Da ist er nun. Mein Lesemoment 2017. Das literarische Highlight, das man im Verlauf eines Lesejahres so sehnlich herbeisehnt. Das Buch, von dem man später sagen kann, dass es das Buch des Jahres war. Die Ursache für dieses Prädikat ist natürlich höchst subjektiv und in besonderer Weise individuell, da ein Buch alleine selten in der Lage ist, mich zu diesen Jubelstürmen aufsteigen zu lassen. Es ist die Perlenkette aus Büchern, die ein solches Werk knüpfen, es sind die Assoziationen, die es in mir auslösen und es sind die Gefühle, die es wecken muss, um mich zu diesem Urteil zu verleiten. Ich habe ihn erlebt, diesen Moment 2017, und das schon im September.
Es sind schmale 157 Seiten, die mich aufjauchzen lassen. Es ist ein Roman, der in seiner literarischen Dimension vielleicht nur mich so sehr aufrüttelt, weil er Lesegefühle mit neuem Leben erweckt, die ich bisher nur in einem meiner absoluten Herzensbücher durchleben durfte. Aber es ist auch eine Geschichte, die in der Lage ist, bibliophile und empathische Leseseelen zu bewegen, die meine Erfahrungen nicht teilen. Denn dieses Buch wird eine Lesekette auslösen, der man sich nicht verweigern kann. Hier ist er nun, mein Lesemoment des Jahres.
„Herr Origami“ von Jean-Marc Ceci, erschienen bei Hoffmann und Campe, kommt in seinem Erscheinungsbild schlicht und schmal daher. Ein gefalteter Kranich, eine Wiese und zwei Bäume zieren das Buchcover. 157 Seiten warten auf ihre Leser. Zarte Seiten, die aufgrund des Buchlayouts jeweils mit japanischen Schriftzeichen eingeleitet werden und dann recht überschaubar gefüllt sind. Beim oberflächlichen Blättern kann schon der Eindruck entstehen, es würde sich um Gedichte handeln. Kurz gesagt, es ist ein kurzes Lesevergnügen. Nur eine Stunde verging zwischen der ersten und der letzten Seite. Es ist die Stunde, die ich nicht mehr vergessen werde. Es ist eine Sehnsuchtsgeschichte voller Lebensweisheit, Philosophie und mit einem Tiefgang, den man eigentlich in dem vorliegenden Format kaum erzeugen kann. Und doch gelingt es Jean-Marc Ceci auf so beeindruckende Art und Weise.
Es ist die Geschichte eines Japaners, der seine Heimat für die große Liebe seines Lebens verlassen hat. „Herr Origami“ wird er genannt. Mit „Meister Kurogiko“ sollte man ihn jedoch anreden, wenn man ihm begegnet. Denn er ist ein wahrer Meister. Sein Leben hat er der Herstellung von „Washi“ gewidmet, japanischem Papier. Seine wahre Leidenschaft jedoch ist es, aus dem schönsten Papier Origami-Kraniche zu falten. Seit nunmehr 40 Jahren lebt Herr Origami in Italien. Er schöpft Papier, faltet seine Kraniche, entfaltet sie wieder und meditiert, die so entstandenen Faltlinien betrachtend. Das tiefe Geheimnis, dem dieses spirituelle Leben zugrunde liegt, heißt Liebe.
Ein einziges Mal hat Herr Origami sie gesehen. Dieser eine Augenblick hat gereicht, alle Zelte hinter sich abzubrechen und ihr zu folgen. Nur ihre Herkunft war ihm bekannt. Italien. Seit 40 Jahren nun lebt Herr Origami in der Abgeschiedenheit der Toskana und wartet auf den Moment, in dem das Schicksal ihn und die von ihm verzweifelt Geliebte wieder vereint. Die Tage des Wartens verbringt er schöpfend, faltend entfaltend und still meditierend. Bis ein unerwarteter Besuch alles ändert. Der Uhrmacher Casparo dringt in diese geschlossene Welt ein und verführt den Meister dazu, sich langsam zu öffnen und seine Geschichte zu erzählen.
Spätestens hier befand sich mein Herz im Aufruhr. Japan, schrie es. Und schon war es um mich geschehen. „Seide“ von Alessandro Baricco erzählt spiegelverkehrt, was Jean-Marc Ceci mir gerade in die Seele schreibt. Baricco lässt einen Franzosen immer wieder nach Japan reisen, um IHR zu begegnen. Der großen Liebe seines Lebens. Ein junges Mädchen, das er nur ein einziges Mal sah, dessen Stimme er nie vernahm und das sein Leben für immer veränderte. Baricco lässt seinen Hervé Joncour in das Japan seiner Sehnsucht eintauchen, ohne je die Chance zu haben, seine Geliebte zu finden.
