Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich an einer besonderen Form einer bilbiophilen Psychose leide? Oder gehört das schon zu den nicht mehr gut gehüteten Gerüchten des inneren Zirkels meiner kleinen literarischen Sternwarte? Wie auch immer. Ich leide. Und das nicht zu knapp. Die Symptome reichen von Schnappatmung bis Zittern über Atemnot bis hin zum Totalversagen des vegetativen Nervensystems. Ok. In Anbetracht meines Alters mag man das ja für ganz normale Begleiterscheinungen meines Alltags halten, ich jedoch kenne die einzige Ursache.
Ich leide an der sogenannten „Notizbuch-Hassliebe“. In einschlägigen Fachbüchern auch gerne als „Notebook Love-Hate-Relationship“ bezeichnet, oder um es mit dem guten Lateiner zu sagen „amoris odio necessitudinem“. Wenn man auf die genaue Wortstellung achtet, scheint es wieder typisch deutsch zu sein, dass der Hass an erster Stelle steht, während im englischen Sprachraum der Liebe die Poleposition eingeräumt wird. Aber egal. Im Ergebnis bleibt es gleich. Psychose ist Psychose.
Wie sich das äußert? Das ist recht leicht erklärt. Ich liebe Notizbücher. Die kleinen feinen Wegbegleiter in allen denkbaren Formaten und Designs. Paperblanks, die in Lederoptik daherkommen, kleine schmale und zarte Büchlein mit unbefleckten Seiten und so dekorativ, als seien sie speziell für mich erfunden worden. Beim Anblick von Notizbüchern jeder Art beschleunigt sich mein Puls, das Herz beginnt zu rasen und die zittrigen Finger greifen nach jedem Exemplar, das bei drei nicht auf dem Baum ist. (Und unter uns – schon mal einen Baum in einer Buchhandlung gesehen?)
So weit so gut. Beseelt und begeistert befühle und beschnuppere ich das jeweilige Kleinod und stelle mir bereits vor, welch wertvolle Dienste es mir wohl leisten wird. Ich denke darüber nach, wo es in der kleinen literarischen Sternwarte liegen wird, wo es am besten funkelt, leuchtet und meinen Alltag mit seinem gebundenen Äußeren erhellt. Ein Zustand wie im Wachtraum macht sich in mir breit und noch bevor ich kapiere, was eigentlich passiert ist, sehe ich mich an der Kasse einer Buchhandlung stehen.
Völlig unbeteiligt beobachte ich, wie meine (oder nicht meine) Finger die Geheimzahl irgendeiner EC-Karte eingeben und höre eine wohl vertraute Stimme leicht vibrierend sagen „Nein… Nicht einpacken… Bitte, bitte nicht!“.Als würde ich neben mir stehen, beobachte ich mich von außen und schüttele innerlich den Kopf über dieses Ausmaß an Unvernunft. Auch die Bemerkung der Buchhändlerin „Ach… Noch eins?“ überhöre ich, quasi im Himmel meiner Notizbücher schwebend. Ignoranz ist wohl die beste Waffe in meinem Abwehrsystem gegen unbequeme Fragen.
„Nein.. Nicht noch eins. Das hier reicht für heute!“ antworte ich belustigt, in der Hoffnung, dieser Groschen möge erst dann fallen, wenn ich die Buchhandlung meines Vertrauens verlassen habe. Und schon stehen wir zu zweit in der frischen Luft und atmen einfach mal richtig durch. Also wir, das sind Ich und Ich. Also irgendwie zwar wir, aber es ist doch immer wieder seltsam, wenn sich die zwei Seelen in meiner Brust fast körperlich begegnen. Psychose? Meinetwegen, aber keine Sorge. Wir verstehen uns gut. Also Ich und Ich. Wir duzen uns sogar seit ein paar Wochen.
„Ich glaub´ das jetzt aber nicht!“
„Was?“
„Schon wieder eins und schon wieder der sinnloseste Einkauf ever!“
„Ich war´s nicht. Ich war nur da drin. Dann war da so eine Wolke und alles wurde dumpf. Ich bin ganz schnell wieder raus und jetzt? Vorwürfe? Was hab ich denn wieder angestellt?“
„Das!“ (Zeigt mit einem ätherisch leuchtenden Finger auf ein kleines Etwas in Leder)
„Waaaaaaaaaaahhhhh…! Wo kommt das her? Wer war das? Das hat mir jemand zugesteckt!“
„Klar. Wie immer. Logisch! Und gleichzeitig hat man dir die Quittung mit deiner Kontonummer zugesteckt. Das perfekte Verbrechen! Oh Mann!“
Über den weiteren Verlauf dieses Gesprächs decke ich hier lieber den Mantel des Schweigens. Es folgen die üblichen „Ich lass` mich auf die Knie fallen und winsele um Nachsicht-Passagen“, gefolgt vom hysterischen „Meiiiiin Schatz…!“ mit wirrem Blick und Speichelfluss, der jeden Pawlow`schen Hund im Vergleich zu mir wie ein Trockendock aussehen lässt. Und ganz zuletzt folgt dann die wilde Flucht vor meinem Schatten. Einzig der hämische Ruf „Du wirst es ja doch nicht benutzen!“ bleibt an meinen Fersen haften.
