„Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Es ist DIE allgegenwärtige Frage im Dialog mit Schriftstellern.

„Wie autobiografisch ist Ihr Roman?“ Eine Frage, die auch ich oft gestellt habe und immer wieder in Interviews einfließen lasse, um zu den Hintergründen ihres Schreibens und zu den wahren Motiven vorzustoßen, die einen Autor dazu veranlassen, bestimmte Themen aufzugreifen und sie literarisch zu verdichten. Viele Autoren verstecken sich in diesem autobiografischen Ansatz hinter einem fiktionalen Deckmantel, um sich und die Menschen zu schützen, über die sie schreiben.

Was geschieht jedoch mit einer Schriftstellerin, die ihre Deckung verlässt und so ihren Lesern, den Kritikern und allen Menschen, die in ihren Büchern vorkommen eine breite und ganz persönliche Angriffsfläche bietet? Kann ein autobiografisch angelegter Roman zum tiefen Loch mutieren, aus dem man selbst nicht mehr rauskommt? Gehört man der Öffentlichkeit, wenn man diese Grenze einmal überschritten hat und wie findet man zurück zum befreiten Schreiben, nachdem man in den Augen der Welt gläsern und nackt auf dem Präsentierteller der Literatur steht?

Delphine de Vigan weiß ein Buch darüber zu schreiben, weil sie ein Lied davon zu singen weiß. Nach einer wahren Geschichte, erschienen bei DuMont, thematisiert genau diese Aspekte des Schreibens. Der Titel lässt auf etwas real Erlebtes schließen. Nur die kleine Einschränkung „Nach“ öffnet die Tür zur Fiktionalisierung und bietet der Autorin die Chance, ihre Spuren in ihrem neuen Buch ein wenig zu verschleiern. Genau dies scheint schon nach dem Lesen der ersten Seiten zwingend erforderlich, denn wir treffen auf eine Schriftstellerin, die seit zwei Jahren nicht mehr schreiben konnte. Kein Wort, kein Satz. Nichts fand mehr seinen Weg nach draußen.

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Wir treffen auf Delphine de Vigan selbst, die völlig verunsichert und demoralisiert ist, sich in ihre kleine Welt hinter hohen Mauern zurückgezogen hat und an den Folgen des letzten Buches zu knabbern hat. Zu offen hat sie sich wohl über ihre Familie geäußert, zu intensiv hat sie die angeblich schmutzige Wäsche ihrer Mutter in aller Öffentlichkeit gewaschen und zu wenig hat sie wohl darüber nachgedacht, wie sehr dieses Buch jene Menschen verletzt, die als Verwandte der populären Schriftstellerin klar in Erscheinung treten. Und doch musste diese Geschichte erzählt werden. Sie musste einfach raus. Zu viele Fragen hatte der Selbstmord ihrer Mutter aufgeworfen. Das Buch war ein Muss.

Dass sie anschließend an dieser Stelle nicht mehr weiterschreiben konnte, war Delphine de Vigan nicht klar. Lesungen, Buchmessebesuche und die Konfrontation mit Verwandten machten ihr jedoch schnell klar, dass sie zu weit gegangen ist. Seitdem ist das Schweigen ihr ständiger Begleiter. Es ist mehr als eine Schreibblockade. Delphine verstummt, wenn es darum geht, neue Ideen zu Papier zu bringen. Diese Schockstarre hält an, bis sie eines Tages einer Frau begegnet, die ihr Leben verändert.

L. tritt wie ein Phantom in ihr Leben. L. interessiert sich für die Delphine hinter den hohen Mauern der selbst verordneten Isolation und L. findet in vielen Gesprächen den Schlüssel zur Seele der Autorin. Von diesem Moment an vollzieht sich die schleichende Entwicklung, die man als „Feindliche Übernahme“ bezeichnen kann. L. schmeichelt sich ein, gewinnt das Vertrauen von Delphine, ergründet die Ursachen der Schreibblockade, gibt Ratschläge und wird zur einzigen und besten Freundin der tief verunsicherten Frau. Delphine hat L. nicht viel entgegenzusetzen. Sie liegt am Boden, als L. immer tiefer in sie vordringt.

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Der Prozess des Eindringens in die Persönlichkeit von Delphine vollzieht sich in psychologischen Etappen, die faszinierend und abschreckend zugleich sind. L. scheint einem geheimen Plan zu folgen, ist zielstrebig und unbeirrbar. Ihr Ziel scheint es zu sein, Delphine dazu zu bewegen, weiterzuschreiben. Und zwar genau dort, wo sie in ihrem letzten Buch aufgehört hat. Reales, nicht Fiktionales. Einen Schritt weiter soll sie gehen. Nur Reales hat Eier! Und Fiktion ist was für Feiglinge. Um sich diesem Ziel zu nähern schreckt L. vor nichts zurück.

Sie wird zur einzigen Vertrauten, schottet Delphine von der Außenwelt ab und ist zunehmend dominant, wenn es darum geht, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. L. schleicht sich ein, zieht in Delphines Wohnung und übernimmt Aufgaben, zu denen sich die Autorin selbst nicht in der Lage sieht. Der Annexion folgt zwangsläufig das WIR. L. verschmilzt mit der Gedankenwelt von Delphine und übernimmt die Kontrolle. Auf diese Verschmelzung folgt die Verdrängung und die Übernahme der Identität. L. wird zur Schriftstellerin Delphine de Vigan und tritt auch in der Öffentlichkeit so auf.

