Die Sehnsucht des Vorlesers von Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers - Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers – Jean-Paul Didierlaurent

Es ist kein Geheimnis, dass ich meine Tage stets mit einem guten Buch beginne. Zu früher Morgenstunde sitze ich in meiner S-Bahn und kann in aller Ruhe die ersten Seiten meines Tages in vollen Zügen genießen. Dabei verhalte ich mich eigentlich sehr ruhig und absolut zurückhaltend. Also nicht zu vergleichen mit Guylain Vignolles, der seine morgendlichen Fahrten zur Arbeit im öffentlichen Nahverkehr von Paris auf eine ganz besondere Art und Weise zelebriert.

Sein „6 Uhr 27 Regionalzug“ ist mehr für ihn, als ein Transportmittel. Mehr als nur ein Zug. Und für die Passagiere, die das Vergnügen haben, ihm schon zu dieser frühen Stunde zu begegnen, ist Guylain mehr als ein normaler Fahrgast. Er ist willkommene Abwechslung vom Alltag und komischer Kauz zugleich. Ein Kauz jedoch, den man mit großem Wohlwollen und Nachsicht toleriert. Denn wer steht schon in aller Früh in einem fahrenden Zug auf und liest seinen Mitreisenden vor?

Wer breitet um diese Uhrzeit schon eine Sammelmappe voller loser Blätter aus und beginnt nach einem unauffälligen Räuspern und begleitet vom andächtigen „Pst“ seiner Mitfahrer mit dem morgendlichen Ritual des Vorlesens? Es ist jener Guylain Vignolles 36 Jahre alt, unscheinbar, Mitarbeiter in einer Altpapier-Recycling-Firma und Bediener einer Maschine, die man als literarischen Höllenschlund bezeichnen könnte. Und genau dieser Beruf, diese Maschine und sein Alltag sind daran schuld, dass er seine große Liebe in aller Öffentlichkeit zelebriert, wie einen andächtigen Gottesdienst.

Die Sehnsucht des Vorlesers - Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers – Jean-Paul Didierlaurent – Die Zerstör 500

Es ist die unstillbare „Sehnsucht des Vorlesers“, die ihn treibt. Eine Mischung aus Widerstand gegen seinen Beruf und Aufbegehren gegen die alltägliche Blindheit der Menschheit für die Zerstörung, die vor ihren Augen um sich greift. Guylain Vignolles vernichtet Bücher. Und dies tonnenweise. Tag für Tag. Stunde um Stunde. Er sitzt am Hebel der unersättlichen „Zerstör 500“, die in der Lage ist mit ihren Walzen, Messern und Hämmern aus den pausenlos angelieferten Containern voller Bücher einen zähen Brei entstehen zu lassen, der als Rohmaterial für neue Bücher verwendet wird.

Und so vernichtet er täglich seine größte Liebe. Die gebundenen Klassiker seines Lebens, die niemals verkauften Auflagen vielversprechender Werke und die Ladenhüter einer schnelllebigen Lesegesellschaft. Die ausgelesenen Bücher, die nie mehr gelesen werden sollten und die im Wohlstandsmüll entsorgten Wegbegleiter des Lesens. Nichts bleibt von ihnen übrig. Unwürdig erscheint der Prozess ihrer Vernichtung und am Ende des großen Papierfressens und Verdauens erweist sich die unersättliche „Zerstör 500“ als ein Kulturmörder allererster Güte.

Warum Guylain Vignolles genau dort arbeitet? Das zeigt sich jeden Morgen auf der Fahrt zur Arbeit. Er ist das kleine Sandkorn im Getriebe der Büchervernichtung. Er ist der subversive Rebell, der seinen aktiven Widerstand nur leben kann, wenn er im Auge des Orkans heimlich aufbegehrt und rettet, was unrettbar verloren scheint. Jeden Tag entreißt er der seelenlosen Maschine ein paar lose Seiten, die dem Untergang geweiht waren und erweist ihnen im Zug die letzte Ehre.

Die Sehnsucht des Vorlesers - Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers – Jean-Paul Didierlaurent

Es sind seine Findelkinder. Die einzigen Überlebenden des Massakers, die er aus dem Rachen des Monsters befreit, sie liebevoll aufpäppelt und denen er am nächsten Morgen vor staunendem Publikum ihre Wiedergeburt ermöglicht. Das ist es, was ihn lenkt. Hier liegt sein Geheimnis verborgen. Es ist diese Sehnsucht des Vorlesers, die ihn antreibt, und niemanden im Zug scheint es zu stören, dass es einzelne Seiten ohne jeden erkennbaren Zusammenhang sind, die Guylain Vignolles zum Besten gibt. Hier haben der Vorleser und seine Zuhörer eines gemeinsam:

„Was zählte, war der Akt des Vorlesens!“

So tauchen wir ein in das Leben eines besonderen Menschen. Einerseits einer der größten Idealisten unserer Zeit, andererseits ein wagemutiger Rebell, der unter dem Deckmantel eines Mitläufers an jedem Tag kleine literarische Heldentaten begeht. Und das Risiko ist groß, wenn man sich nur seinen besten Freund anschaut, dessen Beine für immer im Bücherbrei verschwunden sind, nachdem er in die „Zerstör 500“ gezogen wurde.

Und doch ist es nur ein kleines, bescheidenes und sehr einsames Leben unseres modernen Don Quichote, das ihn im verzweifelten Kampf gegen die messerscharfen Windmühlen aufzusaugen scheint. Die Schuld wiegt schwer für ihn. Das Reinwaschen gelingt nicht immer und das Ausmaß der von ihm geretteten Seiten im Vergleich zur vernichteten Masse ist bescheiden. Es könnte ewig so weitergehen, würde sein Leben nicht von einem auf den anderen Tag aus seinem gewohnten Rhythmus geworfen.

Die Sehnsucht des Vorlesers - Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers – Jean-Paul Didierlaurent – Findelkinder

Denn Guylain Vignolles wird fündig. Der Zufall meint es gut mit ihm, als er eines Morgens an seinem angestammten Platz in der Bahn einen unscheinbaren USB-Stick findet. Die Suche nach dem Besitzer öffnet dem stillen Helden die Tür zu einer anderen Welt. 72 Dateien findet er. 72 Dateien voller Worte, die ihn tief treffen und berühren. 72 Seiten des Tagebuchs einer jungen Frau aus Paris erweisen ihr nun vor seinen Augen eine besondere Ehre. Der Ausbruch aus seinem Alltag trägt einen Namen: Julie. Sie zu finden wird zur Mission für Guylain Vignolles.

Und welcher Weg wäre da wohl geeigneter, als jener, den die „Sehnsucht des Vorlesers“ bereits vorgezeichnet hat. Was würde geschehen, wenn Guylain statt der geretteten Seiten nun aus dem Leben der unbekannten Julie rezitierte? Könnte es nicht sein, dass sie ihm dabei zuhört und sich ihre Wege kreuzen? Oder wäre das zu einfach in einem Leben, das alles zu sein scheint… Nur nicht einfach. Aber wie sollte er Julie finden, und wie könnte er ihr nur sagen, was er beim Lesen der Findelkinder aus ihrer Feder empfindet? Er braucht dringend Hilfe!

Jean-Paul Didierlaurent gestaltet in seinem Roman „Die Sehnsucht des Vorlesers“ einen vielschichtigen Erzählraum der scharfen Kontraste. Nur vordergründig erzählt er von einem Menschen, der am „Zerstör 500“ die Seiten seines Lebens zermalmt und einen kleinen Weg gefunden hat, sich aufzulehnen. Didierlaurent spricht hier von jedem Beruf, von jeder Profession, die zur Belastung werden kann, wenn sie den ureigenen Prinzipien und Leidenschaften widerspricht. Der große Papierfresser wird sinnbildlich zum Kannibalen, der den Menschen mit Haut und Haaren verschlingt.