Nichts werd` ich sehen. Alles ist gut, sage ich mir und schleiche mich durch einen Hintereingang in meine kleine Blog-Redaktion. Einatmen – Ausatmen. Alle Systeme im grünen Bereich und der Genuss des ganz beiläufigen und definitiv nicht vorsätzlichen Einkaufes kann beginnen. Mein Leben mit Notizbüchern ist ein absoluter Traum. Das heißt, es wäre ein Traum, wenn nicht…
Ja, wenn nicht ganz andere Symptome von mir Besitz ergreifen würden, während ich meinen neuen Schatz seinen Artgenossen vorstelle. Lethargie, ein auf unter 30 absinkender Puls, Energielosigkeit, Blutleere, Schlappheit, tiefe Niedergeschlagenheit und ein völliger Kontrollverlust, wenn es darum geht, einen Stift zu halten, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen, welches erste Wort mein neues Notizbuch entjungfern kann….
Mir fehlt die Kraft, es aufzuschlagen. Mein Blick trübt sich und die vorhin noch so tollen Gedanken, die ich festhalten wollte, haben sich in Luft aufgelöst. Wie zugenagelt liegt mein neues, prachtvolles Notizbuch vor mir und scheint sich jedes Zugriffs zu verweigern. Als hätte man eine verführerische Braut über die Türschwelle getragen und dann festgestellt, dass sie zugeknöpft und verschlossen ist wie Fort Knox.
Der Liebeserklärung im Buchladen folgt sofort die hasserfüllte Seite. Beim Blick auf all die anderen Notizbücher meines Lebens fällt mir die große Gemeinsamkeit auf. Sie sind leer. Völlig unbeschrieben. Blank. Absolut neuwertig und innerlich inhaltsleer wie ein Vakuum. Das Wort „Notiz“ könnte getrost aus dem Sprachgebrauch gestrichen werden. Es sind kleine und große Notizbücher. Aufwendig gestaltet, verlockend und verführerisch. Aber sie sind keine Traumfänger für meine Ideen.
„Du wirst es ja doch nicht benutzen!“ Der Satz meines zweiten Ichs poppt wieder hoch. Als hätte er geahnt, dass ich leide. Als wäre ihm klar gewesen, dass ich die Gratwanderung auf dem felsigen Rücken eines Notizbuches nicht wage. Als wäre ihm klar gewesen, dass ich mich einfach nicht durchringen kann, auch nur ein Wort auf die unbefleckten Seiten zu schreiben. Ich kann es nicht. Ich konnte es noch nie. Und das wird von aller Welt aufs Köstlichste belächelt und ausgenutzt. „Ha – Er hat eine Schwäche… Lasst uns darin baden!“
Verlage bringen zu ihren Neuerscheinungen Notzibücher im Outfit des Buches auf den Markt, ködern mich mit solchen kleinen und völlig unbedeutenden Giveaways. Als wäre ihnen klar, in welchen Gewissenskonflikt sie mich stürzen. Auf Buchmessen werden mir kleine Notizbüchlein in die Hand gedrückt und ich werde das wissende Lächeln der lieben Menschen nicht mehr los, weil sie zu ahnen scheinen, was sie gerade anrichten. Und dann kommt zur absoluten Krönung auch noch ein Notizbuch daher, das mich mit treuem Hundeblick anschaut und dazu auffordert, doch meine Bücher darin einzutragen.
Ha – Skipper. Hast du gedacht! Da kannst du sabbern und winseln. Nix trag ich ein. Kein Buch findet den Weg auf deine Seiten und nach dem Motto „Bücher sind treu„ kannst du jetzt ewig unbeschrieben bei mir bleiben. Da kann der Atlantik Verlag locken, wie er will. Es geht nicht. Ich schaffe es nicht. Psychose. Hassliebe. Alles akzeptiert, nur bitte bleibt mit euren Notizbüchern auf Distanz.
