu verdeutlichen. Wir dürfen diese Begriffe nicht weichspülen, weil dadurch der Charakter dieser rassistisch untermauerten Weltsicht verändert würde. Für mich jedoch sollte man dies nicht in der editorischen Notiz im Nachwort hervorheben. Hier, und genau hier, muss man sich im Vorwort an den Leser wenden und die Begrifflichkeiten in die heutige Unsäglichkeit im Kontext unserer Zeit einordnen. Und wenn ich schon beim Nachwort bin, nein, ich halte das Nachwort aus der Feder von Doris Lessing für eher ungeeignet für einen Roman, der in seinen Begrifflichkeiten nicht mehr zeitgemäß wirkt.

Ihr Nachwort stammt aus dem Jahr 1968 und ist deutlich in die Tage gekommen. Gerade in Bezug auf die wichtigen emanzipatorischen und damit zeitgemäßen Aspekte des Romans wäre es wünschenswert gewesen, hier ein aktuelles Nachwort zu wählen. Und in einem wichtigen Kernargument widerspreche ich Doris Lessing deutlich:

„Dann musste ich einsehen, dass, wenn man nach den Regeln verfährt, denen wir jedes Jahr tausend gute, wenn auch belanglose Bücher verdanken, wenn wir ihn also an seinen Figuren und seiner Handlung messen,… „Die Geschichte einer afrikanischen Farm“ kein guter Roman ist…“

Ich widerspreche deutlich, oder neudeutsch gesagt: Hier macht der Rezensent von seinem Remonstrationsrecht gegen ein Nachwort Gebrauch!

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P.S. Auch bei Constanze lese ich auf Zeichen & Zeiten diesen Widerspruch heraus.

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais – Astrolibrium

Es fällt schwer, in diesen Tagen über Rassismus zu schreiben, impliziert dieser Begriff doch die Existenz der Bezeichnung Rasse„, wenn es um die Beschreibung einer ethnischen, sozialen oder territorialen Herkunft von Menschen geht. Dabei gibt es keine menschlichen Rassen in der Definition genetischer Abstammungslinien. Herkunft ist gänzlich frei von einem Rasse-Begriff, den wir eigentlich nur in Züchtungslinien von Tieren oder bei der Unterscheidung von Arten im Tierreich finden sollten. Und doch ist dieser Begriff immer noch salonfähig, in unserem Grundgesetz verankert und Teil einer Weltgeschichte, die umgeschrieben werden müsste, sollte man das Wort Rasse durch einen alternativen Begriff, wie zum Beispiel „ethnische Herkunft„, ersetzen.

Warum müsste man Geschichte umschreiben? Weil man alle Verletzungen gegen den humanistischen Denkansatz der Gleichbehandlung aller Menschen mit dem Wort Rasse in Verbindung bringt. Es gibt Rassenunruhen, Rassentrennung und für jene, die sich in ihrer Lebensphilosophie als höherwertig empfinden und bereit sind, andere zu unterdrücken, auszugrenzen oder gar zu ermorden, hat man den passenden Begriff „Rassist“ in die Welt gesetzt. Ich bleibe bei dieser Bezeichnung, weil es nur so gelingt, diejenigen zu brandmarken, in deren Denken die Reinrassigkeit der Herkunft wichtiger ist, als die Würde eines jeden Menschen. Rassismus darf nicht weichgespült werden. Auch, wenn wir uns von der Verwendung längst überholter Begriffe trennen, sollten wir in unserem Urteil gegenüber den selbsternannten Herrenmenschen eindeutig bleiben. Rassismus ist eine Geißel der Gesellschaft. 

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais - Astrolibrium

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais führt uns ohne jeden Umweg in ein Land, in dem die weiße Minderheit ein System der Apartheid errichtet hatte, das noch heute unfassbar erscheint. Besonders, weil es sich so lange hielt, und erst seit 1994 der Geschichte angehört. Zumindest auf dem Papier. Rassentrennung. Kein anderer Begriff ist in der Lage zu definieren, wie sich das Leben in Südafrika für die herrschenden Weißen und die ausgegrenzten, unterdrückten und benachteiligten Schwarzen angefühlt haben muss. Die ehemaligen europäischen Kolonisatoren haben ein Gedankengut zu sozialem und faktischem Recht erhoben, nach dem nur sie in der Lage sein konnten, das Land zu regieren. Die für minderwertig erklärte Urbevölkerung Südafrikas wurde entmündigt und durch das System der Apartheid in ihre Schranken gewiesen.

