1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Vor wenigen Wochen schrieb ich voller Vorfreude auf das neue Buch von Florian Illies 1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte und im Rückblick auf seine vorausgegangene Hommage an das Jahr 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts:

Vielleicht versteht man jetzt, worauf ich mich wirklich freue. Es sind die Seiten des Lesens neben diesem Buch, von denen ich jetzt noch keinen Schimmer habe, die mich aber vielleicht erneut verändern und prägen werden. Es sind Geschichten, auf die mich Florian Illies direkt stößt, während er mir indirekt ganz andere Wege weist. Ich möchte euch schon heute einladen, zurückzublicken, die Artikel von damals zu lesen und mich zu begleiten, wenn der Autor weitererzählt. Ich kann es kaum erwarten, mich wieder in das Jahr 1913 fallenzulassen. Ich kann es kaum erwarten, neue rote Fäden zu finden und sie zu einem Lesemuster zu vereinen. Ich werde das neue Buch lesen und hören. Ich werde wie von einem Wahn besessen sein und mich außerhalb der Geschichte auf Geschichten zubewegen, die ich jetzt noch nicht kenne. Wird das ein goldener Herbst.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Das Sequel „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ ist selbsterfüllende Prophezeiung und literarische Schicksalsfügung zugleich. Wenn man sich als Leser so verhält, dass sich die Vorhersage erfüllen kann, indem man eine positive Rückkopplung zwischen Erwartung und Verhalten an den Tag legt, dann findet man in der Fortsetzung des Bestsellers „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ das erhoffte Meisterwerk vor. Neugier, Wissensdurst, eine gesunde Portion Voyeurismus und die pure Lust am Lesen sind die besten Voraussetzungen, um sich erneut mit einem Jahr zu beschäftigen, das dem Lauf der Weltgeschichte nicht genug positive Energie entgegenstellen konnte, um zu verhindern, was nahezu unausweichlich schien. Ein Meilenstein-Jahr überbordender Revolutionen in den Bereichen Malerei, Musik und Literatur reichte nicht aus, das Feuer zu löschen, an dem 1914 die Fackeln des Ersten Weltkrieges entzündet wurden.

Ja, es gibt viel zu erzählen zu diesem letzten echten Sonnenjahr, bevor sich das 20. Jahrhundert fast dauerhaft verdunkelte. Und ja, Florian Illies hat noch so viel im Köcher seiner ausgezeichneten Beobachtungs- und Kombinationsgabe, was unbedingt noch erzählt werden musste. Er knüpft nahtlos an sein erstes Buch an, erweitert seinen Fokus auf bisher unerwähnte Zeitgeister und besticht erneut in der humorvoll brillanten Analyse und Verknüpfung individueller Lebenswege, die sich niemals kreuzten. Florian Illies verbindet scheinbar lose Enden eines Jahres miteinander, erzeugt Nähe, wo doch nur Distanz zu herrschen schien und erweist sich als literarischer Prophet für das, was unweigerlich kommen musste.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

„Am 1. Oktober (1913) war (Alfred) Lichtenstein als Einjährig-Freiwilliger in das Zweite Bayerische Infanterieregiment eingetreten. Und er hatte das mit dem „Einjährigen“ ernst gemeint. Er fällt am 25. September 1914, also genau ein Jahr später.“

Illies vermag es, sich zum Propheten zu erheben, weil er seinen Recherchen glaubt, und mit scharfen Blick auf die folgenden Ereignisse zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden weiß. Er nimmt seine Leser mit ins Boot und lässt ihnen genügend Raum für eigene Schlussfolgerungen. Ein formidables Spiel mit prominenten Lebenswegen im Kontext der großen Geistesströmungen und Sittenbilder einer einzigartigen Epoche. Es sind Skandale und Liebesgeschichten, die dem Jahr 1913 den Stempel aufdrücken. Es sind Erfindungen, die ihm Tempo verleihen. Es werden Loopings geflogen, Rekorde um Rekorde gebrochen, Konventionen zermalmt und kulturelle Grenzen überwunden. Der Tango erobert die Welt, Fliegerasse stürzen reihenweise ab und ebnen doch die Wege für die neue Wunderwaffe des Jahres 1914. Frauen zeichnen ein völlig neues Bild von sich selbst und abstrakte Maler zeichnen Frauen derart verfremdet, dass sie sich selbst nicht mehr erkennen. 1913 – Ein Jahr des Bildersturms.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Und ja, Rilke hat noch immer Schnupfen. Wer hätte anderes erwartet. Illies beglückt literaturbegeisterte Leser mit Anekdoten, Hintergründigem und Erzählenswertem zu den großen Schriftstellern dieser Zeit. Marcel Proust bringt Verleger und Lektoren mit einer sehr individuellen Form der Bearbeitung von Korrekturfahnen um den Verstand; Karen Blixen verlässt Rungstedlund und reist nach Afrika; Ambrose Bierce verschwindet am 26. Dezember mit dem Satz „Morgen werde ich gehen, und zwar mit unbestimmtem Ziel“ und die kommenden Klassiker, wie „Ulysses“, „Mann ohne Eigenschaften“, „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ oder „Der Zauberberg“, können das magische Jahr 1913 als Geburtshelfer in die Danksagung aufnehmen. Und der gute Arthur Schnitzler weiß schon jetzt kaum noch, welcher Frau er sich zuwenden soll. Die Sternwartestraße in Wien erlebt die wohl letzten ruhigen Tage vor dem Sturm, der Schnitzler heimsuchen wird. Seine Tochter Lili lebt noch. Er ist im vierten Akt seines Lebens. Der fünfte folgt.

