Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Man nehme:

Drei junge Menschen, deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen. Drei junge Menschen, deren Weg aus dem behüteten Elternhaus schnurstracks ins Internat führt. Drei völlig unterschiedliche Wege der Verarbeitung dieses Verlusts: Workaholic, Drogenszene und das Vergraben im eigenen Ich. Dazu gebe man eine ausreichende Prise geheimnisvoller Weiblichkeit im unmittelbaren Internatsumfeld und die Verlockung der magischen Anziehungskraft einer ersten vergeblichen Liebe. Danach stelle man die explosive Gefühlsmischung auf die Zeitachse eines Romans.

Man wähle den immer verschlossener werdenden jüngsten Bruder des Trios als Ich-Erzähler und lasse ihn in ferner Zukunft bei einem Motorradunfall an den Baum krachen. Dann lasse man mal die Spiele beginnen. Ausgehend vom post-komatösen Rückblick des Unfallopfers Jules auf sein bisheriges Leben beleuchte man im Nebel der Erinnerung auch gleichzeitig die Wege seiner Geschwister.

Gespickt mit eine paar Prisen junge Frau liebt alten Mann, vergebene Liebe, Zweifel, Krise und Verlust, Kinderwunsch trotz Beziehungsunfähigkeit, tiefe Freundschaft und ein paar weiteren emotionalen Mosaiksteinchen mische man alles zusammen zu einer Geschichte mit dem wild-romantischen Titel Vom Ende der Einsamkeit, dekoriere das Ganze mit einem Klischee-Cover zum Thema Harmonie und lege den fertigen Roman auf den Stapel der Beziehungs- und Verlustliteratur, die nach Schema F geschrieben, flott gelesen und mit einem letzten Schluchzer getrost vergessen werden können.

Doch… STOPP…!

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Einzig seltsam an dieser ganzen Angelegenheit ist die Tatsache, dass dieses Werk nicht aus der Feder einer Frau stammt. Noch seltsamer fühlt es sich an, den Namen Benedict Wells in großen Lettern über dem Titel des Buchs zu lesen. Jenes German-Literature-Wunderkindes, das mit Becks letzter Sommer, Der Spinner und Fast genial ganz andere Themenfelder für sich erobert hat und nicht nur die Bestsellerlisten, sondern inzwischen auch die Kinoleinwand literarisch prägt.

Ein Benedict Wells, der für alles steht. Jedoch nicht für seichte Gefühlsduselei. Sollte gerade ihm mit diesen gar nicht ungewöhnlichen Zutaten etwas gelungen sein, das man auf den ersten Blick bezweifeln durfte? Ein großer und ungewöhnlicher literarischer Wurf? Was hat er an der Mixtur und am Rezept dieses Romans verändert, um ihn vom Einheitsbrei der üblichen Frust- und Tränengeschichten abzuheben? Ich wollte mir das sehr genau anschauen.

Ich wollte eintauchen in die Schreibwelt eines Benedict Wells, der mir mit „Becks letzter Sommer“ einen meiner absoluten Lieblingsromane ohne Pathos auf den Leib geschrieben hatte. Und darüber hinaus wollte ich beobachten, wie die hartgesottenen Leser in meinem Umfeld darauf reagieren, dass ich eigens für den Weg durch diesen Roman ein Notizbuch anlegte, um meinen Leseweg zu dokumentieren. Nicht nur für mich selbst. Aber dazu später mehr.

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Mein Plan war klar. Bleibt das Notizbuch leer und frisst der Roman keine PostIts, dann war es das für mich. Tritt der umgekehrte Fall ein, würde ich ausführlich begründen, warum ich diesen sehr ungewöhnlichen Rezensionsansatz gewählt habe. Und nun ist es soweit. Ich sitze vor einem Buch, das durch die kleinen Klebezettel gefühlte 700 Gramm schwerer wurde und betrachte ein fast bis an den Rand vollgeschriebenes Notizbuch mit der Überschrift „Vom Ende der Einsamkeit“. Und ich veröffentliche es am Ende des Artikels.

Bereits im ersten Kapitel nimmt Benedict Wells Fahrt auf. Ganz im Gegensatz zu Jules, dessen letzte Fahrt mit dem Motorrad ihn genau hierhin brachte. Intensivstation. Koma überstanden. Jules ist sein Name, daran kann er sich erinnern. Etwas über 40 Jahr alt und am vorläufigen Ende eines verkorksten Lebensweges angekommen, der von Verlusten geprägt war. Und als er seine Erinnerungen auf dem Weg zurück ins Leben zu fassen versucht, werden wir als Leser zu Wegbegleitern auf einer Reise zurück in seine Kindheit. Wo alles begann. Eine Reise, auf die ich nicht vorbereitet war.

Waisenkind mit knapp 11 Jahren. Gemeinsam mit Bruder und Schwester ins Internat. Drei unterschiedliche Wege, den Tod der Eltern zu verkraften. Drei unterschiedliche Wege, die nur eines gemeinsam haben: die wachsende Distanz zwischen den beiden Brüdern und ihrer Schwester. Drei Leben, die geprägt werden vom größten Verlust, den Jugendliche erleiden können. Drei Leben, die nur augenscheinlich ins Lot kommen, obwohl im tiefen Inneren drei Vulkane völlig individuell verkochen.

