Es ist mal wieder an der Zeit, das buchige Lesepferd zu satteln und in einem gewagten Zeitsprung die kleine literarische Sternwarte zu verlassen und in den echten Wilden Westen zu reiten. Ich weiß dabei genau, worauf ich mich einlasse, denn nach meinem letzten abenteuerlichen Besuch im „Dickicht“ von Joe R. Lansdale ist mir eine große Western-Erkenntnis geblieben: Das Genre lebt!
Besonders dann, wenn ein echter Western alle Elemente mit sich bringt, die man sich als Leser in seinen kühnsten Abenteuerträumen erhofft und erwünscht. Die endlose Weite der Landschaft, ein paar authentische Charaktere und eine Handlung, die sich eben in anderen Genres nicht so leicht entwickeln lässt. Also schnell die Packliste durchgehen und alles in die Satteltaschen, was ich so für einen langen Ausritt dringend benötige.
„Butcher`s Crossing“ – so heißt mein Ziel, irgendwo in Kansas soll es liegen und im eigentlichen Sinn kann man nicht von einer Stadt sprechen, obwohl das Kaff alle Merkmale aufweist, die damals erforderlich waren um als solche wahrgenommen zu werden. Ein Hotel, ein Saloon, eine Straße und ein paar Häuser. Mehr brauchte es schon nicht. Jedenfalls nicht in der Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Das Land begann sich gerade zu erholen, aufzuatmen und die Besiedelung des Wilden Westens geriet immer mehr in den Fokus der Menschen aus den großen Städten im Osten. 1870 – ein bewegtes Jahr…
„Butcher`s Crossing“ dümpelt noch am Rande der endlosen Prairie vor sich hin und hat eigentlich gar nichts als Natur zu bieten. Die Eisenbahn ist noch nicht in die entlegenen Winkel vorgedrungen, aber die ersten Vorboten der wachsenden Gier einer großen Nation haben sich auch hier bereits mehr als breit gemacht. Denn dieses kleine unscheinbare Örtchen liegt inmitten eines Landstrichs der für seinen Reichtum an Büffelherden bekannt war.
War! Richtig. Unzählige Jagdtrupps haben die unzähligen Büffel dezimiert und das Geschäft mit der Jagd auf die wertvollen Felle wird immer schwieriger. Nur noch kleine und gut verteilte Herden durchziehen die Landschaft. Die großen Zeiten der Jäger sind schon Vergangenheit. Dabei war es eigentlich gar keine Jagd. Es war das große Schlachten. Mehr kann man dazu nicht sagen. Das Fleisch ließ man vergammeln. Schnell das Fell abziehen und ab in die großen Städte. Die Nachfrage ist riesig.
Man konnte reich werden, wenn man gut war. Aber das ist lange her. Jetzt kommen nur noch selten Fremde ins diesen Landstrich, jedenfalls nicht mehr um das große Geld zu machen, sondern aus vielleicht sogar idealistischen und verklärten Gründen. Will Andrews zum Beispiel hat gerade die Universität beendet und folgt nun einem inneren Antrieb, die Landschaft des Westens einmal so zu erleben, wie sie sein großes Vorbild Ralph Waldo Emerson beschrieben hat.
Der junge Mann träumt von einer besonderen Beziehung zur unverfälschten Natur, versucht alle Klischees des Großstadtdenkens hinter sich zu lassen und den Menschen in „Butcher`s Crossing“ ebenso unverfälscht zu begegnen, wie er es selbst von ihnen erwartet. Ein Idealist und dabei doch zugleich ein absolutes Greenhorn, wenn es darum geht, den Westen auf eigenen Faust zu erobern.
Als er von einem der erfahrensten Büffeljäger der Gegend erfährt, dass es noch eine einzige unermesslich große Herde in einem weit abgelegenen Tal in den Colorado Rockies geben soll, erliegt er dem Lockruf, sich dieses Naturwunder mit eigenen Augen anzuschauen. Bevor er es sich richtig überlegt hat, steckt er bereits mitten im größten Abenteuer seines Lebens. Und da sonst niemand bereit ist, dem Einzelgänger Miller das Märchen von den Büffeln zu glauben, investiert der junge Mann ein Vermögen, um seine große Jagd nach dem verloren geglaubten Paradies selbst auszustatten.
Ein Fuhrwerk, ausreichend Munition, Verpflegung für ein paar Wochen und eine kleine aber fein ausgewählte Mannschaft. Mehr braucht es nicht, um endlich zu starten. Unter der Führung des erfahrenen Jägers Miller macht man sich gemeinsam auf den Weg. Vier Männer auf der Suche nach der letzten Chance, diese riesige Herde zu finden und ihren Traum vom Glück realisieren zu können. Und doch ist einer von ihnen anders. Will Andrews folgt seinen Gefühlen, als gebe es in jenem Tal Antworten auf alle Fragen seines Lebens.