In der Malerei wird es abstrakt. Franz Marc und viele „Art“-Genossen prägen das Bild der Zeit mit Bildern, die den Kunstbegriff über den Haufen werfen. Ich begegne meinen Wegbegleitern die mein Leben seit dem Jahrhundertsommer nachhaltig geprägt haben. Else Lasker-Schüler, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner sowie Gabriele Münter schlagen eine Brücke, über die Blaue Reiter galoppieren. Und all das  in einer wirren Zeit, in der sich Geld-, Hoch- und Kunstadelige gegenseitig in den Armen zu liegen scheinen. Das Leben ist abstrakt und rast auf eine Apokalypse zu. Sehenden Auges, angesichts der Aufrüstung in allen Ländern. Es mutet an wie ein Abgesang, den jeder anzustimmen vermag, der alte Feindbilder pflegt und neue Kunstbilder schon jetzt als entartet bezeichnet. Da sieht man das Unheil schon kommen.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Es ist ein besonders Buch. Es ist voller Geschichten, die unbedingt noch erzählt werden mussten. Die beiden 1913er von Florian Illies gehören zusammen und sollten nicht voneinander getrennt werden. Das signalisieren schon die Cover, die so viel mehr erzählen, als viele Geschichten dieses Jahres. Farbfotos, fast noch experimentell, aber doch schon so ausdrucksstark, dass sie eigene Welten zu bewahren scheinen. Sie sind beide aus der Hand eines Fotografen. Gesehen mit demselben Auge, fokussiert und für alle Zeit bewahrt. Und nicht nur das. Auf beiden Büchern gehen wir mit Edeltrude Kühn, der Tochter des experimentierfreudigen Lichtbildners Heinrich Kühn, in ein Jahr voller Widersprüche und Geschichten, die in diesen Fotografien ihre Entsprechung finden. Sie sollten die Geschichte hinter den Bildern selbst erlesen und gut darauf achten, wem sie künftig gestatten, Familienfotos zu machen. Amüsant und tragisch zugleich.

Ulrich Noethen verleiht der Hörbuchfassung zu 1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ eine ganz eigene Atmosphäre. Er mutiert zum Chronisten, der von Florian Illies durch dieses Jahr geführt wird. Noethen gelingt der Spagat zwischen einer teils sachlichen Schilderung von Ereignissen und der immer wieder sehr pointierten und scharfzüngigen Bewertung der Hintergründe mehr als brillant. Seine Stimme legt ihren sonoren Finger in die Wunde der Geschichte, an die sich niemand mehr erinnern kann. (Oder mag). Zuhören wird hier allemal zum aktiven Prozess, weil man seine Hände frei hat, um parallel zum Hörgenuss in den Büchern zu blättern, die das Jahr 1913 erwähnt, aufgreift oder berührt. Mehr kann man nicht wollen, wenn man sich unter Kopfhörern für ein paar Stunden abschottet, um eine Zeitreise zu unternehmen. Ein Genuss.

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Jetzt ist sie komplett. Meine Begegnung mit dem Jahr 1913. Dabei gäbe es sicher noch so viel zu erzählen…

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Die Reise in ein besonderes Jahr
Das Blaue Pferd“ von Franz Marc… mit anderen Augen…
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Verwunschene Bilder
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – In memoriam Else Lasker-Schüler
1913- Der Sommer des Jahrhunderts geht weiter“ – Eine Hommage

Unter dem Schlagwort 1913 findet man alle Einflüsse auf mein heutiges Lesen…

Und Bernhard Jaumann mach den „Turm der blauen Pferde“ zum Kriminalfall für die Kunstdetektei von Schleewitz. Für Fans der blauen Pferde ein MUSS.

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies - Astrolibrium

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Jetzt, kaum drei Jahre nach meinen Lese-Erlebnissen im Jahr 1913, spannt Illies den Bogen weiter. Elf Jahre statt einem einzigen liegen seinem Buch zugrunde. Elf Jahre, die sich vielleicht auch zum Begriff eines letzten Sommers vereinen lassen, weil nach ihm ein umso längerer Winter folgte, als noch Jahre zuvor.

Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls – 1929 – 1939

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ geht weiter

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Es ist jetzt schon fast sechs Jahre her, da wurde ich von einem Buch angefallen, mit Haut und Haaren verzehrt, und an Geist und Seele extrem verändert wieder in mein Lesen zurückgeworfen. Es war eine Zeit, in der das oberflächliche Lesen von mir Besitz ergriffen hatte und ich auf der Suche nach der ultimativen Inspiration war. Eine Zeit, die für mich immer noch mit einem Jahrhundertsommer in Verbindung steht, der nachhaltig in mir verankert bleibt. Es handelt sich um ein Buch, dessen Erfolg man nicht vorhersah und das sich durch Mundpropaganda, Literaturkritiken und Rezensionen langsam in die Herzen der Leser fraß. Ein Buch, von dem man noch heute spricht, wenn man von dem literarischen Highlight des Jahres 2013 spricht.