Da Empathie nun nicht wirklich zu den Stärken von Bloggern gehört, verwundert es mich auch nicht, dass sich mein ganzes Umfeld in diesem Jahr dazu verabredet haben muss, mir die allerschönsten Notizbücher der Welt zu schenken. Umschlag nach Umschlag wurde geöffnet und im bunten Gefühlsmix der oben genannten Symptome brach ich lachenweinend mehrfach zusammen. Und was für Exemplare den Weg zu mir fanden!
Cindy verursachte einen absoluten Kollaps mit einem Paperblanks mit originalen Textzeilen von Antoine de Saint Exupéry. Es fühlt sich an, als sei es nicht von dieser Welt und ich habe beschlossen, dass man etwas Himmlisches niemals benutzen darf. Thomas Calliebe hatte wenigstens soviel Mitgefühl, mir ein Paperblank mit dem Titel „Les Miserables“ zu schenken. Nomen est omen. Grausame Fügung, da es meinen Zustand perfekt beschreibt. Und Anja schickte kein Notizbuch, sondern einen Traum in Leder. Geprägt, mit Schlüssel und Wappen. Ein Wunder. Zart geschnürt wie eine junge Frau in einer Korsage. Allzu Verführerisch und doch viel zu wertvoll. Mein Versagen war komplett. Als mich dann auch noch Yvonne und Paulinchen mit einem Notiz-Logbuch mit Anker und Steuerrad überraschten, war meine Konfusion komplett. Ich umgebe mich zwar mit all diesen Schätzen, aber reinschreiben? Gott bewahre… Ich doch nicht…
Schocktherapie, musste sich Verena gedacht haben. Der einzige Weg zur Abhilfe. Magisch verlockend der Satz auf der Verpackung. Magisch verlockend mein Wissen, was der Inhalt wohl verbergen würde. Notarzteinsatz wegen der Zeilen „Pack mich nur aus, wenn du mich auch benutzt!„ Kriseninterventionsteams standen mir bei. Valium war im Einsatz und nach vielen Stunden schafften wir es gemeinsam, die erste Seite ganz individuell zu beschreiben. Ich vibriere noch jetzt.
Nein – ich bin nicht geheilt. Die Hemmschwelle ist gigantisch. Die Gratwanderung zu gewagt. Ich zaudere, zögere und verzweifle an mir selbst. Zuspruch kommt nur wenig. Einzig Ronja scheint mich zu verstehen „Was? Da kann man reinschreiben?“ war wohl der schönste Satz in diesen Tagen! Macht nur weiter so. Schickt mir Notizbücher. Weidet euch an der grünen Aue meines Leidens. Genießt meine Zusammenbrüche und Anfälle und helft meinem Alter Ego, ständig im Recht zu sein.
Kladden von Gerstenberg scheinen ein erster Ansatz zur Therapie zu sein, die wirkt. Bianca hat mir eine wundervolle Hyperdosis verabreicht und da die äußere Hülle nicht mit dem Papier verbunden scheint, fällt es leicht, dieses Kunstwerk mit Leben zu füllen. Eine orientalische Paperblanks Taschenmappe liegt nun auch neben mir und sammelt die schönen losen Blätter meiner Gedanken ein. Und immer wieder höre ich das leise gehauchte „Du wirst es ja doch nicht benutzen!“ Ich will stark sein. Ich will mich beherrschen beim Einkauf. Ich will mich zügeln, aber es geht nicht so leicht.
Ich werde in Leipzig ein Notizbuch bei mir haben. Vielleicht gelingt es euch ja, mich dort zu motivieren, mit euch gemeinsam darin rumzumalen, zu schreiben, zu klecksen und es einfach zu genießen, aus den eigenen Zwängen auszubrechen. Helft ihr mir? Ich hoffe sehr darauf und setze auf euch. Danke für all die beherzten und liebevollen Verführungen der letzten Wochen. Sie sind tief in meinem Herzen verankert und waren verantwortlich für diese kleinen schonungslosen Blick in den Spiegel.
Vielleicht bilden wir dort wirklich den psychiatrischen Sitzkreis der Unheilbaren, stellen uns gegenseitig vor und lauschen den Worten der Mitbetroffenen. „Ich bin der Raily und hab´ da ein Problem!“ So könnten wir einen zarten Anfang machen und die Selbsthilfegruppe der „Anonymen Notebookaholics“ ins Leben rufen.
Jetzt muss ich aber ganz schnell los. Ich habe da etwas im Schaufenster meiner Buchhandlung gesehen, das ich einfach nur anfassen möchte. Nur mal gucken… Versprochen….!