Jean-Marc Ceci bringt nun seinerseits einen japanischen Liebenden nach Europa und verzaubert seine Leser mit der poetischen, philosophischen Erzählung, die unsere Sichtweise auf eine hoffnungslose Liebe nachhaltig verändert. Was sich hier von Seite zu Seite entwickelt ist ein fast schon meditatives Bild der inneren Balance, wo doch nur aufgewühlte Gefühle toben. In der Begegnung mit dem Uhrmacher Casparo entwickelt Ceci einen Diskurs über die Gemeinsamkeiten von Leidenschaften, Perfektion und der ewigen Suche nach den Antworten zu allen Sinnfragen des Lebens. Die Zeitvorstellung des Uhrmachers kollidiert mit der zeitlosen Dimension des Origami-Künstlers.
Auch hier schließt „Herr Origami“ einen unsichtbaren Pakt mit einem Buch, das in seiner Entschleunigung verzaubert. „Das Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon hat mir ein längst vergangenes Japan nähergebracht, das jedoch im „Herr Origami“ von Jean-Marc Ceci allgegenwärtig ist. Philosophie, Kontemplation und Spiritualität führen uns in ein Leben, in dem Abgeschiedenheit nur eine besondere Form von Leidenschaft ist. Im tiefsten Inneren beider Bücher spürt man einen japanischen Geist, der inspirierend und entschleunigend ist. Lebensweisheiten werden hier nicht nur zitiert, sie werden geprägt. Werte und Ansichten werden gelebt. Liebe wird um ihretwillen geliebt, auch wenn es so hoffnungslos erscheint wie bei Baricco oder Ceci. Selten hat ein poetischer Roman mir so viele Türen geöffnet. Selten habe ich so tiefe Verbindungen zu den Büchern meines Lebens gespürt. Und selten hat mir dabei ein Autor eine doch ganz eigenständige und wertvolle Geschichte erzählt.
Jean-Marc Ceci gelingt es weit auszuholen ohne dabei zu fabulieren. Nicht nur die Kunst der Papierherstellung in Japan wird hier zur Kunstform erhoben, auch das Falten dieses Papiers – für uns meist nur kreativer Zeitvertreib – wird hier über jeden Verdacht erhaben, die Zeit zu vertreiben. Hier kommt Ceci zu einer Bücherkette, die er in seinem Schreiben auslöst, die zu einen weiteren unglaublichen Lesemoment bei mir führte. Er erzählt von der Legende der tausend Kraniche. Er erzählt von einem kleinen Mädchen, dem es nicht vergönnt war, so viele Kraniche zu falten, um einen Lebenswunsch erfüllt zu bekommen. Er erzählt von „Sadako“.
Ich sprang lesend auf, griff in den SUB meiner ungelesenen Köstlichkeiten und es war mir bewusst, dass ich diesen Namen schon gehört hatte. Und da lag das Buch. Ein aktuelles Kinderbuch, erschienen im Aladin Verlag, mit Origami-Kranichen und einem jungen Mädchen im Krankenbett auf dem illustrierten Cover. Gänsehaut. „Sadako. Ein Wunsch aus tausend Kranichen“ von Johanna Hohnhold hatte mich erst vor wenigen Tagen erreicht. Nun weiß ich, dass Bücher Schicksale haben. „Habent sua fata libelli“. Es kann doch kein Zufall sein, dass ausgerechnet dieses Buch auf mich wartet. Es ist kein Zufall, davon bin ich überzeugt. Hier liegt der Zauber von „Herr Origami“ auch für Leser verborgen, die weder Seide noch das kopfkissenbuch gelesen haben. Hier weist eine Bücherkette in die Zukunft und man kann gar nicht anders, als sich Sadako ganz behutsam zu nähern.
Geht auch diesen Pakt ein, den „Herr Origami“ für euch geschlossen hat. Besucht Sadako in Hiroshima und lasst euch in einem Kinderbuch, das viel mehr ist, von einem Mädchen erzählen, dem nicht nur in Hiroshima, sondern unter anderem auch in Köln weltweit Denkmäler gewidmet sind, die eines gemeinsam haben. Den Origami-Kranich. Lasst diese Geschichte zu. Lasst es zu, einem Mädchen zu begegnen, das ohne jede Hoffnung auf Genesung als Opfer der Spätfolgen des Atombomben-Abwurfes alle Kraft in die tausend Origami-Kraniche steckte, die ihr einer alten Legende zufolge das Leben retten sollten.
Zeitvertreib? Nein. Herr Origami und Sadako öffnen einzigartige Perspektiven auf die japanische Papierkunst. Beide Bücher öffnen neue Perspektiven auf das Leben. Vielleicht kann man jetzt nachvollziehen, warum „Herr Origami“ und „Sadako“ für mich zu einem einzigen, tief miteinander verwobenen Lesemoment wurden. Vielleicht kann man sich vorstellen, dass beide Bücher und meine eigene kleine japanische Bibliothek ein philosophisch romantisches Bündnis geschlossen haben, um mich zu verzaubern.
Darum lese ich!