Ebenso schleichend, wie dieser Prozess erfolgt, beginnt Delphine zu ahnen, was ihr geschieht und sie nimmt den inneren Kampf gegen die Kontrahentin auf. Aus Vertrauen wird Zweifel, aus Hilfe formt sich Bedrohung und so realisiert die Autorin, dass sie sich auf verlorenem Posten bewegt. Ist es zu spät, sich von L. freizumachen? Wird Delphine de Vigan in bester Stephen-King-Manier zum Opfer einer Fremden? Ist es noch möglich, den Weg zum eigenen Ich zu finden und was bleibt dann übrig? Wird die Schriftstellerin zum Opfer ihrer Zweifel und letztlich bleibt die größte aller Fragen:

Wer hat „Nach einer wahren Geschichte“ geschrieben? Delphine oder L.?

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

„Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan ist ein wahres Manifest des aktiven Lesens. Die Autorin nimmt ihre Leser mit in eine tief angelegte und sehr persönliche Reflexion über Beweggründe, Intentionen und Irrwege, die das Leben von Schriftstellern kennzeichnen. Dabei greift sie nicht ins Leere, wenn sie über Blockaden, Bedrohungen und Fluchten in Erfundenes schreibt. Das „letzte Buch“, das hier für alles ursächlich erscheint, hat es wirklich gegeben. „Das Lächeln meiner Mutter“ war ihre autobiografische Annäherung an den Selbstmord ihrer Mutter. Und genau damit setzt sie sich in der eigenen Familie zwischen alle Stühle:

„Über seine Familie zu schreiben, ist wahrscheinlich die sicherste Methode, mit ihr in Streit zu geraten… Das spüre ich an der Spannung. Und meine Gewissheit, dass ich sie verletzten werde, beunruhigt mich mehr als alles andere.“

Diese Entdeckung ist einer der wahren Aha-Momente meines Lesens. Delphines Schreiben setzt sich logisch nachvollziehbar fort und beide Bücher gehören, wenn auch durch Verlage getrennt, zusammen wie literarische eineiige Zwillinge. Die Reihenfolge ist für Fans der Autorin vorbestimmt. Wer „Nach einer wahren Geschichte“ neugierig geworden ist, kann heute zu dem bei Droemer erschienen Taschenbuch greifen und Das Lächeln meiner Mutter in den Kontext des Gesamtwerks von Delphine stellen. Und glaubt mir, die Neugier wird siegen. Allzu faszinierend sind die Einsichten, die uns hier literarisch gewährt werden.

Künftig sollte man sich die Frage „Wie autobiografisch ist Ihr Roman“ jedenfalls gut überlegen. Vielleicht öffnet man nur die Büchse der Pandora! Vorsicht!

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte“ ist ein unglaublich intensiver Roman, der auch unter Berücksichtigung der Vorgeschichte als autobiografische Spiegelung der Realität daherkommt. Und doch muss man Delphine den Freiraum des Fiktionalen einräumen. L. zu erkennen, ihrer eigenen Identität auf die Spur zu kommen, das ist die Challenge, der sich alle Leser dieses Buches stellen müssen. Investigatives Lesen geht hier mit dem hohen literarischen Unterhaltungswert eines Buches mit Déjà-vu-Erlebnissen Hand in Hand.

Man begegnet nicht nur Delphine de Vigan. Sie bricht eine literarische Lanze für ihre Kollegen und vermittelt ungeschönt die Verletzlichkeit einer Autorenseele. Letztlich ist dieses Buch eine Liebeserklärung an das geschriebene Wort, weil es den Prozess der Wortfindung vor dem Hintergrund der Öffentlichkeit beschreibt, die auf jede Schwäche eines Schriftstellers lauert. In psychologischer Hinsicht ist es eine Geschichte über den drohenden Kontrollverlust und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Identität und Selbsterkenntnis. Eine gewagte und gelungene Konstruktion, die sich im Gedächtnis des Lesers tief verankern wird.

Und ganz zuletzt ist es eine Begegnung, auf die ich lesend lange gewartet habe. Vor vielen Jahren war ich in einen Roman von Delphine de Vigan verliebt, der mich zu einer Gratwanderung zwischen der behüteten Welt eines jungen Mädchens und einem Leben als Obdachlose auf den Straßen entführte. No & ich hat mich als Vater sehr bewegt und diese Geschichte hallt bis heute in mir nach. Und ja, ich habe auch meine alte junge Freundin Lou Bertignac wiedergefunden.

Danke für diese bewegenden Momente, Delphine de Vigan & L.

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan

So liebe ich mein Lesen – Eine Radioreportage zu diesem Buch

Blogger lesen anders. Wir kommen anders zu einem Urteil. Vieles hat nichts mit dem zu tun, was man in einer Rezension lesen kann und vieles bleibt im Verborgenen. Mein Leseweg zu Delphine ist mir eine Reportage für Literatur Radio Bayern wert, weil es nicht nur mein Weg ist, der sich hier niedergeschlagen hat.

Gemeinsames Lesen mit vielen Menschen, eine intensive Recherche bei Droemer und DuMont, sowie ein tolles Gespräch mit Irmgard Veit zum Lächeln meiner Mutter bilden den Kern dieser Reportage. Und nicht zuletzt erlaube ich mir im Radio etwas, das in Bloggerkreisen einem Sakrileg gleicht: 

Einen Spoiler, aber nicht unverhofft und sicher nicht ohne Vorwarnung. Genau hier geht es zur Reportage.

Nach einer wahren Geschichte - Eine Radio-Reportage

Nach einer wahren Geschichte – Eine Radio-Reportage