1400 Seiten. 3 Monate Lesequarantäne. Autistisches¹ einsames Insellesen. So und nicht anders kann ich den Herbst des Jahres 2009 beschreiben. Eine Zeit, die mir noch sehr lebhaft in Erinnerung ist, weil ich eine bewusste Lese-Entscheidung traf, die mein Leben nachhaltig verändert hat. Ich griff zu einem Buch, das zu diesem Zeitpunkt in den Fokus des intellektuellen Interesses gerückt war und von dem viele sprachen, das aber doch scheinbar von niemandem gelesen wurde. Es galt als elitär und en vogue, diesen weißen Literaturklotz zu besitzen, darüber zu fabulieren und ihn zur Schau zu stellen.
Die Rede ist vom Roman „Unendlicher Spaß“, dem Opus Magnus von David Foster Wallace, jenem US-amerikanischen Autor, der sich nur ein Jahr zuvor suizidal von der großen Bühne der Weltliteratur absentiert hatte. Er wurde nur 46 Jahre alt. Und nun lag sein Vermächtnis vor mir. Weiß, nicht sonderlich pflegeleicht, eigentlich viel zu schwer, um es einfach so in die Tasche zu stecken. Eine Buch-Immobilie im besten Sinne des Wortes. Wirklich kein Buch für unterwegs und darüber hinaus auch noch eine absolute Vollbremsung für Vielleser, wie mich.
Ich denke noch heute daran, wie viele Bücher ich wohl hätte lesen können, wenn ich nicht ganze drei Monate im „Unendlichen Spaß“ verbracht hätte. Ich denke aber auch sehr oft daran, welche Bücher ich wohl nie gelesen hätte, wäre diese literarische Mutprobe nicht gewesen. Kurz gesagt, ich fühlte mich damals wie ein Eremit in einem Fass. Total abgeschottet von der Welt, staunend, über welche Bücher meine Freunde so sprachen und jede Kontaktaufnahme mit einem der Besitzer des weißen Ziegelsteins endete mit der kopfschüttelnden Bemerkung: „Nee… das ist doch nicht lesbar!“
Doch! Es war, ist und wird immer lesbar sein! Der „Unendliche Spaß“ hat mich in der Tiefe meiner Lese-Seele berührt und mich verändert aus dem Buch entlassen. Am Ende der 1400 Seiten fühlte ich mich wie nach der Mount-Everest-Erstbesteigung ohne Sauerstoff. Ich trug den Stolz eines Lesepioniers vor mir her und war mir meiner Rolle als Leser und Buchliebhaber bewusster als jemals zuvor. David Foster Wallace hat mich seit diesen Tagen nicht mehr verlassen und über keinen zweiten Autor schrieb ich so viele Artikel. Meine DFW-Bibliothek ist fast vollständig und sie wächst, obwohl er schon so lange schweigt.
Seine Kurzgeschichten, Essays und Auftragsarbeiten bieten auch heute noch einen reichhaltigen Fundus an potenziell neu zu übersetzenden Werken. Zuletzt war es „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“, der uns in Davids Depressionen entführte, und bald wird mit „Der große rote Sohn“ eine ganz wichtige Lebensphase des Autors bei Kiepenheuer und Witsch erscheinen. Er besuchte hier im Auftrag einer Zeitung eine ganz besondere Veranstaltung und allein die vorbereitenden investigativen Recherchen haben ihn nachhaltig geprägt.
Die Verleihung der Adult Video News Awards, die Oscars der Pornoindustrie in Las Vegas, plus die dazugehörende Pornomesse sind Gegenstand seiner Betrachtung und wer vergleichbare Auftragsarbeiten von ihm kennt, der weiß ganz genau, worauf sich der jeweilige Auftraggeber einstellen kann. Auf alles, nur nicht das Erwartete. Also darf man auch hier davon ausgehen, dass sich Interviews mit Branchenriesen und intensive Nachforschungen zu einer gestohlenen Trophäe in eine ganz eigene Richtung bewegen werden. Es wird schmutzig lustig und extrem doppelmoralisch.
Exemplarisch sei hier „Am Beispiel des Hummers“ erwähnt. Auch hier wurde aus der beabsichtigten Reportage vom größten Hummer-Festival Amerikas für ein Gourmet-Magazin eher eine Streitschrift für Tierschützer, als der erhoffte kulinarische Literatur-Leckerbissen. Man darf sich also schon sehr auf einen Schriftsteller in Bestform in einer Parallelgesellschaft der besten Formen freuen. Und so darf der geneigte Fan von David Foster Wallace auch in Zukunft mehr als gebannt darauf warten, welche Texte aus dem endlichen Nachlass des Schriftstellers ihren Weg zu uns finden werden. Bis es dann vorbei ist mit dem „Unendlichen Spaß“.
