So kannten und so liebten wir ihn. David Foster Wallace, der sich zeitlebens auf der Suche nach der perfekten Story im Niemandsland zwischen grenzenloser Unterhaltung und endloser Langeweile getummelt hat und dessen literarische Begabung polarisierte, wie es kaum einem zweiten US-Schriftsteller jemals gelang. Entweder man liebt ihn und versteht ihn nicht, oder man hasst ihn und versteht ihn nicht. Deutlicher lässt sich wohl kaum zum Ausdruck bringen, welch ambivalente Gefühle sein Schreiben ausgelöst hat.
„Der unendliche Spaß“ als fulminante Unterhaltungspratone und „Der bleiche König“ als der große Gegenentwurf in Sachen kultivierte Langeweile haben die Literaturwelt in ihren Grundfesten erschüttert und dem Schriftsteller, der sich am Ende aller Depression selbst aus dem unendlichen Spiel nahm, ein bleibendes Denkmal gesetzt. Aber es sind nicht nur die beiden dicken weißen Klötze, die er uns hinterließ. Es sind nicht nur diese Werke, die monatelange literarische Monogamie verursachen, wenn man sie liest, nein, es sind auch unzählige Essays und Fingerübungen, in denen er sein Talent zeigte und die immer noch für Erstaunen sorgen, wenn sie posthum veröffentlicht werden.
Seine Kurzgeschichten, Essays und Auftragsarbeiten bieten auch heute noch einen reichhaltigen Fundus an potenziell neu zu übersetzenden Werken. Zuletzt war es „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“, der uns in Davids Depressionen entführte, und nun ist mit „Der große rote Sohn“ eine Reportage bei Kiepenheuer und Witsch erschienen, die eine ganz wichtige Lebensphase des Autors widerspiegelt. Auch hier handelt es sich erneut, wie in seinen beiden Büchern „Am Beispiel des Hummers“ und „Schrecklich amüsant – Aber in Zukunft ohne mich“ um eine Auftragsarbeit, die aus Sicht des erneut überraschten Auftraggebers wieder Erstaunliches zutage förderte. Diesmal jedoch zu einem Thema, das David Foster Wallace schon seit den frühesten Anfängen als Autor immer wieder nachhaltig beschäftigte.
PORNOGRAFIE
Er besuchte 1998 im Auftrag der Zeitschrift Premiere eine außergewöhnliche und skandalträchtige Veranstaltung, über die man in seinen Kreisen weder schrieb, noch offen diskutierte. Eine Veranstaltung in Las Vegas, über die im Normalfall nur Reporter berichteten, die man als absolute Branchenjournalisten bezeichnen muss, die sich hier bereits einen Namen gemacht hatten und denen ein Blick hinter die skandalöse Kulisse der Szene gewährt wurde. Endlich war er am Ziel seiner Recherche. Endlich, kann man hier wirklich sagen.
Die Unterhaltungsindustrie unter dem Zeichen des Rotlichts hatte ihn schon immer interessiert, aber allzu oft waren seine Recherchen ins Stocken geraten oder wurden in den Phasen des Schreibens an seinen Romanen in den Hintergrund gedrängt. Nun war es an der Zeit, in Begleitung mit allen Wassern gewaschener Branchenjournalisten Las Vegas zu besuchen und dem großen roten Sohn seine Aufwartung zu machen. Hier ist das kleine schmutzige Kind des Mainstreams gemeint. Der böse Zwilling Hollywoods und genau dort begegnete David Foster Wallace dem Who-is-Who der Pornobranche, die sich hier jährlich selbst feiert.
Die Verleihung der Adult Video News Awards, der Oscars der Pornoindustrie in Las Vegas, plus die dazugehörende Pornomesse sind Gegenstand seiner Betrachtung und wer vergleichbare Auftragsarbeiten von David kennt, der weiß ganz genau, worauf sich der jeweilige Auftraggeber einstellen kann. Auf alles, nur nicht das Erwartete. Also darf man auch hier davon ausgehen, dass sich Interviews mit Branchenriesen und intensive Nachforschungen zu einer gestohlenen Trophäe in eine ganz eigene Richtung bewegen werden. Es wird schmutzig, versaut, lustig und extrem doppelmoralisch.
