„Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ – David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek – David Whitehouse

„Die Bibliothek hatte ihre Geschenke in sie hineingepflanzt.
Wörter.
Mikroskopisch kleine,
feinste Spuren menschlicher Erfahrungen,
die ihnen für immer ins Blut übergegangen waren.
In jede Entscheidung, die sie von nun an trafen,
würden das Wissen und die Erfahrung
tausender Romanfiguren einfließen,
deren Leben in den vier Wänden
der Bibliothek enthalten waren.“

Ab dem 15. Mai zweistimmig hörbar bei Literatur Radio Bayern

Diese  Rezension hörbar bei Literatur Radio Bayern – Ein Klick genügt.

Jetzt liegt es neben mir und ruht sich aus. Ein ganz besonderes Buch war in den letzten Tagen mein treuer Wegbegleiter und doch bin ich ihm ein wenig böse, da es mich scheinbar an der buchigen Nase herumgeführt hat. Als ich das malerisch poppig bunte Cover zum ersten Mal sah und mir den Titel auf der Zunge zergehen ließ, war mir klar, dass ich es hier mit einem Roman in meiner Lese- und Artikelserie Bücher über Bücher zu tun haben musste. Ich versprach mir literarische Welten und eine ganze Busladung voller Klassiker. Doch es sollte anders kommen, als ich es erwartet hatte.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek von David Whitehouse aus dem Hause Tropen Verlag hat mich von der ersten Seite an gefesselt und  in eine Story entführt, die auf den ersten Blick wirklich nur die Ausgangssituation sein sollte, um eine gewagte Flucht in einem britischen Bücherbus halbwegs plausibel erscheinen zu lassen. Was dann geschah, ist auch heute noch schwer in Worte zu fassen, da es sich wohl um die größte Überraschung handelt, die ich in diesem Jahr in einem Roman erleben durfte.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek – David Whitehouse

1. Kapitel – ENDE

Am Ende meines Lesens wird mein Weg durch diese Flucht von unzähligen PostIts markiert, wobei es besonders augenscheinlich ist, dass die Farbe Orange sehr deutlich dominiert. Und genau diese kleinen orangefarbenen Wegzeichen sind die wertvollsten, da sie die Zitate herausstreichen, auf die ich in meinem zukünftigen Lesen nicht mehr verzichten möchte. Dieser Leseweg in Orange wird mir auch noch in Jahren auf den ersten Blick vor Augen halten, in welch literarischer Tiefe und sprachlicher Strahlkraft mich dieser Roman für alle Zeiten gefangen hält.

Aber fangen wir doch einfach dort an, wo David Whitehouse beginnt. Mit dem Ende der Geschichte. Wir stehen atemlos einer beängstigenden Szenerie gegenüber. Ein riesiger Bücherbus am Rande der schottischen Klippen, von Polizisten umstellt, wohl die allerletzte Etappe einer landesweiten Flucht. Zwei Kinder, die es wohl gerade noch schaffen, die rollende Bibliothek zu verlassen, zwei Erwachsene im Bus, Polizei kurz vor dem Zugriff, als plötzlich dunkler Rauch den traurigen Mantel des Schweigens über die finale Explosion legt.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek – David Whitehous

„Er war der Archivar seiner Mutter.
Häuser sind wie Körper.
Ihre Erinnerungen finden sich
in den Narben wieder,
die ihnen geblieben sind
Bobby stellte sich vor, wie stolz seine
Mutter auf sein Archiv sein würde,
wenn sie zurückkehrte.“

Dieser Rauch begleitet uns wie ein gigantischer retrograder Cliffhanger durch den ganzen Roman, der uns nun in Rückblenden sowohl die Menschen vorstellt, die sich mit einem achtachsigen Monsterbücherbus auf der Flucht befinden, als auch ihre guten Gründe ans Tageslicht bringt, die für diese abenteuerliche Fahrt ausschlaggebend sind. Der Leser wird zum Fluchthelfer ganz besonderer Menschen und er wird es lesenslang bleiben. Das kann ich versprechen.

Da ist Bobby Nusku, ein elfjähriger Schüler, der in seinem kurzen Leben wohl mehr zu verkraften hatte, als es überhaupt noch erträglich scheint. Die Mutter nach einem Unfall verschwunden, der Vater mit einer neuen Freundin zusammen und statt Wärme und Zuneigung herrschen Gewalt und Angst im Hause Nusku. Bobby wünscht sich nichts mehr in seinem Leben, als dass seine Mutter wieder nach Hause kommt, und macht sich in den ehemals gemeinsamen vier Wänden zu ihrem persönlichen Archivar. Er sammelt alle Andenken, Gerüche, ihre Haare, einfach alles erdenklich Fühlbare, um sie bei sich zu haben.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek – David Whitehouse

„Das war Freundschaft.
Wenn dir jemand den Schlüssel
für einen bis dahin zugesperrten
Teil deiner Seele gab.“

Bobby lebt in Angst. Angst ist sein täglicher Begleiter und in der Schule wird diese Angst ausgenutzt und in Panik gesteigert. Ein Kreislauf aus dem er alleine nicht fliehen kann. Nur ein einziger Freund steht an seiner Seite. Sunny. Eine tragische und große Freundschaft im inneren Kreis aus Gewalt, Mobbing und Ausgrenzung. Als Sunny zum Äußersten greift, um seinen Freund zu beschützen, müssen beide feststellen, dass ihr Traum von Sicherheit in einer grausamen Seifenblase zerplatzt. Bobby ist nicht zu helfen.

Bis er Rosa Reed begegnet. Einem 12jährigen behinderten Mädchen aus der direkten Nachbarschaft. Rosa sammelt Namen, um sie in ihrem Notizbuch zu verewigen. Und wenn sie einmal einen Namen einträgt, dann ist das die selbstloseste und aufrichtigste Liebeserklärung, zu der sie fähig ist. Als sie den Verfolgern von Bobby zum Opfer fällt schließt sich ein magisches Band um die Kinder. Eine tiefe Verbindung, die von Rosa´s Mutter mit Leben gefüllt wird. In ihrem Garten steht der riesige Bücherbus und um die beiden Kinder in Sicherheit zu bringen, beschließt sie die gemeinsame Flucht.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek – David Whitehouse

„Liebe war in ihren Augen eine Konstante.
Sie war ein Gefühl, das nicht einfach so kam
und wieder ging, sie wuchs nicht
und sie ließ auch nicht nach.
Man verliebte sich nicht
und man entliebte sich nicht.

Liebe, das war der Schlupfwinkel,
den sie in der Achselhöhle ihrer Mutter fand.
Sie entwickelte sich nicht,
sie war einfach da, im Hier und Jetzt,
ohne jede Vergangenheit oder Zukunft.
Liebe war eben einfach nur.“

Als sie dann unterwegs auf den meistgesuchten Ausbrecher des ganzen Landes stoßen, vereinen sich nicht nur ihre Wege zu einer aberwitzigen Flucht. Auch die Polizei vermag es nun, mit vereinten Kräften nach der Kindesentführerin und dem Verbrecher zu suchen. Eine Suche, die am Rande der schottischen Klippen in einem explosiven Fiasko endet. Und glaubt mir, es ist wohl eines der schönsten Fiaskos, das man sich als Leser nur vorstellen kann.

David Whitehouse erzählt nicht nur von ausweglosen Situationen im Leben. Er nimmt seine Leser mit auf eine Reise in die Unterwelt des Mobbings und der Gewalt gegen Kinder. Er schärft den Blick gegen Vorverurteilung und Klischees. Er zeigt, was es bedeutet, in Angst zu leben und wie tief die Abgründe werden können, wenn sie zum einzigen Fixpunkt im Leben wird. Dabei entwickelt er seine Protagonisten so nachhaltig, dass man sich in einem fortwährenden Zustand des Gänsehautlesens befindet.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek von David Whitehouse und Bis heute von Shane Koyczan

David Whitehouse und  Shane Koyczan – Eine buchige Verbindung

Der unbezähmbare Schmerz,
den das Lachen der anderen
Menschen hervorruft…
Auch er hatte sich schon oft so gefühlt,
als wäre er bis in die Knochen
mit Radioaktivität verseucht!“

Dass er seine Handlung in einem Bücherbus ansiedelt ist für bibliophile Menschen die schönste Begleiterscheinung seines grandiosen Romans. Die Kinder fliehen in die Geschichten, verstecken sich in den Romanfiguren, die ihren Weg begleiten und finden Halt im Kleinen Prinzen oder Harry Potter. Und die beiden Erwachsenen an ihrer Seite bestätigen sie in ihrer Fantasie, engen sie nicht ein, sondern verleihen ihnen Flügel.

Ein wirklich großer Roman über wahre Freundschaft und die Liebe zur Literatur. Eine große Botschaft, die David Whitehouse damit in die Welt trägt. Alleine schafft man es nicht und wirklich wahre Freunde gehen gemeinsam durch Dick und Dünn, wenn es darum geht vorbehaltlos füreinander einzustehen. Und manchmal ist es wohl die beste Tarnung der Welt, eine Familie zu sein.

Die großen Geschichten verbergen sich hinter dem Offensichtlichen und der Blick in die Tiefe einer verletzten menschlichen Seele vermag es vielleicht, den Menschen zu verbessern. Seine Sinne zu schärfen. Jugendliche und Erwachsene sollten sich der „Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ ausliefern und sich darüber unterhalten. Sie werden gemeinsam Unvergessliches erleben.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse - Bücher über Bücher

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek – David Whitehouse – Bücher über Bücher

„Die letzten Monate hatten sie gelehrt,
dass es nicht darauf ankam,
wie gut du schwimmen kannst,
sondern an wem du dich
unterwegs festhältst.“

Manche Bücher gehen unsichtbare Verbindungen miteinander ein, die man als Leser nicht trennen sollte. Als ich die Passagen der rohen Gewalt im Elternhaus und der Schule im Roman von David Whitehouse las, musste ich anBis heute – Für die Schönen und Geschundenen von Shane Koyczan denken. Hier gehen beide Bücher in Bild und Botschaft aufrichtig Hand in Hand. Was Whitehouse erzählt, wird im Buch zum Lebensprojekt von Koyczan so tief in Szene gesetzt, dass man einfach nur staunt.

Wenn man sich schon in eines der beiden Werke gewagt hat, dann sollte man um des Lesens Willen auch dem anderen Buch eine Chance geben. Sie öffnen Türen zu gegenseitigem Verständnis und bleiben ewig im Lesegedächtnis haften. Beides sind mehr als nur Bücher. Sie sind viel mehr als nur Leitfäden und sie sind alles, nur keine Ratgeber.

Sie sind Literatur. Und genau diese Art von Literatur lässt uns nicht allein. Darum lesen wir.

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