1913 Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies schlug damals eine Brücke mit hundertjährigem Fundament in eine Vergangenheit, die als der letzte Sonnenstrahl eines Zeitalters galt, bevor die großen Kriege die Welt verdunkelten. Ich hatte viel über die beiden großen Weltkriege, ihre Auslöser und Folgen, Täter und Opfer gelesen und geschrieben. Ich habe oft daran gedacht, wie meine Großeltern diese Zeit empfunden haben könnten und ich habe oft versucht, in mich selbst hineinzuhorchen, ob ich diese Vorboten der Weltuntergangsstimmung wahrgenommen hätte. Niemals zuvor jedoch in meinem Lesen hat mich ein Autor so einfühlsam an die Hand genommen und mir einen Blick in das Kaleidoskop eines Jahres gewährt, das noch heute als der letzte und längst vergangene Moment der Ruhe vor dem großen Sturm gesehen werden kann.

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Ich reiste in das letzte jungfräuliche Jahr des 20. Jahrhunderts. Ich begegnete den großen und kleinen, den wichtigen und scheinbar unwichtigen Figuren, ich traf hier auf Menschen, denen ich zuvor nie begegnet war, die mir seitdem zu lieben Wegbegleitern in der Literatur wurden. Jeder Blick in dieses Kaleidoskop zeigte mir eine neue Episode und jede kleine Drehung dieses literarischen Panoptikums veränderte meinen Blick auf die mir bekannte Welt. Ich schrieb wie vom Wahn besessen über dieses Buch. Ich war ihm total verfallen, weil die vielen kleinen Geschichten in der Geschichte mich fesselten und nicht mehr losließen. Warum ich heute, so lange nach dem Lesen dieses Romans wieder zu schreiben beginne? Keine Sorge, ich werde mein damaliges Lesen nicht vor euch ausbreiten, wie einen längst plattgetretenen Teppich.

Ich hatte am Ende des Buches nur einen einzigen Wunsch an den Autor, der sich zur einstigen Artikelserie über seinen Roman übrigens so äußerte: „Welch wunderbare Anverwandlung meines Romans.“ Ich wünschte mir von ihm ein solches Buch für jedes Jahr des vergangenen Jahrhunderts. Ich wünschte mir den Menschen weiter folgen zu dürfen, sie aus der Perspektive des brillanten Erzählers weiter zu beobachten und ihre Geschichte bis zum Ende erlesen zu dürfen. Ein Wunsch, der mir nicht erfüllt wurde. In der Denkwelt des Florian Illies schien es nicht vorstellbar zu sein, das Dunkel jenes 20. Jahrhunderts zu beschreiben, dessen Sonnenuntergang er in unnachahmlicher Weise literarisch zelebriert hatte. Und doch jubiliere ich heute, weil ich gute Nachrichten habe, die ich nicht im Giftschrank der kleinen literarischen Sternwarte verschließen mag.

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“. Na, wie klingt das? Florian Illies hat wohl mit dem Jahrhundertsommer niemals abgeschlossen. Wie wir heute erfahren, hat der Erfolgsautor seit dem Erscheinen seines Bestsellers aus dem Jahr 2013 weiter recherchiert, nach großen und kleinen Geschichten gesucht und wird diese nun schon am 24. Oktober auf ganzen 274 Seiten auf den hungrigen Buchmarkt bringen. Für mich ist das ein wahres Fest fürs Lesen. Und nicht nur das. Ich habe mich mit dem Hörbuch wieder in den Jahrhundertsommer zurückgezogen, um aufzufrischen, was nun auch als Hörbuchfassung seine Fortsetzung erfährt. Ich tauche wieder ein und veranschauliche mir, auf was ich mich besonders freue. 

Dabei sind es nicht nur neue Geschichten, auf die ich hoffe. Ich bin mir sehr sicher, dass Rilke immer noch Schnupfen hat (einer der Running-Gags dieses Sommers), ich denke mir, dass Klimt nach wie vor völlig nackt unter seinem Kittel malt und porträtiert und ich weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass die Blauen Reiter und Franz Marc immer noch bestrebt sind, Else Lasker-Schüler unter ihre zarten Arme zu greifen. Dies waren Geschichten, die mich 2013 prägten, meine Suche nach Blauen Pferden und Zeugnissen einer besonderen literarischen Freundschaft lostraten. Es war dieser Sommer des Jahrhunderts, den man noch heute bei AstroLibrium in allen Ecken aufspüren kann. Wenn mich jemals ein Buch beeinflusst hat, dann dieses. Wenn ich in meinem Lesen ein einziges Mal beim Aufspüren einer Fährte aus einem Buch geweint habe, dann hier. Unvergessen bleibt mir ein absolut magischer Moment, in dem ich auf Fotos eines jungen Mädchens stieß, die Florian Illies eigentlich nur am Rande erwähnt hatte. Wahrhaft verwunschene Bilder

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Die Fotografien eines britischen Colonels, der seine Tochter Christina in zeitloser Schönheit am Strand für die Ewigkeit festhielt, haben das Bild von diesem Sommer geprägt. Diese Bilder strahlten nicht nur eine geradezu majestätische Zeitlosigkeit aus, sie machten dieses junge Mädchen für alle Epochen dieser Welt unsterblich. Die Wahl ihrer Bekleidung allein ist in den frühen Jahren der Farbfotografie Grundlage für diesen emotionalen Meilenstein. Rot. Erst seit kurzer Zeit war man in der Lage, diese Farbe zu reproduzieren, aber genau bis zu diesem Zeitpunkt war es niemandem gelungen, diese Farbtöne auf solch beeindruckende Art und Weise mit Leben zu füllen. Randgeschichte könnte man sagen. Es ist viel mehr. Es ist ein Mosaikstein außerhalb des Mosaiks. Das ist der Spielraum der Inspiration, in dem wir uns so gerne ausleben.

Vielleicht versteht man jetzt, worauf ich mich wirklich freue. Es sind die Seiten des Lesens neben diesem Buch, von denen ich jetzt noch keinen Schimmer habe, die mich aber vielleicht erneut verändern und prägen werden. Es sind Geschichten, auf die mich Florian Illies direkt stößt, während er mir indirekt ganz andere Wege weist. Ich möchte euch schon heute einladen, zurückzublicken, die Artikel von damals zu lesen und mich zu begleiten, wenn der Autor weitererzählt. Ich kann es kaum erwarten, mich wieder in das Jahr 1913 fallenzulassen. Ich kann es kaum erwarten, neue rote Fäden zu finden und sie zu einem Lesemuster zu vereinen. Ich werde das neue Buch lesen und hören. Ich werde wie von einem Wahn besessen sein und mich außerhalb der Geschichte auf Geschichten zubewegen, die ich jetzt noch nicht kenne. Wird das ein goldener Herbst.

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Die Lesereise aus dem Jahr 2013 in meinem AstroLibrischen Archiv:

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Die Reise in ein besonderes Jahr
Das Blaue Pferd“ von Franz Marc… mit anderen Augen…
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Verwunschene Bilder
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – In memoriam Else Lasker-Schüler

Unter dem Schlagwort 1913 findet man alle Einflüsse auf mein heutiges Lesen…

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Die Reise geht weiter: „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte

1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte – Florian Illies

Jetzt, kaum drei Jahre nach meinen Lese-Erlebnissen im Jahr 1913, spannt Illies den Bogen weiter. Elf Jahre statt einem einzigen liegen seinem Buch zugrunde. Elf Jahre, die sich vielleicht auch zum Begriff eines letzten Sommers vereinen lassen, weil nach ihm ein umso längerer Winter folgte, als noch Jahre zuvor.

Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls – 1929 – 1939

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies - Astrolibrium

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August – Oliver Hilmes

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Sportliche Großveranstaltungen sind immer NUR Sportereignisse. Hier trifft sich die Jugend der Welt zum Vergleich der rein sportlichen Begabung und der Wettkampf ist frei von allen politischen Ränkespielen, sozialen Benachteiligungen oder Fragen der Herkunft der einzelnen Sportler. Olympische Spiele folgen hier einer langen Tradition, die ihre Werte bis in unsere heutige Zeit retten konnte. Fairness, Gleichbehandlung und das Motto „Dabeisein ist alles“ prägen den olympischen Gedanken. Das war schon immer so.

Stopp. Was schreibe ich denn da? Hier ist mir in der Formulierung der Definition des Idealzustandes eines solchen Ereignisses wohl einiges durcheinander geraten. Denke ich an Olympische Spiele in Peking oder Winterspiele in Sotschi, dann erinnere ich mich weniger an sportliche Höchstleistungen, sondern eher daran, wie die jeweiligen Gastgeber diese Welt-Medien-Plattform genutzt haben, um sich selbst und die eigene politische Führung zu inszenieren. Hier tanzten Wölfe in Schafspelzen, die wie normale Sportanzüge wirken sollten.

Der Prototyp für eine solche Vergewaltigung der olympischen Idee wurde hier in Berlin erfunden. Vor fast genau achtzig Jahren versammelte sich die Jugend der Welt unter den Olympischen Ringen und feierte das große Fest der Völkerverständigung. Die Hauptstadt des Dritten Reichs war der Austragungsort und der August 1936 sollte in die Geschichte der olympischen Bewegung eingehen. Hier wurde das größte Sportereignis der Welt zum Potemkinschen Dorf zur Tarnung der nationalsozialistischen Ideologie. Die Olympischen Spiele 1936 dienten als Welt-Beruhigungspille, die man allen Gästen zu Schlucken gab, damit sich hinter den Kulissen der wahre Geist Adolf Hitlers entfalten konnte.

Und der hatte statt Weltjugendspielen eine ganz andere weltweite Veranstaltung im Sinn. Krieg.

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes - AstroLibrium

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes – AstroLibrium

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August“ von Oliver Hilmes, erschienen im Siedler Verlag, ist das Buch gewordene Gegengift für die Massen-Einschläferung durch Brot und Spiele, bunte Unterhaltung, farbenprächtiges Amüsement und die Vertuschung der wahren Absichten der braunen Machthaber. Hilmes legt dabei kein wissenschaftliches Sachbuch voller Daten und Fakten vor. Er befußnotet sein Schreiben nicht, scheut vor Überfrachtung zurück und präsentiert sich als Kollektor und Interpret unterschiedlicher Perspektiven, die dem Berlin der Olympischen Spiele die Maske vom falschen Antlitz reißen.