Wer könnte diesen Zustand besser beschreiben als eine Autorin, die in Südafrika aufgewachsen ist? Wer könnte das besser beschreiben, als eine weiße Autorin, die in der eigenen Kindheit der privilegierten Schicht angehörte und die von einem schwarzen Kindermädchen großgezogen wurde? Wer könnte sich besser in jene indifferente Lage eines weißen Mädchens hineinversetzten, für das die Rassentrennung zum Leben und zum Alltag gehörte? Bianca Marais wagt nicht nur den Sprung in eine autobiografische Vergangenheit. Sie verarbeitet in ihrem Roman ihre eigene Kindheit, in der doch alles so behütet und schön war, dass man gar nicht an das Unrecht dachte, auf dem dieser Zustand beruhte. Bianca Marais sagt selbst, dass die neunjährige Robin ihres Romans sehr viel mit ihr selbst gemeinsam hat.

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Wir schreiben das Jahr 1976 und befinden uns in Johannesburg. Die Apartheid führt zu heftigen Unruhen und der Schüleraufstand von Soweto ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Was als gewaltloser Protest schwarzer Schüler in den Townships begann, setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, in deren Folge nicht nur der Protestmarsch von den Weißen brutal beendet wird. Das Chaos bricht aus und die Polizei schießt in die Menge. Gerüchte über tote Schulkinder lösen die nächste Welle der Gewalt aus. In den folgenden Tage werden nicht nur wahllos schwarze Schüler von der Polizei inhaftiert, auch die schwarze Bevölkerung greift zu den Waffen. Die blutigen Unruhen fordern auf beiden Seiten zahllose Tote. Der Schüleraufstand wird noch heute als der Wendepunkt in der Apartheidpolitik in Südafrika angesehen. Dieser Impuls war nicht mehr einzudämmen.

Die neunjährige Robin verliert ihre Eltern, die aus Rache für die Gewalt der Weißen ermordet werden. Das behütete Mädchen ist in einer Familie aufgewachsen, in der die Rassentrennung alltäglich vorgelebt wurde. Schwarze wurden hier umgangssprachlich heftig ausgegrenzt. Beleidigungen waren alltäglich. Privilegiert lässt es sich gut leben. Wenn dann jedoch erste Risse im selbstherrlichen System auftreten, und man nur zur Minderheit im Land gehört, dann wird es eng, auch wenn diese Minderheit die Macht verkörpert. Revolutionen schreiben hier ihre ganz eigene Geschichte. Während Robin bei ihrer mit der Situation überforderten Tante Zuflucht findet, wendet sich unser Blick den eigentlichen Opfern des Schüleraufstandes zu. Hier verschwindet Nomsa bei den Protesten. Die schwarze Vorzeigeschülerin gehört zu den Anführerinnen des Marschs und niemand weiß etwas darüber, ob sie tot, inhaftiert oder geflohen ist. Nur ihre Mutter Beauty Mbali beginnt eine verzweifelte Suche am Ort des Geschehens.

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Die Wirren dieser Tage führen diese beiden Menschen zusammen. Das elternlose Mädchen und die Mutter, die ihre Tochter nirgendwo finden kann. Hier verschwimmen die Grenzen, die zuvor von der Hautfarbe gezogen waren. Hier nähern sich Menschen aneinander an und fassen Vertrauen. Hier gibt Beauty die Geborgenheit, die Robin so sehr vermisst und Robin ihrerseits erweist sich als Rettungsanker für die verzweifelte Beauty Mbali. Ist das nur ein Burgfrieden mit begrenzter Lebensdauer? Wann brechen die Vorbehalte und Ressentiments auf? Wie lange kann das gutgehen und wie sehen die Menschen aus dem unterschiedlichen Umfeld diese Allianz? Eine Situation, deren Ausgang von Seite zu Seite des Romans ungewiss ist und bleibt. Einzig hilfreich kann eine Überlebensstrategie sein, die Robin verinnerlicht hat. Egal wie fremd einem das Leben erscheint, egal wie schwer einem alles fällt. Wo man sich wohlfühlt, sollte man Wurzeln schlagen. „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ wird zu Robins Mantra. Als Beautys Tochter gefunden wird, trifft Robin eine fatale Entscheidung.

Ein lesenswerter Roman, der durch seine Perspektivwechsel besticht. Wir finden keine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere, sondern blicken tief in ihr Innerstes. Bianca Marais schafft die Apartheid in ihrem Buch von Seite zu Seite ab und stellt in den chaotischen Zuständen dieser dramatischen Epoche zwei Menschen ins Zentrum ihres Romans, die aufeinander angewiesen sind. Dieses Lied habe ich mitgesummt, obwohl ich seinen Text nicht kannte. Gerade für jugendliche Lesende ein relevantes Buch, in dem Schüler*innen erkennen können, was es bedeutet, ausgegrenzt und zu minderwertigen Menschen erklärt zu werden. Das fängt mit der Bildung an und wenn jungen Menschen in der Schule verboten wird, die eigene Muttersprache zu sprechen, dann muss man auf die Straße gehen. Widerstand ist keine Frage der Zurückhaltung.

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais - Astrolibrium

Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Ein bewusstseinserweiterndes Buch zum Thema „Apartheid“ und ein Buch, das uns dazu verleitet, uns intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Auch wenn dieser Roman aus meiner Sicht mit dem Handlungsstrang einer Zwillingsschwester von Robin ein wenig überfrachtet war, ist es der Autorin gelungen, Grenzen zu überwinden, deren Folgen bis heute spürbar sind. Wie nachhaltig hat sich Südafrika gewandelt? Was hat Nelson Mandela in seinen zentralen Botschaften des gewaltlosen Widerstandes nicht nur für sein Land hinterlassen. Eine aktuelle Reportage im MARE-Magazin „Zeitschrift der Meere“ stellt die Frage, wem heute die Strände in Südafrika gehören und ob man die alten Schilder „Whites Only“ wirklich für alle Zeiten entfernt hat. Geschichtlich ist die Apartheid überwunden. In den Köpfen der Menschen spielt sie immer noch eine Rolle. Wunden heilen nicht so schnell, wie wir es uns erträumen würden.

In meiner Artikelserie „Ich hatte einen Blog in Afrika“ finden sich viele Bücher, die nicht nur auf diesem facettenreichen Kontinent spielen. Es sind viele Bücher, die in uns Bilder verankert haben, wie sehr die Narben der Kolonisatoren noch heute wuchern. Es ist nie zu spät, die Ursachen des heutigen Black Lives Matter dort zu suchen, wo ihre Geschichte begann. Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung beginnen in Afrika. Ihre Folgen spüren wir weltweit. Dem Rassismus müssen Grenzen gesetzt werden. Dazu ist es wichtig, auch solche Bücher ins Gefecht führen zu können. Sie sind gewaltlose und doch höchst effektive Waffen im Kampf gegen den Rassismus…

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Summ, wenn du das Lied nicht kennst von Bianca Marais

Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki - Astrolibrium

Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Da willst du einfach nur mal alleine sein und mit dir ins Reine kommen. Da wartest du mehr als 25 Jahre darauf, eine Reise zu beenden, die du in einem früheren Leben unter tragischen Umständen abbrechen musstest. Da willst du der vergangenen großen Liebe deines Lebens zugleich hinterher weinen, ein Denkmal setzen und dich von den Albträumen befreien, die dich seitdem heimsuchen. Da willst du im fernen Afrika zu dir selbst finden und den Reset-Knopf drücken. Da willst du auf dem Gipfel des höchsten Berges des dunklen Kontinents um all das trauern, was dir auf dem Herzen liegt. Und dann das. Du bist nicht allein.

Gut, es war davon auszugehen, dass du nicht der einzige Mensch sein wirst, der es wagt, den Kilimandscharo zu besteigen. Eine Übernachtung jedoch in der Höhe von fast 6000 Metern am Rande des Reusch Kraters, die sollte doch bitte exklusiv nur dir vorbehalten sein. Das war der Plan. Alles schien perfekt bis Hans einen roten Punkt in der Gegend des Kraters entdeckte. Und nicht nur das. Zelte, Träger und Ausrüstung gehörten zu dem wild rumhüpfenden Punkt, der sich als waschechter Urbayer namens Tscharlie vorstellt. Mit einem fröhlichen „Lecko mio“ zerreißt er die Stille am Krater in tausend Teile und macht die Trauma-Verarbeitungspläne von Hans zunichte.

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Nun gut, man könnte auf Distanz gehen. Könnte, wäre da nicht ein Schneesturm der über dem Dach von Afrika ausbricht und den weltoffenen, höflichen Hanseaten mit dem bärbeißigen, sarkastischen Bayern ohne Anstand und Respekt zusammenschweißt. Es klingt nach dem stereotypen Zusammenprall der Kulturen in einem fremden Kulturraum. Klingt jedenfalls nicht nach dem Titel des Romans „Das kann uns keiner nehmen“ von Matthias Politycki, in dem die Geschichte von Hans und Tscharlie erzählt wird. Es klingt nach lustigen landsmannschaftlichen Verwerfungen, nach spaßigem Konfliktpotenzial in schwindelerregender Höhe. Preuße und Bayer in Lebensgefahr und in einer Seilschaft des Grauens an- und miteinander verbunden. Klingt so. Ist es aber ganz und gar nicht.