Die Sehnsucht des Vorlesers - Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers – Jean-Paul Didierlaurent – Poetische Tiefe

Als Gegenentwurf präsentiert uns der französische Autor eine junge Frau, die in einer nicht gerade appetitlichen Arbeitsumwelt ihre Berufung gefunden hat. Ihr kleines Königreich wirkt dabei auf andere Menschen so befremdlich, dass man sich nicht auch nur einen Moment vorstellen kann, warum sie diesen Beruf liebt. Diese beiden Entwürfe zu vereinen ist die große Leistung dieses poetischen, romantischen aber auch deftigen Romans. Denn an der Grenze der Welten von Guylain und Julie vereint sie nur die Einsamkeit ihrer Herzen. Traumprinzen sind rar gesät und den wirklichen Prinzessinnen der Herzen sieht man selten an, dass sie alleine sind. Manchmal muss das Schicksal helfen, um zwei Menschen auf Kurs zu bringen, die ansonsten lebenslang aneinander vorbei gedümpelt wären.

„Die Sehnsucht des Vorlesers“ ist verliebt, obsessiv, romantisch, unglaublich lustig und dann wieder emotional. Die Charaktere am Rande der Geschichte verblassen nicht zu Statisten. Sie tragen die Geschichte und die Menschen von denen sie erzählt. Wir lernen einen zutiefst poetischen Schrankenwärter kennen, der dem realen Leben mit Reimen auf den Pelz rückt und dabei selbst wie ein großer Dichter wirkt. Wir begegnen einem Opfer der „Zerstör 500“, das seit einem tragischen Unfall auf der Suche nach seinen Beinen ist und erleben tief bewegt, wo sie wohl zu finden sind.

Wir treffen auf Menschen in einem Seniorenheim, für die das Vorlesen eine große Bedeutung hat, auch (oder ganz besonders), wenn das Findelkind zufällig aus einem pornografischen Roman stammt. Da kommt Leben in die Bude. Und wir lernen mit Guylain und Julie zwei Suchende kennen, denen wir von der ersten Seite an wünschen, dass sie sich doch bitte finden mögen und ihre beiden Welten vereinen. Ich habe die letzten Seiten dieses emotionalen Romans mehrmals gelesen. Aus gutem Grund:

Ich liebe Gänsehaut beim Lesen und zelebriere mein LachenWeinen. 

PS: Ich verdanke Steffi von Nur Lesen ist schöner – eine Ode an das Lesen dieses absolute Herzensbuch. Eine Entdeckung, die ich wohl ohne sie nicht gemacht hätte. Ich hätte nie vom „Zerstör 500“ erfahren und wüsste nicht, wie eine kleine Kachel das Leben verändern kann. Ich habe mich in Guylain wiedergefunden, verstehe seinen Antrieb und fühlte mich ihm nah. Nicht nur in der S-Bahn. Uns verbindet auch ein wenig die Art zu schreiben. Romantiker eben…

PPS: Ich wohne, lese und lebe in der Livry-Gargan-Straße zu FFB. Kein allzu häufiger Straßenname in Bayern. Es handelt sich hierbei um die französische Partnergemeinde von Fürstenfeldbruck. Diese kleine Stadt in Die Sehnsucht des Vorlesers zu finden hat mich im Gefühl bestärkt, dass dieses Buch zu mir finden musste. Manchmal fügt sich vieles in meiner großen Lesereise unter dem Motto: Bücher über Bücher.

Wenn auch DU in den Genuss dieses Romans aus dem dtv-Verlag kommen möchtest, der niemals seinen Weg in den „Zerstör 500“ finden darf, dann rette ihn doch bittte mit einem Kommentar zu diesem Artikel und lass mich wissen, welches Buch Du gerne in der Öffentlichkeit laut vorlesen würdest. Und das „WARUM“ interessiert mich dabei besonders. Unter allen Einsendungen wird das besondere Geschenkpaket verlost…

Und seit dem 6.11. 2015 um 17 Uhr haben wir einen Gewinner:

die sehnsucht des vorlesers_jean paul didierlaurent_astrolibrium severs

Bei der Buchhandlung Calliebe dürft ihr euch trösten… Hier wird immer geholfen:

Die Sehnsucht des Vorlesers - Jean-Paul Didierlaurent

Die Sehnsucht des Vorlesers – Jean-Paul Didierlaurent