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Jules zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Verschließt sich und wird mehr und mehr zum Traumwandler in seiner eigenen Welt. Wäre da nicht ein Mädchen im Internat, das ihn so wahrnimmt, wie er ist. Ein Mädchen, dessen eigenes Leben von Verlusten geprägt ist und das an dem Verschwinden der eigenen Schwester lebenslang leidet. Ein Mädchen namens Alva. Eine Begegnung fürs Leben. Doch das bemerkt Jules erst Jahre später.

Ich möchte nicht mehr zum Inhalt beschreiben. Ich möchte den Lesern von Benedict Wells nicht die gefühlt einhundert Momente rauben, die auf der Achterbahnfahrt dieses Romans das Herz zum Stocken bringen. Ich möchte einfach nur davon berichten, was mit mir geschah und wie Benedict Wells mich durch seinen Roman peitschte. Ich stellte mir nicht die Frage, ob der Jungstar von „Becks letzter Sommer“ erwachsener schrieb als damals. Schon 2004 hatte der damals 21-jährige Schriftsteller eine Schreibe, die so gereift war, dass man sich verwundert die Augen rieb.

Ich notierte mir auf meinem Weg die Treibladungen seines Romans. Cliffhanger, die er in einer Vielzahl einsetzt, als hätte er eine ganze Tüte davon im Lotto gewonnen. Cliffhanger, die in der Rückschau von Jules genau dann, wenn wir Leser schon ahnen, dass es nur noch schlimmer werden kann, noch ein wenig mehr Feuer an diese Lunte legen. Diese Perspektive macht diese Spannungsbögen möglich. Und genau auf dieser Gefühlsrakete raste ich zurück in die behütete Kindheit der Geschwister, um sogleich wieder in die Zukunft geschossen zu werden.

„Ich liebte meine Schwester wie nur irgendwas, und das änderte sich auch nicht, als sie mich Jahre später im Stich ließ.“

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Ich finde alles im Roman, nur keine Gefühlsduselei. Ich finde Gefühle, Bilder und Metaphern für Angst, Liebe und Verlust, die mich wohl ewig begleiten werden. Ich finde kein Pathos, keine Klischees, sondern bin tief versunken in einem Destinationsroman allererster Güte. Die Charaktere sind von der ersten Seite an Charakterstudien mit dem Seziermesser. Gestochen scharf und präzise. Jeder Hauch eines Lebenszweifels, jede noch so kleine Gefühlsregung überträgt sich direkt auf mich. Und wenn ich alle Zitate aufzählen müsste, die tiefe Spuren in mir hinterlassen haben, diese Rezension würde nicht enden wollen.

Benedict Wells romantisiert nicht, er literarisiert. Große Stimmen werden greifbar und Gefühle verkommen nicht zu bloßen Abziehbildern. Er verlangt seinen Lesern alles ab. Alles. Wer sich auf diesen Roman einlässt, muss wissen, dass am Ende des Lesens das Wort Verlust einen neuen Namen trägt.

„Es gibt Dinge, die ich nicht sagen sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich.“

Dieses Zitat steht so sehr für diesen Roman. „Vom Ende der Einsamkeit“ hat viel in mir losgetreten und mich von eigenen Bildern befreit. Dieser Roman hat mich oft überfordert in seiner gnadenlosen Brillanz. Die Begegnung mit der Krankheit Alzheimer kam unerwartet, wurde zum biografischen Lesen und ist in den Worten, die Benedict Wells dafür findet literarisch an einem neuen Maßstab angelangt, obwohl sie nur eine kleine Nebenrolle spielt.

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells

Wenn ich allerdings dachte, dies sei der größte Schlag, den ich lesend zu erleiden habe, dann hatte ich mich sehr gründlich getäuscht. Ich schrieb viel über Alva in dieses Notizbuch. Aus gutem Grund. Denn Alva wird durch Benedict Wells zum Synonym für Leidenschaft, Verlustangst, grenzenlose Emotion, Sehnsucht und zu DEM Leitbild für erfüllte Träume. Und doch zeigt Benedict Wells, dass sein Roman so angelegt ist wie das wahre Leben. Nicht berechenbar. Da capo.

Ich halte mein Versprechen aus der Einleitung und ermögliche nicht nur euch einen Einblick in mein Notizbuch des Lesens, sondern werde es mit nach Leipzig nehmen und es dem Autor persönlich überreichen. Der Anlass könnte nicht besser sein, denn…

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Ich werde auf der Leipziger Buchmesse ein Interview mit Benedict Wells führen. Literatur Radio Bayern ist exklusiv mit der mobilen Aufnahmestation unterwegs, und ihr könnt, wie schon in Frankfurt, fast live dabei sein. Und dabei werdet ihr auch Zeugen einer ganz besonderen Überraschung, denn ich werde dieses Interview ganz sicher nicht alleine führen. Na, schaltet ihr euch zu? Dann endet auch eure Einsamkeit.

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells - Das Interview - Bald

Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells – Das Interview

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