Es gibt nur ein Buch, das mit Berlin 1936 zu vergleichen ist. Auch wenn die beiden Zeitebenen sich grundlegend unterscheiden, so muss man deutlich konstatieren, dass Oliver Hilmes in seinem Buch in der Tradition eines Florian Illies erzählt, konstruiert, nuanciert schreibt und dem Leser alle Freiheiten einräumt, den Blick hinter die Fassade des Dritten Reichs selbst einordnen zu können. Dabei greift der Autor auf Tagebücher, Filme, Biografien, Wochenschauen und andere gesicherte Dokumente zurück, um das Leben der großen und kleinen Leute, der Opfer, Täter, ihrer Gäste und von Mitläufern in einem Mosaik zu verewigen, das seinesgleichen sucht.

Illies schrieb mit 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts einen multiperspektivischen Roman, der Europa am Vorabend des Ersten Weltkrieges zeigt. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit lavierte er sich durch die Lebenserinnerungen von Künstlern, Politikern und den vielen kleinen Randfiguren der Geschichte, die auf diese exorbitante Art und Weise zu einem Zeit-Orchester zusammengeführt wurden, dessen bedrohlicher Klang erst die Ouvertüre für die spätere Entwicklung Europas nach dem Weltenbrand darstellt.

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Oliver Hilmes scheint diesen Taktstock aufzunehmen. Er hat sein Orchester um sich geschart, viele Partituren eingesammelt und nun eine Symphonie komponiert, die jedem der Instrumente einen großen Auftritt auf der Bühne dieses Buches garantiert. Es sind die leisen Töne der verfolgten Geiger, die uns bewegen. Es sind die Kesselpauken der Diktatur, die aufschrecken und es sind die verführerischen Klänge von Flöten, die sich in der Hand von braunen Verführern einschmeicheln und rassistische Leitmotive hinter flüssigen Volksliedern verbergen.

Hitler, Goebbels und Göring sitzen im Orchestergraben und obwohl sie eigentlich die erste Geige spielen, sind sie wohl eher diejenigen an den Kesselpauken des Dritten Reichs, die nun sehr darauf bedacht sind, für ganz genau sechzehn Tage etwas leisere Töne anzustimmen. Und doch sind ihre öffentlichen Vorstellungen nicht so kryptisch, dass man ihnen nicht auf die Spur kommen würde. Hätte man genau hingeschaut, wäre man wachsam gewesen, hätte man die Zeichen richtig gedeutet, man hätte sehr schnell kapiert, dass hier etwas faul war im Reiche.

Oliver Hilmes hat die brillante Ouvertüre „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies mit seiner furiosen Komposition „Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August“ vollendet. Er führt uns in den Winter des Jahrhunderts..

Oliver Hilmes greift auf einen reichhaltigen Stab von Augenzeugen zurück. Sein Dramatis Personae (also die Personen, die hier zu Wort kommen), entspricht in weiten Teilen dem internationalen Who is Who der politischen und gesellschaftlichen Szene, das sich anlässlich der Sommerspiele in Berlin versammelt hatte. Dabei konstruiert der Autor seine ganz persönlichen Recherche-Ergebnisse wie ein Tagebuch, in das sich die Hauptfiguren des Buches persönlich eintragen dürfen. Und dies in der Annahme, dass kein anderer Mensch jemals lesen würde, was sie heimlich zum Besten geben.

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Hätte man nämlich während des größten Sportfestes lesen dürfen, was Joseph Goebbels seinem Tagebuch anvertraute, dann wären einem die Olympischen Ringe wie Schuppen von den Augen gefallen. Hätte man geahnt, wie sehr jene Nazis vor Wut schäumten, als mit Jesse Owens ausgerechnet ein schwarzer Athlet einen Rekord nach dem anderen aufstellte, man hätte keine Fragen zur rassistischen Prägung der Diktatur gestellt und hätte man von den Verhaftungswellen, Selbstmorden und Verfolgungen in Berlin geahnt, die Kulisse der Friedensspiele wäre in sich zusammengebrochen.

Oliver Hilmes entlarvt die Blindheit derer, die hätten sehen müssen. Er legt seinen journalistisch empathischen Finger in jede offene Wunde, die schon während der Spiele gerissen wurde, und die in der nahen Zukunft hätte verhindert werden können. Typisch berlinerisch kommen so manche Anekdoten daher. Verballhornungen und Spitznamen hatten auch in diesen Tagen Hochkonjunktur. Wenn man der „Reichsgletscherspalte“ Leni Riefenstahl zum Beispiel rät, sie solle ihren Olympiafilm nur im Negativ betrachten, wenn sie weiße Sportler siegen sehen möchte, dann stiehlt sich dem Leser ein Lächeln ins Gesicht. Berlin bleibt Berlin.