Tja, ohne diesen „Unendlichen Spaß“ hätte ich wohl niemals dieses unendliche Lesen erleben dürfen. Vielleicht wäre ich heute nicht so nachdenklich und kritisch, sicherlich hätte ich nicht so viel Verständnis für Lebensentwürfe, die sich erheblich von gesellschaftlichen Normen abheben und ganz bestimmt wäre ich ein ärmerer Mensch. David Foster Wallace ist stilistisch und inhaltlich zu einem Teil von mir geworden. Wir wären heute im selben Alter. Er ist mein Jahrgang. Das macht traurig und immer noch einsam, da kaum jemand aus meinem Freundeskreis mehr als nur einen Satz von ihm gelesen hat. Dann müssen wir den Weg eben zu zweit alleine weitergehen. Unendlich weit.
Umso schöner war es für mich, als ich das Projekt Unendliches Spiel entdeckte. Hier konnte ich wirklich zum Teil einer Welt werden, die mich gefangen hält. Hier fühlte ich mich zuhause und angekommen, als es darum ging, mit meiner Stimme zum wohl größten Hörbuchprojekt beizutragen, das jemals Online gestartet wurde. Das Projekt von WDR 3, Bayern 2, Deutschlandfunk und dem Kiwi-Verlag basiert auf der Idee, dass viele Menschen zum Teil des „Unendlichen Spaßes“ werden. Man konnte sich eine Seite des Romans reservieren und sie wie ein Hörbuch einlesen. Und schon war man dabei. Dieses Projekt ist noch nicht finalisiert. Zwar wurden inzwischen alle Seiten von unzähligen Fans vertont, der Zusammenschnitt und die Untermalung mit Musik gehen nun in die letzte Phase. Die WELT schreibt dazu… hier lesen.
Ich bin doppelt dabei. Zwei Seiten sind bereits eingelesen. Eine Episode ist sogar schon hörbar. James Incadenzas Vortrag über ein fatales Tennisspiel unter mütterlicher Aufsicht und mit aufgeschürftem Knie; Seite 243. Das Tennisspiel mit Schürfeffekt kann man hier hören: Kapitel/Szene 1550. Diese Szene dauert fast eine Stunde und meine Stimme ist ab Minute 53,48 zu hören. Meine zweite Passage ist noch in der Technik. Es handelt sich hier um eine surreale Passage, die Orin unter einem umgedrehten Glas hörbar macht; Seite 1396.
Die Hintergrundmusik mag seltsam anmuten, aber sie wird David gerecht. Er hat sich immer eine „Goldene Maschine“ vorgestellt, die rund um die Uhr komponiert. Und genau so ist diese Musik entstanden. Auf diese Art und Weise wird „Der Unendliche Spaß“ mit der „unendlichen Komposition“ zum „unendlichen Spiel“. Für mich eine sehr wichtige Etappe auf meinem langen Weg an der Seite von David Foster Wallace. Und wir sind noch nicht am Ende angelangt. Das kann man sich auch anhören².
„Alles Unerträgliche ist im Kopf, weil der Kopf nicht in der Gegenwart verweilt, sondern die Mauern hochklettert, Erkundigungen einzieht und mit unerträglichen Nachrichten zurückkommt, die man dann irgendwie glaubt.“
Und nun ist es soweit: Hier ist das Ding… Eine goldene Edition
Autistisches Lesen¹ – Eine ganz persönliche Definition:
Ich definiere es für mich literarisch ganz vorsichtig so, dass ich ein Buch nur für mich erlebe. Eingeschlossen in einer eigenen Welt mit eigener Wahrnehmung. Ohne Zuversicht auf Verständnis im Umfeld. Abgekapselt. Und doch ist die Wahrnehmung auf dieser Insel unglaublich scharf und leuchtend. Bei diesem Buch kam es mir für mich so vor. Womit ich dem medizinischen Begriff nur metaphorisch nahekommen möchte. Ich mag hier nur ein Bild erzeugen, das ich selbst greifen kann. Ich möchte niemandem zu nahe treten, der an dieser Krankheit leidet. Aber ich stelle es mir vereinfacht so vor, dass dieses Bild treffend sein könnte.
Das kann man sich auch anhören²:
„Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ als Rezension für Ohr.