Matthias Politycki gelingt mit seinem aktuellen Roman etwas, das man dem Buch weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick zutrauen würde. Er bringt seine Protagonisten in auswegloser Situation zusammen, reibt die beiden Charaktere intensiv aneinander, bis sie ihre äußeren Schalen verlieren und den Kern ihrer Wesen in einem Umfeld offenlegen, das ihnen scheinbar feindlich gesonnen ist. Ein polyglotter und sehr empathischer Roman, in dem Politycki literarisch verarbeitet, was er selbst in Afrika am eigenen Leib erfahren hat. Dass wir es im weitesten Sinne mit Verarbeitungsliteratur zu tun haben, wird von Seite zu Seite klarer. Was in lustigen Scharmützeln zwischen zwei ungleichen Menschen beginnt, gewinnt in zunehmendem Maß an Tiefgang. Und genau dieser Tiefgang führt auf Umwegen zum Romantitel „Das kann uns keiner nehmen.“

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Dabei gelingt Politycki mit seiner Figur des Tscharlie eine absolute Skurrilität in der Literaturlandschaft. Die scheinbar rassistische und menschenverachtende Haltung, die er den Menschen des Landes gegenüber zur Schau trägt, entpuppt sich als einzig wahrer Zugang zu ihren Herzen. Das muss man selbst erlesen haben, um es begreifen zu können. Tscharlie ist die Verkörperung des lockeren in den Tag Hineinlebens. Er ist kein Tourist, kein Erbe der Kolonisatoren, er begegnet allen Menschen gleichermaßen und gewinnt ihre Zuneigung im Sturm. Seine Sprache, seine persönliche Direktheit und sein Humor sind die Zeltstangen unter denen man sich beruhigt hinlegen kann. Hans ist verwundert, und scheitert hanseatisch kühl mit seiner Herangehensweise. Tscharlie ist ein wahres Gottesgeschenk in den Ländern, durch sie sie nun gemeinsam reisen. Von Tansania bis Sansibar ziehen sie ihre Spuren. Und das aus guten Gründen.

Beide haben Geheimnisse voreinander. Beweggründe hier zu sein. Motive für ihre Reise auf den Kontinent, der immer mehr zum Sehnsuchtsort mutiert. Es wird zu dem Afrika, das ich von Tania Blixen kenne. Es wird zu dem Kontinent, in dem Menschen füreinander einstehen und es ist doch ein zerrissenes Universum der Armut. Politycki gibt dem Kontinent Raum, sich in unserer Wahrnehmung zu entfalten. Er zeigt Gründe für Flucht auf und thematisiert die verheerenden Bürgerkriege, die in Ruanda um sich griffen. Es ist kein Zerrbild von Afrika, in das wir uns hineinlesen. Es ist literarisch ein ganz großer Wurf. Besonders in dem Moment, in dem das gesamte Buch zu kippen beginnt. In dem Moment, in dem Tscharlie und Hans ihre Geheimnisse lüften. Es wird Zeit, sich auf den Tiefgang vorzubereiten, für den der lustige Auftakt den roten Teppich ausgelegt hat…

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

„Das kann uns keiner nehmen“ wird zu einem anderen Buch, nachdem Hans und Tscharlie die Hosen heruntergelassen haben. Mit jeder Faser des Herzens schlägt man sich als Leser auf ihre Seite, man folgt atemlos ihren Erzählungen aus einem früheren Leben und man kann keine Pausen mehr einlegen im Lesen. Es sind Geschichten von Verlust, Trauer, Trennung, Krankheit und es sind tiefe Einschnitte, die offene Wunden in den Herzen der beiden Männer hinterlassen haben. Diese gemeinsamen Erlebnisse sind Wegbereiter einer großen Entwicklungsgeschichte, die dazu führt, dass aus zwei ungleichen Menschen ein Team wird. Matthias Politycki lässt an der Plausibilität seiner Erzählung keinen Zweifel aufkommen. Wer sich mit seiner Vita beschäftigt wird Muster dieses Romans in seinem Leben finden. Und doch gelingt ihm sein Schreiben wohl nur in der literarischen Distanzierung durch die Fiktionalisierung seines Stoffes.

Tscharlies flotte Sprüche erhalten vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung und wir verstehen ihn gut, wenn er sagt, dass „die Sehnsucht eine Hure ist“. Beide Männer vereint ein berührendes Frauenbild. Sie sind Heilige und doch vom anderen Stern. Sie sind jedes Opfer wert, auch wenn es die Selbstaufgabe bedeutet. Sie rücken tief ins Zentrum dieses Romans vor. Es sind zwei Frauen, denen wir in Erzählungen der beiden Männer begegnen. Es ist die Zeit der großen Beichten, der offenen Fragen und es ist die Zeit für Schlussstriche, die irgendwann gezogen werden müssen. Hier bleibt kein Auge trocken. Hier gelingt Matthias Politycki ein Twist, der uns auf Umwegen tief ins Herz trifft. Der Traum vom einfach SO-SEIN trägt durch diesen Roman. Wir ahnen, dass dieser Traum ein Traum bleiben musste. Emotionaler geht es nicht.