Wenn man aber dann erlebt, wie die kleine Elisabeth an den Stadtrand vertrieben wird, und unter unmenschlichsten Bedingungen dazu verdammt ist, dem lebensfrohen Berlin aus der Ferne zuzuschauen, weil sie als Zigeunerin keinen Platz mehr hat, dann wird das Herz eng. Ebenso eng, wie zu erfahren, dass noch während diese Spiele im Gange sind, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, die Bauarbeiten am benachbarten Konzentrationslager Sachsenhausen mit Hochdruck vorangetrieben werden. Hätte man sehen wollen, man hätte sehen können.

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Oliver Hilmes rekonstruiert in „Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August“ nicht nur die Olympischen Spiele selbst. Er stellt Sichtweisen gegeneinander, die konträrer nicht sein könnten. Er begleitet uns auf dem Weg des Erkennens der Diktatur durch den US- Schriftsteller Thomas Wolfe, führt uns mit Helene Mayer zur Silbermedaille im Fechten und öffnet uns dann die Augen, dass die deutsche Halbjüdin erst auf starken Druck der Organisatoren der Spiele als einzige und damit als Alibi-Jüdin den Kader des Dritten Reichs vervollständigte. Die Machthaber spielten grandios auf ihrer Klaviatur der Lügen.

Man muss Hilmes lesen, wenn man verstehen will, welchen Stellenwert die Spiele in Berlin für die Etablierung des Deutschen Reiches hatten. Sie verschafften Adolf Hitler die Anerkennung in der Welt, die er sich erhoffte. Und sie verschafften ihm die Zeit, den zweiten Weltenbrand in aller Ruhe vorzubereiten. Die Weltgemeinschaft ließ sich an der Nase herumführen und spätestens der Blick nach Dresden zeigt, wie leicht doch alles zu durchschauen gewesen wäre. Hier schrieb der verfolgte Professor Victor Klemperer in sein Tagebuch:

Die Olympiade geht nächsten Sonntag zu Ende, der Parteitag der NSDAP kündigt sich an, eine Explosion steht vor der Tür, und es ist natürlich, dass man sich zuerst gegen die Juden abreagieren wird.

Wie Recht er doch hatte. Als der nationalsozialistische Maskenball endet, beginnt der weltweite Totentanz. Oliver Hilmes wirft vielleicht nur einen Blick zurück. Aber, wie ich schon immer sagte „Ohne Rückspiegel kann man nicht nach vorne fahren„. Genau hier liegt die wesentliche Leistung von „Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August“. Der Leser wird dazu verführt mit wachem Blick in die Zukunft zu schauen und darf dabei erahnen, dass die sportlichen Großereignisse unserer Zeit von falschen Melodien aus den Orchestergräben begleitet werden. Da Capo, Herr Hilmes. Diese Konzerte haben sie uns gottlob versaut. Mehr davon.

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August von Oliver Hilmes

Die Bücherkette auf AstroLibrium bringt Sie mit nur einem Klick zu den Büchern, die mit “Berlin 1936” von Oliver Hilmes in tiefer Verbindung stehen. Zu meinen Artikeln über Florian Illies und Victor Klemperer bitte einfach die Namen anklicken.

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August - Die Bücherkette

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August – Die Bücherkette

Ich werde Oliver Hilmes auf der Frankfurter Buchmesse zum Interview treffen. Es beschäftigen mich einige Fragen zu seiner Herangehensweise, der Methodik und auch zu der Sichtweise des Autors zur allgemeinen Instrumentalisierung Olympischer Spiele. Vielleicht kann ich Oliver Hilmes für Literatur Radio Bayern dazu verleiten, ein wenig darüber zu spekulieren, wie sich diese Spiele auf das heutige Berlin ausgewirkt haben.

Folgen Sie mir ins Interview mit Oliver Hilmes zu „Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August, an den Stand des Siedler Verlages.  Lesens- und hörenswert – Gegen das Vergessen.

Berlin 1936 - Sechzehn Tage im August - Das Interview mit Oliver Hilmes

Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August – Das Interview mit Oliver Hilmes

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg [Der Blaue Reiter vor Verdun]

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Mehr als Lesen

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Mehr als Lesen

Ich bin im eigentlichen Wortsinn kein Bildermensch. Ich lebe in Büchern, schwelge in und zwischen den Zeilen und genieße das Kopfkino, das sich beim Lesen langsam entwickelt. In Galerien stehe ich zumeist hilflos vor modernen Gemälden und es fällt mir schwer zu erkennen, zu deuten oder gar zu interpretieren.

Und doch muss ich Donna Tartt zustimmen, die in ihrem grandiosen Roman „Der Distelfink“ schreibt, dass jeder Mensch sein ganz besonderes Lebensbild hat. Ein Gemälde, zu dem er eine mehr als innige Beziehung hegt – fernab aller Deutungshoheit oder Erklärungswut. Ein Bild des Herzens, das einen nie wieder los lässt.

„Pst. Du da. Hey Junge. Ja Du. Deins. Deins. Für dich bin ich gemalt worden.“ (Der Distelfink)

Ja – auch ich habe ein solches Bild meines Lebens. Ein einzigartiges Gemälde, das ich regelmäßig besuche und zu dem ich im Laufe der Zeit eine mehr als emotionale Beziehung aufgebaut habe. Ja – ich habe das Gefühl, dass es nur für mich allein gemalt wurde. Ich möchte von dieser Bindung erzählen, aber eben auch ein aktuelles Buch vorstellen, von dem ich nie zu träumen gewagt hätte. Es ist wie ein echtes Geschenk des Bücherhimmels für mich. Ein wertvolles.