Hier lernen wir sie also kennen, die getunten Stars und Sternchen der Pornobranche, die Produzenten, die namenlosen Hilfskräfte (Fluffygirls genannt) und natürlich auch die Fans der Szene, in Fachkreisen liebevoll nur „Wichte“ genannt. Hier führt investigativer Journalismus in Reinkultur in eine ganz eigene Welt ein, die sich der Befriedigung rein sexueller Sehnsüchte verschrieben hat. Und ganz nebenbei gewähren uns die Autoren (also David und seine Fachbegleiter) wertvolle Hinweise auf das Branchenvokabular.
Was auf diese Art und Weise entstand, ist mehr als der liebevoll literarische Blick hinter die Kulissen. Es ist eine Reportage, für die man schon Steherqualitäten braucht und bei dem auch weibliche Leser ihren Mann stehen müssen, da dieses Thema ganz schön im Kommen ist. Klingt das jetzt schlüpfrig? Zweideutig? Na, egal. Es ist jedenfalls ein Buch, das in die Analen (nein – das ist kein Rechtschreibfehler) eingehen wird und bei dem man schon so einiges schlucken muss, wenn man sich in aller Tiefe ins Thema hineingleiten lassen möchte. Ups. Es ist skurril, heiter und absolut nicht jugendfrei.
„Der große rote Sohn“ ist typisch für David Foster Wallace, denn hinter der oftmals humorvoll satirischen Betrachtung der Pornobranche und ihrer Protagonisten versteckt sich der kritische Verstand eines analytisch vorgehenden Schriftstellers. Er beschreibt die Ambivalenz in den Gefühlen der zahlenden Kundschaft, ihre Motivationen und auch die Abstrahierung des Lustbegriffes durch Abstumpfung und Übersättigung. Wohin geht die Entwicklung einer Branche, die nur durch den Hauch des Verbotenen zum Konsum reizt, wenn die Grenzen und Konventionen zu verschwimmen beginnen. Ist das Extrem künftig die Norm und was kann verkauft werde, um auf dieser Gratwanderung bestehen zu können? Werden Gewalt gegen und die Erniedrigung von Frauen zu Stilmitteln?
Foster Wallace enttarnt die Pornoindustrie, er wischt ihr Glanz und Glamour aus den verschwitzten Poren und entlarvt die bedienten Mechanismen der Lust. Er beschreibt eine niemals enden wollende Spirale der Befriedigung und einen Voyeurismus, der auf dem Rücken von Menschen ausgetragen wird, die mit kurzer Halbwertzeit in der dieser Industrie verbrannt werden. Und doch gesteht er dem Menschen all die Schwächen zu, über die er hier schreibt. Das macht ihn selbst menschlich, schwach und sympathisch. Dieses Buch ist in jeder Beziehung facettenreich und extrem lesenswert. David Foster Wallace macht den großen roten Sohn nicht gesellschaftsfähig, aber vielleicht ist er in der Lage mit diesem Buch die Gesellschaft fähig zu machen, genau hinzuschauen und hinter den Kulissen des Offensichtlichen nach Wahrheiten zu suchen.
David Foster Wallace und mein Lesen – Eine komplexe Artikelwelt
“Alles ist grün“ – KiWi
“Am Beispiel des Hummers“ – KiWi
“Das hier ist Wasser – Eine Anstiftung zum Denken“ – KiWi
“Der bleiche König hält Hof in Deutschland“ – Eine Vorschau auf sein letztes Buch
“Der bleiche König“ – Die Reise durch das Buch – KiWi
“Ein erstes Gedicht – Wie alles begann“ – The Viking Poem
“Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ – Goldmann
“Signifying Rappers“ – KiWi
“The Pale King – Eine Kolumne“ – Pulitzerpreis – Verweigerung 2012
“Unendlicher Spaß“ – KiWi
“Unendliches Spiel“ – Eine besondere Hörspielaktion zum unendlichen Spaß
„Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache„ – KiWi
“Der große rote Sohn“ – Kiwi
“Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte – David Foster Wallace – Ein Leben“ von Daniel T. Max – KiWi (Eine Biografie)
Viel verbindet mich und meinen Lesensweg zu David Foster Wallace mit Bianca und Literatwo. Zum ersten Mal haben wir hier diesmal ein Buch von ihm gemeinsam erlesen. Ihre Meinung und die schönsten Stellen, die ihren Blog erobert haben, findet ihr hier…