Die geteilten Jahre von Matthias Lisse

Die geteilten Jahre von Matthias Lisse - AstroLibrium

Die geteilten Jahre von Matthias Lisse

Es gibt Geschichten, die mehr als erzählenswert sind. Es gibt Jahrestage, die nach genau solchen Geschichten rufen. Und es gibt Menschen, die sich zwar als Zeitzeugen bezeichnen können, denen jedoch ein intimer Blick eines Einzelnen hinter die Kulissen der Geschichte bisher vorenthalten blieb. 30 Jahre ist es nun schon her, seit die Mauer ihren Geist aufgeben musste. 30 Jahre Wiedervereinigung. 30 Jahre, in denen langsam zusammenwuchs, was zusammengehört. Viele von uns haben die Ereignisse aus dem Jahr 1989 noch bildlich vor Augen. Wir erinnern uns nicht nur an Berlin, wir sehen nicht nur Menschen auf der Mauer stehen und feiern. Wir erinnern uns an Demonstrationen, friedlichen Widerstand, eine Bürgerrechtsbewegung und die bewegenden Ereignisse in der Deutschen Botschaft in Prag. Initialzündungen, Impulse und Tropfen, die das Fass überlaufen ließen. Sicher haben wir schon viele Dokus zum Thema gesehen, viel dazu gelesen und gehört. Und trotzdem ist noch viel zu erzählen.

Es ist ein Roman, der meine ganze Aufmerksamkeit forderte. Die geteilten Jahre von Matthias Lisse. Vielleicht muss ich ein wenig ausholen, um die Relevanz dieses Buches für mein Lesen zu erklären. Vielleicht geht es auch ohne Umschweife. Er, der Autor dieses Romans, hat sich einen anderen Namen gemacht. Unter dem Pseudonym Mac P. Lorne schreibt er höchst erfolgreiche und anspruchsvolle historische Romane. Die Liste seiner Erfolge ist lang. Seine Pentalogie über Robin Hood, seine fundierten und brillant erzählten Geschichten über Sir Frances Drake oder John Holland und der neueste Roman aus seiner Feder „Der Herzog von Aquitanien“ sprechen Bände. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er recherchiert, bereist Schauplätze und überzeugt mit jedem neuen Buch selbst die kritischsten Leser.

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Die geteilten Jahre von Matthias Lisse

Und nun? Ein Roman, der unter seinem echten Namen erscheint. Eine Geschichte, die aus der aktuellen Zeitgeschichte stammt. Ein autobiografisches Werk, das nicht nur eine Geschichte erzählt. Es erzählt seine Geschichte. Die vom Aufwachsen in der DDR. Die Geschichte eines Menschen, der sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Der nicht mit dem ideologischen Strom schwamm und erkannte, dass seine Heimat ihn um sein Leben betrog. Ein Mensch, der es sich nicht leicht machte mit seinen Entscheidungen. Und ein Mensch, der nicht alleine war, weil die Frau an seiner Seite der Einbahnstraße in die Zukunft ebenso wenig folgen wollte, wie er.

Es ist die Geschichte langsam aufkommender Zweifel, die uns Leser sofort fesselt und in ihren Bann zieht. Es ist keine leichte Entscheidung, das gemeinsame Glück dort zu suchen, wo die eigene Heimat Grenzzäune, Selbstschussanlagen und Todesstreifen errichtet hatte. Ja, wird man vielleicht sagen. Solche Geschichten kennen wir. Sie sind keine Einzelfälle und irgendwo wiederholen sie sich. Mag sein. „Die geteilten Jahre“ in den Einheitsbrei der Einheitsfeier zu werfen, wäre jedoch ein fataler Irrtum, weil gerade diese Geschichte Türen zu einer Vergangenheit öffnet, die so noch nicht erzählt wurde. Ich habe staunend gelesen und Bilder gesehen, die ich zwar kannte, die mir bisher nur aus anderen Perspektiven erkennbar waren. Matthias vereint hier sein schriftstellerisch herausragendes Können mit der besonderen Fähigkeit, die Geschichte seiner eigenen Familie zu fiktionalisieren, die nötige Distanz aufzubauen und dann nichts anderes als die Wahrheit zu erzählen.

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Die geteilten Jahre von Matthias Lisse

Ich könnte dieses Buch rezensieren, Handlungsfäden aufnehmen, Bilder werten und in mein bisheriges Lesen einsortieren. Ich könnte interpretieren und empfehlen. Ja, ich könnte die bewegendsten Passagen des Romans hervorheben und ihn euch ans Herz legen. Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Ich habe mich einfach mal in Frankfurt verabredet. Ich wollte mich überraschen lassen, was mir der Mensch Matthias Lisse zu erzählen hatte. Ich wollte auch ein stückweit Mac P. Lorne begegnen, dem ich inzwischen blind durch seine Romanwelten folge. Ich wollte meine Distanz zum Roman überbrücken. Ich hatte viele Fragen und wurde nicht nur überrascht, Matthias Lisse zu begegnen, sondern auch seiner Ehefrau gegenüberzusitzen. Der Frau, die für mich im Roman „Die geteilten Jahre“ und in der wahren Geschichte als Frau, Lebenspartnerin und Mutter Unglaubliches geleitstet hat.

