1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Vor wenigen Wochen schrieb ich voller Vorfreude auf das neue Buch von Florian Illies 1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte und im Rückblick auf seine vorausgegangene Hommage an das Jahr 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts:

Vielleicht versteht man jetzt, worauf ich mich wirklich freue. Es sind die Seiten des Lesens neben diesem Buch, von denen ich jetzt noch keinen Schimmer habe, die mich aber vielleicht erneut verändern und prägen werden. Es sind Geschichten, auf die mich Florian Illies direkt stößt, während er mir indirekt ganz andere Wege weist. Ich möchte euch schon heute einladen, zurückzublicken, die Artikel von damals zu lesen und mich zu begleiten, wenn der Autor weitererzählt. Ich kann es kaum erwarten, mich wieder in das Jahr 1913 fallenzulassen. Ich kann es kaum erwarten, neue rote Fäden zu finden und sie zu einem Lesemuster zu vereinen. Ich werde das neue Buch lesen und hören. Ich werde wie von einem Wahn besessen sein und mich außerhalb der Geschichte auf Geschichten zubewegen, die ich jetzt noch nicht kenne. Wird das ein goldener Herbst.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Das Sequel „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ ist selbsterfüllende Prophezeiung und literarische Schicksalsfügung zugleich. Wenn man sich als Leser so verhält, dass sich die Vorhersage erfüllen kann, indem man eine positive Rückkopplung zwischen Erwartung und Verhalten an den Tag legt, dann findet man in der Fortsetzung des Bestsellers „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ das erhoffte Meisterwerk vor. Neugier, Wissensdurst, eine gesunde Portion Voyeurismus und die pure Lust am Lesen sind die besten Voraussetzungen, um sich erneut mit einem Jahr zu beschäftigen, das dem Lauf der Weltgeschichte nicht genug positive Energie entgegenstellen konnte, um zu verhindern, was nahezu unausweichlich schien. Ein Meilenstein-Jahr überbordender Revolutionen in den Bereichen Malerei, Musik und Literatur reichte nicht aus, das Feuer zu löschen, an dem 1914 die Fackeln des Ersten Weltkrieges entzündet wurden.

Ja, es gibt viel zu erzählen zu diesem letzten echten Sonnenjahr, bevor sich das 20. Jahrhundert fast dauerhaft verdunkelte. Und ja, Florian Illies hat noch so viel im Köcher seiner ausgezeichneten Beobachtungs- und Kombinationsgabe, was unbedingt noch erzählt werden musste. Er knüpft nahtlos an sein erstes Buch an, erweitert seinen Fokus auf bisher unerwähnte Zeitgeister und besticht erneut in der humorvoll brillanten Analyse und Verknüpfung individueller Lebenswege, die sich niemals kreuzten. Florian Illies verbindet scheinbar lose Enden eines Jahres miteinander, erzeugt Nähe, wo doch nur Distanz zu herrschen schien und erweist sich als literarischer Prophet für das, was unweigerlich kommen musste.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

„Am 1. Oktober (1913) war (Alfred) Lichtenstein als Einjährig-Freiwilliger in das Zweite Bayerische Infanterieregiment eingetreten. Und er hatte das mit dem „Einjährigen“ ernst gemeint. Er fällt am 25. September 1914, also genau ein Jahr später.“

Illies vermag es, sich zum Propheten zu erheben, weil er seinen Recherchen glaubt, und mit scharfen Blick auf die folgenden Ereignisse zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden weiß. Er nimmt seine Leser mit ins Boot und lässt ihnen genügend Raum für eigene Schlussfolgerungen. Ein formidables Spiel mit prominenten Lebenswegen im Kontext der großen Geistesströmungen und Sittenbilder einer einzigartigen Epoche. Es sind Skandale und Liebesgeschichten, die dem Jahr 1913 den Stempel aufdrücken. Es sind Erfindungen, die ihm Tempo verleihen. Es werden Loopings geflogen, Rekorde um Rekorde gebrochen, Konventionen zermalmt und kulturelle Grenzen überwunden. Der Tango erobert die Welt, Fliegerasse stürzen reihenweise ab und ebnen doch die Wege für die neue Wunderwaffe des Jahres 1914. Frauen zeichnen ein völlig neues Bild von sich selbst und abstrakte Maler zeichnen Frauen derart verfremdet, dass sie sich selbst nicht mehr erkennen. 1913 – Ein Jahr des Bildersturms.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Und ja, Rilke hat noch immer Schnupfen. Wer hätte anderes erwartet. Illies beglückt literaturbegeisterte Leser mit Anekdoten, Hintergründigem und Erzählenswertem zu den großen Schriftstellern dieser Zeit. Marcel Proust bringt Verleger und Lektoren mit einer sehr individuellen Form der Bearbeitung von Korrekturfahnen um den Verstand; Karen Blixen verlässt Rungstedlund und reist nach Afrika; Ambrose Bierce verschwindet am 26. Dezember mit dem Satz „Morgen werde ich gehen, und zwar mit unbestimmtem Ziel“ und die kommenden Klassiker, wie „Ulysses“, „Mann ohne Eigenschaften“, „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ oder „Der Zauberberg“, können das magische Jahr 1913 als Geburtshelfer in die Danksagung aufnehmen. Und der gute Arthur Schnitzler weiß schon jetzt kaum noch, welcher Frau er sich zuwenden soll. Die Sternwartestraße in Wien erlebt die wohl letzten ruhigen Tage vor dem Sturm, der Schnitzler heimsuchen wird. Seine Tochter Lili lebt noch. Er ist im vierten Akt seines Lebens. Der fünfte folgt.

