„Der einhändige Briefträger“ von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Heute streikt die Post. Gerade heute. Keine Rechnungen, Postkarten, Bücher oder Briefe erreichen die kleine literarische Sternwarte an diesem Tag und man realisiert, wie sehr man trotz der spürbaren Allgewalt elektronischer Kommunikation auf die gute alte Post angewiesen ist. Gerade heute streikt die Post. Genau an dem Tag, den ich mir ins Auge gefasst habe, um ein Buch Gegen das Vergessen vorzustellen, in dem es um einen Postboten geht. Allerdings zu einer Zeit, in der man sich den heutigen Poststreik gerne gewünscht hätte. Aber wie so vieles, lief selbst im untergehenden Dritten Reich selbst dies noch nahezu bürokratisch reibungslos.

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang, erscheint genau 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges beim Ravensburger Buchverlag. Am 8. Mai 1945 begann das Schweigen der Waffen an allen Fronten. Kapitulation. Der lang ersehnte Friede, jedoch unter den Vorzeichen der totalen Niederlage nach dem totalen Krieg. Es dauerte jedoch seine Zeit, bis der letzte Schuss verhallte, der letzte Tote zu Boden sank und das letzte Opfer zu beklagen war. Ebenso wenig, wie die Befreiten der KZ`s tatsächlich frei sein durften, brach plötzlich in ganz Europa der Friede aus. Gar nicht plötzlich.

Johann Portner ist Briefträger. Kein gewöhnlicher Briefträger allerdings, denn er ist vom Krieg gezeichnet. Nur eine Hand ist ihm geblieben und eigentlich hat er es dieser Verletzung zu verdanken, dass er nun, im September 1944, nicht mehr selbst an der Front kämpfen muss. Zum Briefe Austragen reicht es. Das geht auch einhändig. Sein Gewissen jedoch stellt ihm die immer gleiche Frage. Warum habe ich überlebt und warum muss ausgerechnet ich jetzt die „Schwarzen Briefe“ zustellen, die sich nun in den letzten Kriegsmonaten häufen.

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Todesnachrichten, die zumeist mit den Worthülsen „Hat bis zuletzt, tapfer für Führer, Volk und Vaterland, blabla“ versehen den Weg von den vielen Fronten bis in die Heimat finden. Statt Feldpost vom herbeigesehnten Sohn, Bruder, Vater oder Ehemann liegt nun der Schatten des Todes in der Posttasche des jungen Mannes. Und dabei hat er nur die Hand, nicht jedoch sein Herz im Krieg verloren.

An sein Erscheinen vor der Haustür klammern sich Hoffnungen und Ängste der Daheimgebliebenen. Einerseits sehnt man ihn herbei, andererseits schwingt sich die Panik in den Sattel der Wartenden, wenn er vor der Tür verharrt, wenn er zögert und versucht, den letzten Gang hinauszuzögern. Angstvoll sind die Blicke, wenn man ihn mit einem weißen Kittel über der eigentlichen Postuniform sieht. Ein Kittel, der die Jacke schützen soll. Vor Tränen der Verzweiflung, wenn die Witwen aus den Dörfern Halt bei ihm suchen.

Halt bei einem jungen Mann, der selbst auf der Suche ist. Auch sein Leben ist aus der Spur geraten. Die Verantwortung lastet zu stark auf seiner Seele und auf seinen täglichen Wegen durch sein Briefrevier wird er Zeuge aller Absonderlichkeiten dieses Krieges. Er hört alle Gerüchte über Todeslager, über Euthanasie in Kinderheimen, über Gräueltaten, die begangen werden und von den immer zahlreicheren Flüchtlingen, die das Land überfluten erfährt er von der grausamen Rache der Eroberer im Osten.

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Er wird einziger Zeuge der Zusammenbrüche von Nachbarn und guten Bekannten. Er erkennt die Täuschungsmanöver der Nazi-Bonzen aus der Region und er leidet mit denjenigen mit, die psychisch traumatisiert die Realität nicht mehr erkennen können. All dies nagt an seinem Herzen und doch schimmert ein kleiner Funke Hoffnung mit, wenn er die Tasche schultert und die bittersüße Last von Haus zu Haus trägt. Ein junges Mädchen, in das er sich verliebt hat. Eine junge Hebamme auf der Flucht zu ihren Eltern. Sie versprach ihm, zurückzukommen, wenn nur der Krieg beendet ist.