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Unterwegs in München

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Unterwegs in München

Eigentlich begann alles mit Florian Illies und seinem literarischen Meisterwerk „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“. Er erzählt von großen und kleinen Leuten, Dichtern, Schriftstellern, von Menschen wie dir und mir, aber auch ganz besonders von Künstlern, die dem Jahr 1913 ihren leuchtenden Stempel aufgedrückt haben, bevor das Jahrhundert mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Kälte und Dunkelheit versank. Und doch überdauerten Worte und Bilder die Zeit – sie legen heute Zeugnis ab über die Menschen von einst, ihre Gefühle, Sehnsüchte und Talente.

Literatwo hat sich mit diesem Buch damals auf eine Zeitreise begeben und wir ließen uns gemeinsam inspirieren und entführen. So lernten wir Franz Marc kennen, jenen Maler, der sich mit einigen guten Freunden zum „Blauen Reiter“ aufschwang und Bilder entstehen ließ, die eine völlig neue Epoche der Kunst einläuteten. Wir lernten Franz Marc ganz privat kennen, blickten äußerst vorsichtig hinter seine Staffelei und konnten an seinem magischen Briefwechsel mit Else Lasker-Schüler teilhaben. Und wir sahen ihm zu, wie er seinem berühmten „Blauen Pferd“ Farbe und Leben einhauchte.

Und wenige Tage nachdem die letzte Seite des Buches gelesen war, öffnete das Lenbachhaus in München seine gut bewachten Tore nach mehrjähriger Schließung mit der Sonderausstellung zu Franz Marcs „Blauem Pferd“. Ich besuchte die Ausstellung, das Buch in der Hand und das Bild im Herzen. Doch als ich ihm zum ersten Mal Auge in Auge gegenüber stand, passierte etwas in mir, das ich niemals vergessen werde. Die Worte von damals haben zeitlos Bestand:

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Besuch beim Blauen Pferd

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Besuch beim Blauen Pferd

Eine Tür noch – eine einzige! 

Ich schritt hindurch… ein tageslichtheller Raum… ein schwarzer Holzrahmen… und ein majestätisch wirkendes, in den schillerndsten Blautönen strahlendes, futuristisch verformt gemaltes Blaues Pferd erhob sich mir gegenüber. Den Blick zur Seite gewandt, mich mit einem Auge fixierend schien es zu sagen: „Wird aber auch Zeit – ich habe mehr als hundert Jahre darauf gewartet.“ 

Ich besuchte das Lenbachhaus nicht nur mit meinen Augen. Der Artikel aus dem Mai 2013, also genau 100 Jahre nach dem Sommer des Jahrhunderts, legt Zeugnis über meine Gefühle ab. Ich besuchte das „Blaue Pferd“ in Gedanken mit und für Bianca (so, wie ich es heute noch zu tun pflege). Ich werde diesen Moment mein Leben lang nicht vergessen. Und doch blieben am Ende des Lesens Fragen offen. Illies schließt seinen Sommer des Jahrhunderts am Ende des Jahres 1913, die unfassbare Dramatik im Leben des Franz Marc sollte sich jedoch erst ereignen.

Auch er würde in die Wirren des Ersten Weltenbrandes geraten und gerade er, der in Blauen Pferden dachte und malte, sollte beritten in die erbarmungslosen Schlachten ziehen. Oder besser… in DAS Schlachten. Darüber finden sich viele Biographien und Hinweise. Ja – zugegeben, aber ein Buch, das dieser Tragödie gerecht wird, habe ich nicht gefunden. Bis vor wenigen Tagen.

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Aladin Verlag

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Aladin Verlag

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg aus dem Aladin-Verlag zog meinen Blick auf sich. Es wird doch wohl nicht… fragte ich mich… es kann doch unmöglich…, beruhigte ich mich selbst. Hoffend und unruhig zugleich öffnete ich das großformatige Werk und alle aufgestauten Emotionen befreiten sich in einem lauten „Ich glaub` das jetzt nicht!“. 

Ich betrachtete die wundervollen Illustrationen, las die ersten Zeilen und erkannte sofort Franz Marc. Ich konnte es kaum glauben, dass es nun wirklich ein Buch geben sollte, das ihn auf seinem vorgezeichneten letzten Weg in den Ersten Weltenbrand begleitet. Mit riesigen Erwartungen machte ich dieses Werk zu meinem Wegbegleiter und dem Lustkauf folgte ein optisch inhaltliches Leseabenteuer der Extraklasse.

Reinhard Osteroth schreibt einfach. Hört sich das jetzt negativ an? Sollte es nicht… es ist ein tief empfundenes Kompliment, da er sich für einen bildhaft erzählenden Weg entschieden hat, der es Lesern jeden Alters ermöglicht, sich dem Menschen Franz Marc zu nähern. Osteroth schreibt nun wirklich nicht sachlich (auch wenn das Buch mit dem Emys Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde). Er schreibt so, als hätte er Franz Marc persönlich gekannt, verweigert sich aber standhaft dem Genre Biographie. Er schreibt uns Franz Marc ins Herz und dabei vermittelt er mehr Wissen und Gefühl, als ich es für möglich gehalten hätte.