In der Malerei wird es abstrakt. Franz Marc und viele „Art“-Genossen prägen das Bild der Zeit mit Bildern, die den Kunstbegriff über den Haufen werfen. Ich begegne meinen Wegbegleitern die mein Leben seit dem Jahrhundertsommer nachhaltig geprägt haben. Else Lasker-Schüler, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner sowie Gabriele Münter schlagen eine Brücke, über die Blaue Reiter galoppieren. Und all das  in einer wirren Zeit, in der sich Geld-, Hoch- und Kunstadelige gegenseitig in den Armen zu liegen scheinen. Das Leben ist abstrakt und rast auf eine Apokalypse zu. Sehenden Auges, angesichts der Aufrüstung in allen Ländern. Es mutet an wie ein Abgesang, den jeder anzustimmen vermag, der alte Feindbilder pflegt und neue Kunstbilder schon jetzt als entartet bezeichnet. Da sieht man das Unheil schon kommen.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Es ist ein besonders Buch. Es ist voller Geschichten, die unbedingt noch erzählt werden mussten. Die beiden 1913er von Florian Illies gehören zusammen und sollten nicht voneinander getrennt werden. Das signalisieren schon die Cover, die so viel mehr erzählen, als viele Geschichten dieses Jahres. Farbfotos, fast noch experimentell, aber doch schon so ausdrucksstark, dass sie eigene Welten zu bewahren scheinen. Sie sind beide aus der Hand eines Fotografen. Gesehen mit demselben Auge, fokussiert und für alle Zeit bewahrt. Und nicht nur das. Auf beiden Büchern gehen wir mit Edeltrude Kühn, der Tochter des experimentierfreudigen Lichtbildners Heinrich Kühn, in ein Jahr voller Widersprüche und Geschichten, die in diesen Fotografien ihre Entsprechung finden. Sie sollten die Geschichte hinter den Bildern selbst erlesen und gut darauf achten, wem sie künftig gestatten, Familienfotos zu machen. Amüsant und tragisch zugleich.

Ulrich Noethen verleiht der Hörbuchfassung zu 1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ eine ganz eigene Atmosphäre. Er mutiert zum Chronisten, der von Florian Illies durch dieses Jahr geführt wird. Noethen gelingt der Spagat zwischen einer teils sachlichen Schilderung von Ereignissen und der immer wieder sehr pointierten und scharfzüngigen Bewertung der Hintergründe mehr als brillant. Seine Stimme legt ihren sonoren Finger in die Wunde der Geschichte, an die sich niemand mehr erinnern kann. (Oder mag). Zuhören wird hier allemal zum aktiven Prozess, weil man seine Hände frei hat, um parallel zum Hörgenuss in den Büchern zu blättern, die das Jahr 1913 erwähnt, aufgreift oder berührt. Mehr kann man nicht wollen, wenn man sich unter Kopfhörern für ein paar Stunden abschottet, um eine Zeitreise zu unternehmen. Ein Genuss.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Jetzt ist sie komplett. Meine Begegnung mit dem Jahr 1913. Dabei gäbe es sicher noch so viel zu erzählen…

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Die Reise in ein besonderes Jahr
Das Blaue Pferd“ von Franz Marc… mit anderen Augen…
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Verwunschene Bilder
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – In memoriam Else Lasker-Schüler
1913- Der Sommer des Jahrhunderts geht weiter“ – Eine Hommage

Unter dem Schlagwort 1913 findet man alle Einflüsse auf mein heutiges Lesen…

Und Bernhard Jaumann mach den „Turm der blauen Pferde“ zum Kriminalfall für die Kunstdetektei von Schleewitz. Für Fans der blauen Pferde ein MUSS.

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies - Astrolibrium

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Jetzt, kaum drei Jahre nach meinen Lese-Erlebnissen im Jahr 1913, spannt Illies den Bogen weiter. Elf Jahre statt einem einzigen liegen seinem Buch zugrunde. Elf Jahre, die sich vielleicht auch zum Begriff eines letzten Sommers vereinen lassen, weil nach ihm ein umso längerer Winter folgte, als noch Jahre zuvor.

Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls – 1929 – 1939

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies