Sie ist für mich keine Unbekannte. Leïla Slimani hat die Grundfesten meines Lesens mit ihrem ersten großen internationalen Erfolg und Prix-Goncourt-prämierten Roman „Dann schlaf auch du“ nachhaltig erschüttert. Ich kenne viele LeserInnen des Buches, die sich nicht mehr trauen, ihren Nachwuchs einem Kindermädchen anzuvertrauen. Zu drastisch hat sich das Bild einer Nanny eingeprägt, die eine Familie wie ein feindliches Territorium besetzte und sich bitterlich an ihr rächte, weil sich keine weiteren Geburten abzeichneten und das Kindermädchen überflüssig wurde. Grandios erzählt, emotional und empathisch zugleich. Und trotzdem saß man am Ende des Lesens gezeichnet vor einem Roman, der das Unvorstellbare erzählte.
Keine Frage, ich musste Leïla Slimani weiter folgen. Auch, wenn das aktuelle Buch vor „Dann schlaf auch du“ geschrieben wurde, wollte ich auf der Fährte der großartigen französischen Erzählerin mit marokkanischen Wurzeln bleiben. „All das zu verlieren“ hörte sich an, als würde es den melancholisch authentischen Stil der Schriftstellerin in einen Roman transportieren, der erneut von Verlustängsten charakterisiert ist. Ich war mehr als gespannt, gab nicht viel auf den Klappentext und die Werbeslogans, die mich auf die Fährte einer „neuen Madame Bovary“, die Zerrissenheit einer Gesellschaft und ein völlig ungewöhnliches Frauenbild geführt hätten. Nur gut, dass ich mich unbelastet ausgeliefert habe. Gut, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was mir passiert..
Ich möchte vorausschicken, dass ich durch die seit zwei Jahren geführte MeToo-Debatte mehr als sensibilisiert bin. Ich hinterfrage offensiv, welche unbewussten und bewussten Fehler mir im Umgang mit Frauen unterlaufen sind. Was war anzüglich, was falsch zu verstehen und was sogar vielleicht verletzend. Sensibilisiert wurde ich für das Thema auch durch Bücher, die sich dieser aktuellen Thematik verschrieben hatten. Ich muss hier „Die Aussprache“ von Miriam Toews anführen, weil die Autorin hier explizit auf eine Mikro-Gesellschaft eingeht, in der Frauenfeindlichkeit in jeder Beziehung zum Status quo erhoben wird. Kurz gesagt, ich habe viel gelernt, versuche zu verstehen und mein Verhalten im Privatleben und im Beruf ständig kritisch im Auge zu behalten. Und genau hier wirft mir Leïla Slimani die Angst vor die Füße, „Das alles zu verlieren.“
Sie konfrontiert mich mit Adèle. Sie bringt mich zurück nach Paris. Sie zeigt mir eine Welt, die von außen betrachtet eine heile sein könnte. Eine kleine Familie, unabhängig. Der Ehemann Chirurg, der gemeinsame kleine Sohn eher unproblematisch und Adèle, die Mutter anerkannte Journalistin. Man lebt großzügig in einem feinen Viertel und alles könnte einfach schön und gediegen sein. Würde ich nicht Adèle bereits auf den ersten Seiten dieses Romans mit einer schier zahllosen Abfolge von Sexualpartnern ertappen. Würde mir diese Frau nicht in die Seele schreien, das Bedürfnis zu haben, benutzt und aufgerissen zu werden. Sie verzehrt sich danach, gebissen, geschlagen und gekniffen zu werden. Es ist eine Sucht, die sie mir schon zu Beginn des Romans offenbart.
Ich schaudere und zucke zurück. Bin angewidert, weil ich sehe, dass diese Sucht im wahrsten Kern nicht durch Sex bedient wird. Ein Alkoholiker trinkt, ein Drogensüchtiger nimmt Kokain und in beiden Fällen wird die Sucht befriedigt. Bei Adèle sieht das anders aus. Der Weg zum Sex, schon die Vorstellung, wie sie ihre Partner auswählt, Bilder von Unterwerfung, Gewalt und Missbrauch in ihrem Kopf, das ist der wahre Kick. Liefere ich mich lesend und hörend einer Nymphomanin aus? Bin ich auf der Spur einer Frau, die im Kern ihres Wesens hypersexuell ist? Und was verflucht (sorry für diese Entgleisung) soll mir das vermitteln? Dass es Frauen gibt, die in der Partnerschaft nur als Parasiten existieren, Kinder nur in die Welt setzen, um Aufmerksamkeit zu generieren. Frauen, in denen nichts anderes tobt, als die nicht einzudämmende Lust an hartem, verletzendem und zerstörendem Sex?
Ich komme kaum zurecht mit diesem Buch. Ich lese und höre mich verwirrt durch die wilden Eskapaden und denke dabei an ein paar Rezensionssplitter, die mir auf meinem Weg begegneten. „…ohne dabei pornographisch zu werden.“ Das wurde Slimani im Stern und bei SR2 Kulturradio attestiert. Nun, ich musste mich sortieren. Textpassagen wie die folgende brachten mich zum Grübeln, ob meine Definitionen von Pornographie vielleicht überdenkenswert wären:
„… Seinen Penis im Rachen, kämpfte sie gegen den Brechreiz an und gegen den Drang zuzubeißen…“
Ja, Leïla Slimani schreibt sehr direkt, hart, unverblümt und wird in ihrer Sprache der Sucht ihrer Protagonistin gerecht. Ich würde ihren Stil nicht verharmlosen. Es ist die Beschreibung einer Sucht ohne jede Schönfärberei. Brillant erzählt und aufgebaut, aber keinesfalls so, dass man sich (oder ich mich) in Adèle hineinversetzen kann. Hier geht es nicht um eine vom Leben enttäuschte Frau und Mutter, die endlich Zuneigung und Liebe erfahren möchte. Hier geht es keinesfalls um eine von einer überkommenen Gesellschaft in einem lebensfeindlichen Frauenbild gefangene lebenslustige Frau. Hier geht es um eine Kranke, die therapieresistent und menschenverachtend durch die Lust des Tages mäandert. Der Sohn wird abgegeben, wo es gerade passt. Der Ehemann in jeder Lebenslage betrogen und Mitarbeiter oder Bekannte dienen als Sexualpartner.
Leïla Slimani schreibt über Sucht. Ich kann und werde daraus kein neues Frauenbild ableiten. Ebenso wenig, wie ich ein Männerbild aus einem Roman über einen extremen Alkoholiker ableiten würde. Slimani gibt beiden Perspektiven Raum. Der schonungslos ehrlichen von Adèle, die nichts beschönigt und die ganze Welt belügt, um den Kick zu erleben. Und die Perspektive des Ehemanns, der erkennt, wer hier an seiner Seite im gemeinsamen Bett liegt. Es gibt keinen Zweifel. Er ist machtlos gegen Adèles Sucht. Er ist lediglich ihr Wirt, bei dem sie parasitär ihr Leben genießt. Und doch ist da die Angst, das alles zu verlieren. Adèles Angst. Wie diese Angst aussieht, wie Adèle dagegen zu kämpfen versucht und was das mit ihrer kleinen Familie macht, all diesen Fragen geht Leïla Slimani auf den Grund.
Zu hoch gelobt. So empfinde ich diesen Roman. Man merkt, dass er am Beginn ihrer Schaffensphase geschrieben wurde. Einige Charaktere in der 218 Seiten starken Story sind wichtig, aber kaum mit Leben gefüllt. So tauchen ohne weitere Erklärung im Beruf und in der Familie Adèles gleich zwei Laurents und Clémences auf. Blass und doch so wichtig, weil sie das Leben zu dem Szenario machen, in dem die Schlacht von Adèle in jeder Sekunde tobt. Ich fand keine neue Madame Bovary in diesem Roman. Liebe und Sehnsucht nach Geborgenheit sind Adèle fremd. Verschmähte Liebe ist nicht Auslöser ihrer Sucht. Wenn sie in sich hineinschaut, spürt sie nur Schmerz, der durch Schmerz bekämpft werden kann. Ihre Work-Life-Sex-Balance steckt hier den Rahmen der Story ab, in der sich die Autorin nicht um Ursachen oder Auswege kümmert.
Im Hörbuch brilliert Nora Waldstetten, der es gut gelingt, Adèle in der Distanziertheit gegenüber der eigenen Sucht für den Zuhörer nahbar zu machen. Es wird zum direkten Empfinden, zu hören, wie sich Adèle an sich selbst abarbeitet, um der Sucht gerecht zu werden. Nora Waldstetten entzieht der beschriebenen Sexualität jeden Lustfaktor. Das kommt für mich der inneren Stimme von Adèle sehr nah. Und doch bin ich für mich der Meinung, dass ich diese Nähe nicht gesucht hätte. Ich habe das Buch und das Hörbuch beendet. Wäre es das erste Werk von Leïla Slimani gewesen, ihm würde für mich kein zweites mehr folgen. Ich habe Mühe, jegliche Botschaft aus dem Roman zu verdrängen und auch nur einer einzigen Frau zu unterstellen, ihre Verweigerungshaltung in Bezug auf Sexualität liege in einem inneren Wunsch begründet, wie Adèle benutzt und zerstört zu werden. Kein Frauenbild für mich. Ein Roman über die obsessive Symptomatik einer Suchterkrankung.
„All das zu verlieren“ von Leïla Slimani
Buch: Luchterhand Verlag / dt. von Amelie Thoma / gebunden / 218 Seiten / 22 Euro
Hörbuch: Der Hörverlag / ungekürzte Lesung / Nora Waldstetten / 5 Std. / 22 Euro
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