Johann Portner ist unser Weggefährte in diesen letzten Tagen des zweiten großen Weltenbrandes. Wir erleben mit ihm das traurige Weihnachten 1944, zählen mit ihm gemeinsam die steigenden Zahlen der Toten und Vermissten. Anfang Mai 1945 hat die kleine Ansammlung von Dörfern bereits 79 Tote und 21 Vermissten zu beklagen. Kaum zu verkraften in einem ländlichen Gebiet. Kaum zu schultern, ein Wiederaufbau ohne Männer. Fragen über Fragen trägt er in seiner immer schwerer werdenden Tasche mit sich herum, die doch nur noch die gleichen leeren Nachrichten enthält.

Und als wollte die Geschichte die Hinterbliebenen auch noch verspotten, beginnt die Feldpost zunehmend unzuverlässig zu werden. Wie sollte es auch anders sein. An einem Tag kommt der Todesbrief und wenige Tage später ein freudiger Brief von der Front, in dem der bereits Gefallene seinen Lieben hoffnungsvolle Grüße schickt. Kein Raum für Hoffnung. Kein Platz für Zukunft. Nur das zarte Licht am Horizont, das wie ein junges Mädchen schimmert.

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Als der Krieg endet, beginnt das Chaos. Abrechnung, Rache und sinnloses Sterben gehen Hand in Hand. Alte Rechnungen werden beglichen und das letzte Zucken des besiegten Regimes ist spürbar. Beweise wollen vernichtet werden. Zeugen beseitigt und andererseits schlägt die Vergangenheit zurück und straft diejenigen, die auf Seiten der Nazis grausames Leid verursachten. Der Friede ist ein Abdriften in einen rechtlosen Raum.

Ob es zwei Menschen, die niemals einer Fliege etwas zuleide getan haben gelingen wird, in diesen Wirren zueinander zu finden ist eine der Fragen, die mich durch diesen Roman getrieben haben. Es ist eine berechtigte Frage angesichts des Leids und der enttäuschten Hoffnungen, die Gudrun Pausewang in aller Klarheit anspricht. Sie macht ihre Leser zu Bewohnern des abgelegenen Landstrichs. Wir tauchen tief in das verletzte Seelenleben der Dörfler ein und betrachten die ankommenden Briefe voller Angst.

Wir lauschen den Gerüchten über das nahende Kriegsende, erleben Auflösung und Flucht, schütteln den Kopf angesichts des Geschwafels von der Wunderwaffe und hoffen doch so sehr, dass nicht alles dem Untergang geweiht ist. Und wir vertrauen darauf, dass Gutmütigkeit nicht schon wieder bitter verraten wird. So gehen wir mit Johann Portner los, schultern gemeinsam die Posttasche und hoffen auf die Zukunft. Ein Leben nach dem Krieg. Einhändig ja… aber vielleicht mit zwei Herzen.

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger von Gudrun Pausewang

Der einhändige Briefträger“ von Gudrun Pausewang entführt seine Leser in das Hinterland des Krieges und lässt das trügerische Gefühl aufkommen, nur indirekt von den Ereignissen betroffen zu sein. Das Gemetzel an der Front schlägt nur vereinzelt bis in die Heimat durch. Und dann auch nur in Form gleichlautender Briefe. Man nimmt Gerüchte auf, die sich von Seite zu Seite zu einem komplexen Mosaik fügen, das zeigt, wieviel man in der Heimat vom Schrecken des Nationalsozialismus wusste.

Ich habe einen ganz persönlichen Zugang zu diesem Buch, da ein Zeitzeugnis des Weihnachtsfestes 1944 täglich neben mir liegt. Ein Ring, überbracht wohl auch von einem Briefträger, vor dem man sich im Hause meiner Großeltern fürchtete. Wie Hohn und Spott für die Hinterbliebenen auch hier eine mehr als dramatische Verwechslung. Ein Postschicksal, das meine ganze Familie prägte. Den Artikel „Weihnachten 1944 – Ein Ring der alles veränderte“ kann ich nur ans Herz legen. Hier habe ich mein Herz ausgeschüttet…

Gudrun Pausewang schrieb ein Jugendbuch und sie bewegt sich in der Schilderung der Gräuel dieser Zeit auf einer konstanten und sehr gelungenen Gratwanderung. Die indirekte Perspektive auf den Zusammenbruch trifft alle Leser in dem Bereich, der das Verstehen so deutlich fördert – in den eigenen Gefühlen. Man darf und soll ein solches Buch nicht unterschätzen. Es ist ein klarer Appell gegen den Krieg. Zeitlos. Kritisch und aufrecht und nicht verharmlosend. Das zu allerletzt.

Denn ganz am Ende, ja ganz am Ende beweist die große Erzählerin Pausewang, dass unser Schicksal oft am seidenen Faden hängt und der Zufall das Schicksal bestimmt. Unterschätzt mir dieses Buch nicht. Nicht bevor ihr das Wort „ENDE“ gelesen habt. Nicht bevor ihr selbst in die Posttasche von Johann Portner greift.

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