Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli

Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli - Astrolibrium

Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli

Gegenwartsliteratur lebt von der Aktualität und Brisanz aktueller Themen. Sie hat eine ganz eigene Relevanz, weil man den Inhalt am jeweiligen Tagesgeschehen reiben und messen kann. Gegenwartsliteratur hat ihre ganz eigenen Leser, weil Vergangenes nicht immer herangezogen werden will, um Gedanken zu beflügeln. Wenn man sich im privaten Lese-Biotop mit Flucht, Vertreibung und ethnischen Problemen beschäftigt, ist es oftmals gewünscht, nicht Beispiele aus dem Holocaust, der Kinderlandverschickung oder gar mittelalterlichen Fluchtbewegungen zu erlesen, sondern handfeste Szenarien vorzufinden, die greifbarer sind. Wissend, dass diese Ereigniswellen geschichtlich nicht voneinander zu trennen sind, weil ihnen vergleichbare Automatismen zugrunde liegen.

Das Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli ist Gegenwartsliteratur vom Allerfeinsten. Wir begegnen dem Thema, das hier im Mittelpunkt steht täglich und sind doch nur stille Beobachter eines Problems, das sich auf dem amerikanischen Kontinent abspielt. Mehr als 3000 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Sie wird in zunehmendem Maße zur propagandistischen Demarkationslinie, die es aus Sicht der Vereinigten Staaten von Amerika mit einer Mauer zu verteidigen gilt. Grenzen reichen nicht mehr aus. Die Border-Patrol ist inzwischen bis an die Zähne bewaffnet, in vielen Regionen durchziehen Zäune und Grenzkontrollen das Land. Und wozu? Schutz vor illegalen Einwanderern. Menschen, die aus Mexiko in die USA auswandern, um ein Leben führen zu dürfen, das ihnen eine Zukunftsperspektive bietet. Im täglichen Jargon werden sie jedoch von höchster politischer Seite als Vergewaltiger, Abschaum, Dealer und pauschal als Kriminelle bezeichnet, die den Wohlstand der USA gefährden.

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Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli

Genau hier setzt das Archiv der verlorenen Kinder an. Genau hier entwickelt die in Mexiko geborene Autorin Valeria Luiselli ein multiperspektivisches Szenario, dem eine literarische Struktur zugrunde liegt, die in ihrer ungewöhnlichen Form als herausragend bezeichnet werden muss. Wer sich jemals gefragt hat, ob Flüchtlingsbewegungen aus der Vergangenheit ein Echo erzeugen können, dem man heute noch zuhören kann, der sollte diesen Roman wie ein Klangexperiment verstehen. Wer sich auf Valeria Luiselli einlässt, der kann sich darauf gefasst machen, als Klangkörper einer mehrdimensional angelegten Gegenwartserzählung in Vibration versetzt zu werden. Was hier noch recht komplex und kompliziert wirkt, ist jedoch leicht zu lesen. Ein Roman, der Klangfarbe im Inneren des Lesers entwickelt und eine Melodie zurücklässt, die nachhaltig verhindern kann, dass man blind durchs Leben läuft. 

Klang steht im Mittelpunkt einer kleinen Patchwork-Familie, die das gewohnte New York verlässt und sich auf den Weg nach Arizona an die mexikanische Grenze macht. Vier Menschen – zwei Ziele. Vater, Mutter, zwei Kinder. Sie, die Erzählende, Mutter des fünfjährigen Mädchens. Er, der Vater eines zehnjährigen Sohnes. Namenlos bleiben die Kinder im Patchwork-Konstrukt. Stiefgeschwister. Nichts weiter als Mitreisende bei den Missionen ihrer Eltern, die ihr Geld als Klangkünstler verdienen. Ihre Beziehung kriselt, der Beruf jedoch vereint sie auf dem Weg an die Grenze. Er, auf der Suche nach dem Klangarchiv der untergegangenen Apachen-Kultur. Sie, auf der Jagd nach Stimmen der Kinder, die sich allein auf den Weg von Mexiko in die USA machen, um ihren Eltern zu folgen. Der Sound verlorener Indianer und der Sound verlorener Kinder wird zum tiefen Soundtrack eines Romans.

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Valeria Luiselli erzählt nicht nur brillant, sie überrascht mit Stil und Form. Die Kinder der Patchwork-Familie bleiben namenlos. Als der Junge und das Mädchen machen sie ihren Weg. Das gemeinsame Auto mutiert zum Archiv der Familie. Beladen mit Kisten, die alles beinhalten, was zum Narrativ dieser kleinen Gemeinschaft dazugehört. Es ist eine Arche, die sich an die mexikanische Grenze bewegt. Vielleicht auf der Suche nach den Letzten einer anderen Art. Dabei wirft die Autorin Fragen auf, die den Lesenden im Lesen aus dem Lesen bringen. Wie klingt meine Familie? Welchen Soundtrack hat das Narrativ meiner Generation? Wie hört sich Streit, wie hört sich Liebe an. Wie klingt ein früher Morgen zuhause und wie hört er sich in der Fremde an? Welche Geräusche und Klänge verbinde ich mit meinem Leben und wie fühlen sich Störgeräusche an. Fragen, denen man im „Archiv der verlorenen Kinder“ nicht entkommt.