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Viele schöne Zitate begleiten mich nach dem Lesen in mein Leben. Zitate, die nicht nur für diesen Roman, sondern auch für das Leben selbst stehen. Wohldosiert hat der Autor sie in seinen Text gemischt. Und doch strahlen sie deutlich heraus. Wenn wir Kiki und Mara im Buch begegnen, dann immer mittelbar und indirekt. Und trotzdem gibt es eine Stelle im Text, die uns auf sie vorbereitet:

„Wenn man eine Frau wahrnimmt, muß es eine Distanz gegeben haben!“

Wahrnehmen im Sinne von für wahr nehmen. Das funktioniert in diesem Roman. Ich bin fasziniert und nach dem gemeinsamen Lesen mit einem wichtigen Menschen fällt es mir nicht schwer, den Romantitel über dieses nachhaltige Erlebnis zu stellen: Das kann uns keiner nehmen!

Mehr Afrika auf AstroLibrium: „Ich hatte einen Blog in Afrika„…

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

„Die Hungrigen und die Satten“ von Timur Vermes

Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

Es wäre lustig, wenn es nicht so maßlos traurig wäre. Timur Vermes hat ein feines Händchen, wenn es gilt den Finger tief in die Wunden der breiten öffentlichen Meinung zu legen. Er hat mit „Er ist wieder da“ bewiesen, dass seine Utopie eines untoten und wieder auferstandenen Führers Adolf Hitler (so skurril die Ausgangssituation auch ist) geeignet war, dem Publikum einen literarischen Brocken zum Fraß vorzuwerfen an dem es schwer zu knabbern hatte. Sein Roman war Zerr- und Spiegelbild der Gesellschaft. Er polarisierte und regte zu lautstarken Diskussionen an. Und spätestens mit dem Film zum Buch explodierte das Pulverfass unter dem Schriftsteller, weil man es gewagt hat, die Filmadaption um spontane Realbilder zu erweitern, die beim Dreh entstanden sind.

Ein umjubelter (verkleideter) Führer, dem man gerne vor laufender Kamera sagte, es sei mal wieder an der Zeit, dass jemand richtig aufräumt in diesem unserem Land. Sehr schwer verdauliche Kost, die er uns da vorsetzte. Gut nur, dass man sich immer wieder einreden konnte, dass es sich hier um eine satirisch überhöhte Gesellschaftsutopie mit Format handelte. Gedankenspiele, sonst nichts. Die Aufregung legte sich schnell. Aber vergessen haben wir diesen Spiegel nicht, den er vielen Menschen vor Augen gehalten hat. Dafür war das Zerrbild, das wir dort erkannten zu brutal und beängstigend. Als mir nun sein neuer Roman den Weg versperrte, war mir klar, dass ich keine Schonkost zu erwarten hatte. Dass mich dieses Buch noch mehr aufwühlen sollte, als die Parodie auf das braune Schreckgespenst, das konnte ich mir nicht vorstellen. Irrtum…

Timur Vermes bei AstroLibrium

Die Hungrigen und die Satten“ – Timur Vermes – Eichborn Verlag

Unschuldig kommt es daher, das harmlos scheinende Buch mit weißer Weste. In Wahrheit jedoch ist es ein ebensolcher Wolf im Schafspelz, wie sein Vorgänger. Schon der Klappentext lässt mich nervös aufhorchen. Ein Flüchtlings-Roman aus seiner Feder und nicht nur das. Auf dem Siedepunkt der Ankerzentren- und Abschiebediskussion, zu einem Zeitpunkt der Definition von Obergrenzen und dem mehrmaligen Fast-Scheitern der Regierung an dieser Thematik, im Augenblick des Grenzschließungshypes und der steigenden Hysterie angesichts der drohenden Überfremdung, genau jetzt, dieses Buch von Timur Vermes. Das kann nicht gut gehen. Gar nicht gut.

Besonders dann nicht, wenn Timur Vermes sich erneut an einer Utopie versucht, die gar nicht so utopisch ist, wenn man sich die Grundidee seines neuen Romans ganz langsam durch den Kopf gehen lässt. Wir befinden uns im „Nach-Merkel-Deutschland“, und noch immer mittendrin in der lebhaften Diskussion, wie man der Flüchtlingskrise zu begegnen hat. Nun gut, die Grenzen sind inzwischen fast geschlossen, Europa hat sich hermetisch abgeriegelt und die ehemals so beliebten Flüchtlingsrouten sind weitgehend verwaist. Es ist kein Reinkommen mehr und so entstehen zwangsläufig riesige Lager in Afrika, in denen hunderttausende von Flüchtlingen nun schon seit Jahren leben. Dieses Szenario beschreibt Timur Vermes so plausibel, dass selbst der gewiefteste Soziologe nichts an der Logik auszusetzen hätte, der er nun in seinem Buch Raum verschafft.

Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

Wenn also die Flüchtlinge jenseits der Sahara festsitzen, wenn die Schlepper nicht mehr an ihnen verdienen können, wenn sich Europa in Sicherheit wähnt und die Politik mit wichtigeren Themen beschäftigt wird, dann ist der Zeitpunkt gekommen, diesen ach so beschaulichen Frieden mit einer Zündschnur zu versehen und einer wahren Heldin des Alltags das Feuerzeug in die Hand zu geben, um die Lunte anzuzünden. Hier greift Timur Vermes auf die Realität zurück und führt uns vor Augen, welche Macht Bilder auf uns ausüben können. Und wo es was zu verdienen gibt, da ist das Privatfernsehen mit seinen intellektuellen Zuschauern nicht weit. Was also, wenn die Moderatorin einer TV-Sendung nach dem Muster „Helfer mit Herz“ ein solches Lager besuchen würde? Nicht nur so, sondern für eine Reportage, eine kleine Doku-Soap vor Ort, um die Schicksale der Flüchtlinge zuhause auf den Bildschirm zu bringen? Auftritt Nadeche Hackenbusch.

Eine charismatische Moderatorin, die Timur Vermes als Hybrid aus Vera Int-Feen, Margarete Schreinemakers und Désirée Nosbusch in unser Lesen schreibt. Was also, wenn der dunkle Kontinent mit einer solchen TV-Rampensau mit missionarischem Eifer konfrontiert wird? Was, wenn die Einschaltquoten ins absolut Utopische steigen? Was, wenn die Moderatorin dort auf einen attraktiven afrikanischen Flüchtling trifft, der die Chance beim Schopf (und Nadeche gleich mit dazu) packt, um endlich abhauen zu können? Was, wenn diese Liaison zwischen dem „Engel in Elend“ und dem Flüchtling das mediale Interesse ins Unermessliche steigen lässt? Und was, wenn genau dieser Flüchtling nur noch eine Chance für sich sieht, Europa zu erreichen? Der gemeinsame Marsch der Hunderttausende setzt sich in Bewegung. Real und live im Fernsehen.

Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

Timur Vermes spielt brillant mit allen sozial-politischen Automatismen, die uns in diesem Moment einfallen. Er wechselt seine Perspektiven und beleuchtet alle Seiten mit unbestechlicher Scharfsichtigkeit. Die Politik, die verleugnet, ignoriert, aussitzt und viel zu spät bemerkt, was da auf sie zurollt. Die Fernsehmacher, die zuerst nur Quoten und Euros sehen, und dann nicht mehr in der Lage sind, die Reißleine zu ziehen. Das Volk, das einerseits süchtig am Fernseher klebt und echtes Mitleid empfindet, um dann im nächsten Moment mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ auf die Straße zu ziehen. Presse und Kolumnisten flankieren das Geschehen. Und dies alles, während der Marsch sehr gut organisiert auf dem Landweg Richtung Europa zieht.

Mittendrin die Moderatorin und ihr Geliebter. Mittendrin und nicht unreflektiert. Eine Entwicklungsgeschichte, die in Entwicklungsländern beginnt und ein Szenario skizziert, das nicht weit hergeholt scheint, weil man niemanden mehr von weit herholt. Man liest, lacht, schaudert, liest wieder, schüttelt ungläubig den Kopf und gelangt wieder an eine Stelle, die so unglaublich plausibel scheint, dass es fernab jeder Utopie zu sein scheint, was sich hier abspielt. Timur Vermes spielt mit unseren Vorurteilen, mit Ressentiments und Vorbehalten. Er hält uns erneut den Spiegel vor, den wir gerne beschlagen lassen würden, um das Bild nicht zu deutlich zu sehen. Er legt uns Daumenschrauben an und zieht sie von Seite zu Seite enger. Wir wollen schreien. Wir wollen lachen. Und doch ist da im Herzen der Geschichte so viel Wahres, dass wir am liebsten kotzen würden, weil wir schon so nah an der Realität der Verdrängung sind.

Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

„Die Hungrigen und die Satten“ ist für die Satten geschrieben. Unter dem schönen Schein unserer Wohlfahrtsgesellschaft sind es die reinen Egoismen, die dieser Roman auf dem Korn hat. Ob wir schon zu satt sind, um die Message zu verstehen? Ob wir in vielen Situationen selbst erkennen, zu was die Abschottung eines Kontinents führt? Ob wir uns selbst dabei ertappen, dass wir uns Angst vor Überfremdung und Islamisierung einreden lassen, während wir gleichzeitig vor dem Fernseher sitzen und Mitleid mit den Menschen empfinden, die schön weit weg von uns ihr Schicksal ertragen? Sind wir zu bequem geworden? Ist unser Ruf #wirsindmehr noch zeitgemäß? All diese Fragen wirft Timur Vermes auf, als würde er uns mit dem Müll unserer Ausflüchte ersticken wollen.

Eine bitterböse Satire, bei der jeder Lacher im Hals des Lesers krepiert. Utopisch vielleicht, aber längst nicht so utopisch, wie ein lebendiger Reichsführer. Ein Bild einer Zukunft, an der wir heute gestalten und die wir heute mitbestimmen können. Dabei ist Timur Vermes unglaublich scharfsichtig und voller Fantasie. Wenn er in Anbetracht des Romans allerdings gerade die Politik beobachtet, dann muss er sich eingestehen, dass der Staatsekretär, den er im Innenministerium erfunden hat, von der Realität gerade in Sachen Kreativität überholt wird. Heute schreibt gerade die Politik die beste Realsatire. Aber Timur Vermes ist ihr dicht auf den Fersen.

Lesen… unbedingt…

Auch Heike von Irve liest schließt sich dieser Bewertung an. Da dampft es

Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

Nicht immer Utopie, keinesfalls Satire, immer lesenswert. Bücher statt Mauern!

U von Timur Vermes - Astrolibrium

U von Timur Vermes

Und weiter geht´s – Ungewöhnlich mit „U“ und einer besonderen Rezension

Bücher statt Mauern bei AstroLibrium

„Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ von Charlie English

Die Bücherschmuggler von Timbuktu von Charlie English

Es gibt tausend gute Gründe, ein Buch zu lesen. Unterhaltung, Spannung, Bildung, bibliophile Leidenschaft oder die intellektuelle Auseinandersetzung mit weltbewegenden Themen, denen man literarisch kaum entrinnen kann. Tausend Bücher gilt es zu lesen, um alle Facetten aufzuspüren, die das Lesen so wichtig machen. Ganz selten passiert es jedoch, dass ein einzelnes Buch jeden dieser tausend Gründe abdeckt. Wenn dies geschieht, hat man einen wahrlich großen Fund im Büchermeer gemacht und sollte ihn ganz besonders bewahren und schätzen. Heute schreibe ich über ein Buch, das alles bietet, was man sich von einem perfekten Leseabenteuer erhofft. Heute stelle ich euch ein Buch vor, das sich liest wie ein Roman, das sich so anfühlt wie ein Sachbuch und das die Atmosphäre eines großen Expeditionsberichtes verbreitet. Ein Buch, in dem ich las, stöberte, träumte und mit dem ich recherchierte. Ein Buch, von dem man denkt, es stamme aus der geheimen Bibliothek einer versunkenen Stadt.

Die Bücherschmuggler von Timbuktu„. Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes von Charlie English. (Hoffmann und Campe)

Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ von Charlie English

„Afrika hat vor der Ankunft der Europäer praktisch keine Geschichte…, da die Geschichte erst dann beginnt, wenn der Mensch zu schreiben anfängt.“ 

Diesen Worten des britischen Historikers A.P. Newton verdanken wir noch heute ein Bild vom afrikanischen Kontinent, das jahrhundertelang Ausgang jeden Denkens war, wenn es um die Vormachtstellung des ach so wohlmeinenden Weißen ging. Afrika war ein unbekannter blinder Fleck, den es zu entdecken und zu erobern galt. Afrika war nicht mehr als eine Landmasse voller Bodenschätze, jener Sehnsuchtsort für Entdecker und ein wichtiger Wirtschaftsraum für das expandierende Europa. Eines war der dunkle Kontinent jedoch nicht. Lebensraum gleichberechtigter Menschen. Afrika ist Quelle der Sklaverei. Afrika ist Heimstatt für Rassismus. Afrika ist Synonym für Unterentwicklung und Rückständigkeit seiner Bewohner. Afrika ist das perfekte Opfer zur Ausbeutung.

Viele dieser Vorurteile haben die Zeit überdauert. Entwicklungsländer und „Dritte Welt“. Klingelt da nichts in unseren alltagsrassistischen Ohren?

Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ von Charlie English

Was aber, wenn diese vorherrschende Meinung fehlender schriftlicher Zeugnisse erschüttert würde? Was, wenn sich in Afrika Manuskripte und Bücher finden würden, die der Möchtegern-Überlegenheit der weißen Kolonisatoren einen Riegel vorschieben könnten? Was, wenn man in Afrika nicht nur Reichtum, sondern Kultur finden würde? Was, wenn die legendäre Stadt Timbuktu nicht nur mit goldenen Dächern, sondern mit Bibliotheken aufwarten würde? Diesen Fragen widmeten sich ganze Generationen von Entdeckern. Die Geschichte dieser Forscher erzählt das vorliegende Buch. Es ist einer von zwei Perspektiv-Strängen, die uns Afrika und Timbuktu in neu erstrahlendem Licht erscheinen lassen. Es ist die Geschichte mutiger Männer und ihrer Expeditionen, die sie ins Herz von Afrika führten. Es ist die verlustreiche, tragische und meist tödliche Geschichte, die uns dieses Buch näherbringt.

Diese Geschichte ist wichtig für das Verständnis des zweiten Handlungsfadens derBücherschmuggler von Timbuktu“. Denn was man zwischen 1795 und 1855 in Afrika fand, war alles andere als purer Reichtum. Es waren schriftliche Quellen, deren Ursprung teilweise weit vor den ersten christlichen oder europäischen Aufzeichnungen datiert werden musste und die deutlich belegen, wessen Kultur hier fortgeschritten war!

Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ von Charlie English

Die lebendigen Expeditionsberichte entführen uns in eine längst vergangene Zeit und zeigen in der Aufarbeitung ihrer Ergebnisse durch die europäischen Zentren des Wissens, wie der Royal Geographic Society, dass sie letztlich doch nur dazu dienten, einen ganzen Kontinent zu unterjochen. Faszinierend beschrieben, mehr als schlüssig erklärt und unabdingbar für unser Verständnis des heutigen Afrikas. Parallel zu diesen Entdeckungen konfrontiert uns Charlie English mit den religiösen Abwegen, die sich nicht nur auf Afrika, sondern inzwischen auf die ganze Welt auswirken. Er erklärt die Kausalzusammenhänge zwischen Kolonisatoren und religiösem Fanatismus. Er bringt auf den Punkt, was heute in extreme Schieflage geraten ist. Er erzählt die Geschichte der Islamisten, denen nicht mal eigene schriftliche Überlieferungen, Manuskripte und Baudenkmäler heilig sind, wenn es darum geht ihre Macht auszudehnen. Er erzählt die Geschichte vom Krieg der Al-Quaida gegen die eigene Bevölkerung und er erzählt von Timbuktu und seinen Menschen, die sich mit aller Macht und unter Lebensgefahr gegen die Vernichtung ihrer überlieferten Geschichte wehren.

Diesen gefährlichen Weg mussten sie alleine gehen, denn die Hüter des Welterbes erklärten schlicht und ergreifend, dass Bücherschmuggel nicht zur Kernkompetenz der UNESCO gehören würde. So machten sich schließlich drei Männer und eine Frau auf den Weg, tausende Manuskripte und Bücher aus dem besetzten Timbuktu in Sicherheit zu bringen.

Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ von Charlie English

„Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ ist nicht nur ihre Geschichte. Es ist die Geschichte von Timbuktu, das als Sehnsuchtsort wie ein magnetischer Pol wirkte. Es ist nicht nur eine Geschichte. Es ist eine Ansammlung in sich geschlossener Kreise, die uns verstehen lässt, wo Fehlentwicklungen begonnen habe, was wir selbst verursacht haben und was der religiöse Wahn von Salafisten heute alles unter sich begräbt. Dies ist eine Geschichte, die man lesen sollte. Nicht nur wegen der Bücherschmuggler oder um Timbuktu besser zu verstehen. Es ist eine Geschichte, die in der Lage ist, uns vom hohen Ross zu holen, wenn es darum geht den Begriff „Dritte Welt“ zu verwenden und dabei das Gefühl von Überlegenheit zu empfinden. .

Es gibt tausend gute Gründe, ein Buch zu lesen. Ich habe euch vielleicht nur 597 genannt. Ich gehe jede Wette ein, dass ihr die restlichen 403 selbst entdecken werdet. Selten habe ich in einem derart spannend erzählten Buch so vieles gelernt. Dinge, die ich zu kennen glaubte und von denen ich letztlich keine Ahnung hatte. Charlie English gibt sich nicht mit Oberflächlichem zufrieden. Er geht in die Tiefe, erklärt, fabuliert und relativiert. Ihm zu folgen ist so leicht.

Kein wissenschaftliches Kunststück. Viel mehr ein absolutes Bravourstück… 

Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ von Charlie English

Mehr Afrika in der Literatur: Ich hatte einen Blog in Afrika„. Meine Lesereise zum dunklen Kontinent… Vielschichtig, facettenreich, romantisch, politisch… Afrika.

Afrika und AstroLibrium eine interkontinentale Vrbindung