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Wort und Bild - Hand in Hand

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Wort und Bild – Hand in Hand

Osteroth erzählt von der künstlerischen Vision Franz Marcs, von seinem Traum neue Wege einzuschlagen. Er beleuchtet Weggefährten und Gegner der Blauen Reiter. Er beschreibt die Stimmung der Augusttage, in denen das deutsche Kaiserreich mit unterschiedlichen Gefühlslagen in den Krieg zog und er lässt Franz Marc selbst zu Wort kommen. Zitate aus seinen Briefwechsel machen sehr deutlich, warum gerade er sich freiwillig melden musste.

Nichts bleibt verborgen in diesem Buch. Alles Hoffen und Bangen, der Schrecken des Krieges, das Gefühl der Unbesiegbarkeit und die Veränderungen, die Franz Marc so sehr prägten. Nach dem Krieg wollte er andere Bilder malen… nach dem Krieg wollte er so vieles… Seine tiefen Briefe an Else Lasker-Schüler erlangen in diesem Buch eine neue Dimension und Franz Marc selbst wird in empathischen Wortfarben gezeichnet, ohne ihn dabei zu überhöhen. Liebevoll… so möchte ich es dem Autor unterstellen… liebevoll und respektvoll bis zum letzten Atemzug Franz Marcs. So liebevoll wie Franz Marc selbst in seinem bewegenden Nachruf auf seinen Künstlerfreund August Macke, der bereits 1914 dem Weltenbrand zum Opfer fiel. Ein Fingerzeig vielleicht? Eine Warnung?

Ironie des Schicksals. Der Blaue Reiter, der Schöpfer meines Blauen Pferdes fiel vor Verdun. 1916, gänzlich ins Feldgrau gehüllt, getroffen von einem fatalen Zufallsschuss. Vom Rücken eines Pferdes in den Matsch der Geschichte geschmettert. Der Blaue Reiter starb als Grauer Reiter. Und mit ihm starb die Vision eines neuen blauen Landes nach seiner Heimkehr.

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Der Kriegskomet Delavan

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Der Kriegskomet Delavan

Osteroth erzählt mit Worten, die haften bleiben und da wo seine Worte absichtlich Raum zum Träumen lassen, begegnen sie den Illustrationen von Reinhard Kleist, die zeigen, was Worte manchmal schwer beschreiben können oder wollen. Eine geniale Ergänzung zum Text. Wort und Bild auch hier Hand in Hand – auch hier eine Spur „Gegen das Vergessen“.

Ein zutiefst menschenfreundliches Buch über eine unmenschliche Zeit.

Ein Buch für jeden Kunstliebhaber; ein Buch für alle Büchermenschen; ein Buch für Groß und Klein; ein Buch für Herzensleser; ein Buch für kreative Geister und verwandte Seelen; ein Buch für alle Liebhaber von Kunstausstellungen, in denen die Gemälde von Franz Marc in ihrer zeitlosen Farbenfreude faszinieren. Ich habe viel gelernt in „1914 – Ein Maler zieht in den Krieg“. Ich habe viel gefühlt und letztlich habe ich persönliche Tränen vergossen…

Der letzte Freundschaftsdienst von Paul Klee; das letzte Gedicht von Else Lasker-Schüler an ihren gefallenen Blauen Reiter; die Gefühle von Maria Marc im Angesicht der beiden letzten Briefe ihres Mannes, die erst nach seinem Tod die Heimat erreichten.. all dies ist im Buch zu erlesen, erfühlen, erweinen und zu erblicken.

„Sorge dich nicht, ich komm schon durch. Franz“ 

1914 - Ein Maler zieht in den Krieg - Eine Lesereise

1914 – Ein Maler zieht in den Krieg – Eine Lesereise

Danke für dieses Buch. Es ist für mich eines der wichtigsten Geschenke meines literarischen Lebens. Ich weiß dieses Kunstwerk in Dresden – ich weiß es bei Bianca. Es mit eigenen Augen sehen zu können, was ich hier nur mit anderen Augen sah – das war und ist mir wichtig. Ich ließ es zu Dir reiten. Flieg mit ihm im gestreckten Galopp.

„Der Blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten… wo der Blaue Reiter ging, schenkte er Himmel.“ (Else Lasker-Schüler)

AstroLibrium - Unterwegs in Sachen Literatur

AstroLibrium – Mr. Rail unterwegs in Sachen Literatur

Es endet nie…“Mein Lenbachhaus“ – Bilder einer Ausstellung:

Klee - Kandinsky und Marc - und mein pferd

Klee – Kandinsky und Marc – und mein pferd

Es geht weiter im Lenbachhaus. Diesmal unter der Überschrift „Kraftraum meines Geistes„. Ganz neu ausgestattet mit Jahreskarte und im tiefen Dialog mit meinem Blauen Pferd.

Das Lenbachhaus - Der Kraftraum meines Geistes

Das Lenbachhaus – Der Kraftraum meines Geistes