Getrieben vom Wunsch, nicht einfach nur flüchtende Kinderstimmen festzuhalten und sie zu archivieren, sondern auf der konkreten Suche nach zwei vermissten Kindern aus Guatemala entfernt sich die Mutter zusehends vom Projekt ihres Mannes. Als wäre sie nur noch ein fernes Echo, wird ihre Klangsuche einsamer und verzweifelter. Was im Leben auseinanderdriftet, klingt auch im Beruf nicht mehr zusammen. Und während sie sich immer weiter der mexikanischen Grenze annähern schreibt uns Valeria Luiselli die Geschichten der Kinder ins Herz, die aus der anderen Richtung kommen. Illegal, voller Sehnsucht und hilflos. Alleinreisende Flüchtlingskinder ohne Begleitung. Tausendfache Realität, nicht nur auf den üblichen Flüchtlingsrouten in Europa.

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Was halbdokumentarisch klingt, mit Vernehmungsprotokollen und mit realen Figuren und Gerichtsfällen zu verschmelzen scheint, löst sich auf, als in der Mitte des Romans der Junge zum Erzähler wird. Die Perspektive wechselt. Der stille Beobachter wird zur kindlichen Stimme und zum Suchenden der verlorenen Kinder. Hier zeigt die Autorin in beeindruckender Weise, wie tief sich Unterhaltungen der Eltern in Kindern festsetzen, die eigentlich unaufmerksam gewirkt haben. Hier zeigt sich, dass der Junge und seine Stiefschwester in der eigenen Patchwork-Familie verloren gegangen sind. Als beide an der mexikanischen Grenze verschwinden, um nach Flüchtlingskindern zu suchen, wird aus einem Roman, der schon bis dahin zu fesseln wusste, ein Pulverfass der Angst um zwei Kinder, die Gefahr laufen, im Flüchtlingsstrom aufgesaugt zu werden und letztlich auch dort unterzugehen. Jetzt wird aus den Klangprojekten die Sinfonie der betroffenen Archivare.

Ich habe mich in der Arche dieser Familie versteckt. Ich durchstöberte ihre Kisten, ich betrachtete die Polaroid-Fotos, die der Junge während der Fahrt aufnahm, ich war ganz nah bei ihnen, als sie verlorengingen. Ich hörte den Klang der Verzweiflung, sah die Ausweglosigkeit einer Suche im Niemandsland und litt still mit der Familie. Und am Abend sah ich in den Nachrichten einen amerikanischen Präsidenten vom Abschaum aus Mexiko reden, sah seine Twitter-Nachrichten und hörte seine Anklagen. Sie waren nichts Anderes als Todesurteile für all jene, die Zuflucht suchten. Internierungslager im modernsten Land des Westens. Abschiebung und ungeklärte Todesfälle. Eltern sorgen sich bis zum Wahnsinn. Und mittendrin die Erkenntnis, dass man schneller betroffen ist als man denkt. Der Twist in dieser Geschichte ähnelt dem Gedanken in „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne. Auch hier wechselt ein Junge plötzlich auf eine andere Seite. Auch hier entsteht persönliche Betroffenheit aus dem Nichts. Sicherheit wird als Konstante gesehen, dabei ist sie die Variable unseres Lebens.

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Verlorene Kinder. Ich begegne ihnen so oft in meinem Lesen. Zuletzt war es „Judith“, die mir ihre Geschichte erzählte. Wie so viele zuvor. Ich erkenne vergleichbare Muster ihrer Geschichten. Viele sind zu lange her, um heute noch wahrgenommen zu werden. Das „Archiv der verlorenen Kinder“ entzieht sich einer fehlenden Aktualität. Hier wird das Echo der Vergangenheit aufgenommen und völlig neu interpretiert. Ein Klang, der noch für viele Generationen zu hören sein wird. Bis er verstummt, man ihn fast vergisst und nicht glauben kann, ihn jemals gehört zu haben. Ich wünschte mir, wir wären mutig genug, unsere Kisten zu packen und auf die Suche nach den Stimmen zu gehen.

Am Ende des Romans bleiben die Bilder. Nicht diejenigen, die wir uns lesend selbst gemacht haben. Es bleiben die Polaroids eines zehnjährigen Jungen. Unscharf, nicht immer richtig belichtet, manche schief. Und doch verleihen sie der Fiktion des Romans eine Tragweite, die den Lesenden umhaut. Als wäre alles wahr. Als hätte es so… Als wäre es nicht… Als könnte alles genauso… Ja, warum nicht. Diese Bilder erzählen die Geschichte, deren Soundtrack wir nicht vergessen werden. Was für ein Ende.

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Wer sich für weitere verlorene Kinder in der Literatur interessiert, wird in meinem Lese- und Rezensionsprojekt „Verlorene Mädchen“ fündig. Hört ihr das Echo?

3 Gedanken zu „Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli

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