So zogen wir uns zu einem Gespräch zurück, das kein Interview sein sollte, das mir aber meine offenen Fragen für diesen Artikel beantworten konnte. Aufschlussreich und erhellend waren die Momente in der Interviewkabine und pünktlich zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung kann ich aus dem Vollen schöpfen. Matthias Lisse wurde darum gebeten, diesen Roman zu schreiben. Eigentlich hatte er das nie vor. Zu persönlich und auch zu schmerzhaft waren die Erlebnisse. Im Nachhinein betont er jedoch spontan, er würde jedes einzelne Wort genauso wieder schreiben. Dieser Roman hat ihn nicht mit der Vergangenheit versöhnt, aber doch befreiend gewirkt. Eine zweite Befreiung nach der Flucht aus einer Diktatur. Ein aktiver Verarbeitungsprozess, der ihm vieles deutlich gemacht hat. Insbesondere die unglaubliche Leistung seiner Ehefrau, die auf sich allein gestellt mit der kleinen Tochter nach Prag floh.

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Ich hatte den Eindruck, dass Matthias Lisse als Mac P. Lorne über die Tyrannei in seinen historischen Geschichten unbefangener schreiben konnte, als in den Kapiteln der geteilten Jahre, in denen die agierenden Politiker der DDR zu Wort kommen. Er hat für diese Passagen intensiver recherchiert, als jemals zuvor. Ich denke, er wollte es auf den Punkt bringen, was sich genau in geheimen Sitzungen abspielte. Die Entfremdung der Machthaber vom eigenen Volk, das Menschenverachtende ihrer Sichtweise und die absolute Willkür von Entscheidungen. Man fühlt die Abscheu, die Matthias Lisse heute empfindet, wenn er diese Wahrheiten reflektiert. Hass jedoch ist ihm fremd. Ja, er hätte gerne mehr geschrieben. Das wahre Leben hätte das Format jedoch gesprengt und so musste er (der über Robin Hood tausende Seiten schrieb) sein eigenes Leben auf 450 Seiten unterbringen.

Matthias Lisse ruht bei unserem Gespräch tief in sich selbst. Er antwortet präzise und blendet Emotionen aus. Ich denke mir, die Distanz des Autors zum Buch rettet ihn auch hier vor reinen Gefühlsbildern. Allein die Anwesenheit seiner Ehefrau macht aus einem ganz einfachen Gespräch über einen Roman ein atmosphärisches Ereignis. Sie sagt kaum etwas. Anfangs. Sie hört zu und es arbeitet intensiv in ihr. Es brodelt extrem in ihr. Es ist insbesondere auch ihre Geschichte über die wir reden. Die Geschichte der Mutter, die zu spät in Prag ankommt. Die den Befreiungsschrei der Flüchtlinge aus der Ferne hört, die erleben muss, wie die Befreiten durch einen Kordon zu Bussen geleitet werden, während sie mit ihrer Tochter nur zuschauen kann. Die Geschichte einer Frau, die doch noch einen Weg findet. Die dabei das Leben und die Gesundheit ihrer Tochter riskiert, sie dabei fast verliert und heute weiß, wie lebensgefährlich ihre Entscheidungen waren.

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Über diesem Gespräch hängt sehr viel Unausgesprochenes. Fühlbares. Es würde Jahre dauern, diese Flucht nachvollziehen zu können. Es würde tausende von Seiten brauchen, um alles zu erzählen. Und doch braucht es bei den Antworten von Matthias Lisse zu meiner Frage, wie man sich in einer solchen Situation trennen konnte und wie groß das blinde Verständnis sein musste, sich ohne Handy, SMS oder Telefon (wie es heute für uns selbstverständlich ist) wiederzufinden, nur in die Augen seiner Ehefrau zu schauen und man versteht. Sie hätte ihn überall gefunden. Er hätte überall auf sie und die gemeinsame Tochter gewartet. Hier wird das große Wagnis einer faktisch erzählten Flucht zu einem persönlichen Vertrauensbeweis, ja zu einer Liebeserklärung der ganz besonderen Art. 

Was wir aus diesem Buch lernen können? Was ist für unser Leben relevant? Meiner Meinung nach sind es keine einfachen Lehren, die wir ziehen können. Wagnis, Mut und Vertrauen basieren auf gemeinsamen Lebensentscheidungen und -wegen. Wenn man den richtigen Menschen an seiner Seite hat, können auch getrennte Wege zum Erfolg führen. Dann wird das Unvorstellbare greifbar. Dann wird es auch erzählenswert, weil man hier nicht die Vergangenheit wiederbelebt, sondern der Zukunft den Weg weist. In tiefer Erinnerung bleibt mir die Dankbarkeit der Lisses für eine kleine Handreichung. Es war ein amerikanischer GI, der einer flüchtenden Frau und ihrem Kind die Hand reichte und den Weg in die hermetisch abgeriegelte deutsche Botschaft ermöglichte. Hilfe, die mit Sicherheit gegen seine Befehle verstieß. Wer immer sich fragt, wie man Menschen helfen kann, die wir pauschal Flüchtlinge nennen, der sollte „Die geteilten Jahre“ lesen und darüber nachdenken, dass man kein Übermensch sein muss, um Leben zu retten. Es reicht völlig aus, Mensch zu sein und jenen die Hand zu geben, die Unmenschliches erleiden müssen. Na, macht´s klick?

Danke für einen unvergesslichen Moment jenseits „Der geteilten Jahre“.

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