Als er kurz vor der gemeinsamen Abreise aus „Butcher`s Crossing“ eine verstörende Erfahrung mit der Prostituierten Francine durchlebt, geht ihm diese Frau nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht war es die erste und einzige Frau in seinem Leben, die sich für ihn geöffnet hätte – und das nicht aus geschäftlichem Interesse, aber er ergriff lieber die Flucht. Eine Entscheidung, die er in so mancher langen Nacht bitter bereuen würde.
So, wie er allen Grund gehabt hätte, das gesamte Unternehmen zu bereuen, denn nichts läuft so, wie es geplant ist. Durststrecken, Irrfahrten und Hindernisse lassen allein schon die Reise zu jenem verwunschenen Tal zu einer Qual werden. Als sie dann endlich am Ziel ihrer Reise sind, können sie ihr Glück kaum fassen. Vom Rest der Menschheit bisher völlig unentdeckt, stoßen die Jäger auf die wohl größte Büffelherde des Westens. Und die große Jagd beginnt.
Der schiere Überfluss und die Verlockung vom schnellem Reichtum sorgen für ein Blutbad unter den Tieren. Schießen, häuten, schießen, häuten, schießen, häuten… Die Tage fließen im wilden Rhythmus des Schlachtens dahin und aus dem jungen Will Andrews wird ein Mensch, den er kaum wieder erkennt. Er wird zum Teil der Zerstörung durch Menschenhand, die im entscheidenden Moment Maß und Ziel aus dem Auge verliert.
Als der erste Schnee fällt, bemerken die Männer zu spät, dass sie nun Gefangene ihres Traums geworden sind. Eine Flucht aus dem Tal ist unmöglich. Für ein Bleiben sind sie nicht gerüstet. Nun beginnt auch für sie der harte Kampf ums Überleben, in dem sie zum ersten Mal auch die Menschen wahrnehmen, mit denen sie unterwegs sind. Dafür war bisher kaum Zeit. Ein dichter psychologischer Mantel hüllt die Jäger und ihre Hoffnungen ein und bringt ans Tageslicht, was bisher im Blutbad der Büffeljagd verborgen war.
John Williams (1922 – 1994) wird gerade neu entdeckt. Seit der Veröffentlichung seines Meisterwerks „Stoner“ haben die Leser den wilden, direkten und doch auch stellenweise idealistisch romantisierenden Stil des Autors für sich entdeckt. Ihm gelingt es, die wilde Landschaft fühlbar zu machen, er schreibt seine Leser in den tiefen Frost einer Winternacht und taut sie mit selbst formulierten Sonnenstrahlen wieder auf. Er skizziert keine Charaktere, sondern lässt uns tief in die Denkwelten seiner Figuren eintauchen. Der Autor hat unser Pferd gesattelt und uns die Zügel in die Hand gegeben, aber die Richtung unserer Reise bestimmt er ganz alleine.
Kein Wunder, dass am Ende des grandiosen Natur-Romans nicht nur der Schnee zu schmelzen beginnt. John Williams entlässt seine Leser verändert in die Realität. Er hat in einem Winter wirklich alles verändert. Menschen, Städte, das ganze Land und die eigene Wahrnehmung. Er gibt dem Pferd von Will Andrews einen allerletzten, etwas wehmütigen Klaps und wir reiten mit ihm in den Sonnenuntergang. Allerdings nicht ohne zuvor einen Blick auf den Sinn des Lebens geworfen zu haben.
Und Francine schließlich sagen zu hören… „Aber ich habe mich geirrt. Du hast dich verändert. Du hast dich so verändert, dass du zurückgekommen bist.“
John Williams gelang mit „Butcher`s Crossing“ ein elegischer Rückblick auf die Zeit des Wilden Westens an der Schwelle seines Untergangs. Und mit dem Land gingen die Menschen unter, die es noch in dieser Form erleben durften.
„Man wird mit diesem Land nicht fertig, solange man sich darin aufhält; es ist zu groß, zu leer, und es sorgt dafür, dass in einem Lügen aufkommen. Man muss von hier fort, ehe man damit fertigwerden kann. Und keine Träume mehr…“
Pure Literatur: John Williams und „Augustus“ und „Stoner“ auf AstroLibrium. Und last but not least sein Debüt „Nichts als die Nacht“ – Der Kreis ist geschlossen.