„Ich bin kein Brasse mehr“, war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, nachdem er seine Nummer bekam. „Ich bin nur noch Häftling Nummer 3444.“
Reduziert auf eine Nummer. Aussortiert. Inhaftiert. Deportiert. Konzentriert. Brasses erster Blick fällt auf den Schriftzug über dem Lagertor: „Arbeit macht frei“. Danach durchmisst er die unglaublichen Ausmaße eines Areals, das für zahllose Gefangene errichtet worden sein musste. Am 31. August 1940 wird aus dem erst 23-jährigen Polen Wilhelm Brasse der politische Inhaftierte 3444 im Konzentrationslager Auschwitz. Eine Nummer, ein kahl rasierter Schädel und Häftlingskleidung lassen ihn in der Masse der todgeweihten Lagerinsassen untergehen.
Von Wilhelm Brasse, dem lebenslustigen aufrechten und heiteren jungen Mann ist nach den entwürdigenden Strapazen der Deportation nicht mehr viel übrig. Und das Ziel der Machthaber ist noch klarer definiert. Nichts sollte mehr übrig bleiben von ihm und den anderen. Zumindest Wilhelm Brasse hätte sich anders entscheiden können. Sein Vater Österreicher, seine Mutter Polin. Eine Unterschrift im von den Nazis besetzten Polen hätte ausgereicht, ihn zum Deutschen zu machen. Er verweigerte sich bewusst und trug die Konsequenzen. Nummer 3444. Nun geht der gelernte Fotograf den Weg der Deportation.
Schnell wird ihm klar, dass sich dieses Lager von allem unterscheidet, was er jemals über Gefängnisse gehört hatte. Die Arbeitskommandos denen er zugeteilt wird dienen in erster Linie ausschließlich der Zermürbung der Inhaftierten. Hygiene, Ernährung und Medizin werden auf ein Maß heruntergeschraubt, das ein qualvolles Dahinsiechen im KZ Auschwitz beschleunigt. Eine Todesmaschine, die erst ihren Betrieb aufgenommen hat und sich zu einer von vielen industriellen Vernichtungsfabriken der Nazis entwickeln sollte.
Wilhelm Brasse kämpft um sein Leben und mit viel Glück gelingt es ihm durch den eigenmächtigen und gewagten Wechsel von Arbeitskommandos durch einen puren Zufall für eine Tätigkeit im KZ ausgewählt zu werden, die zumindest sein Leben sichert. Solange er nur gehorcht und funktioniert. Wilhelm Brasse wird „Der Fotograf von Auschwitz“ und ist fortan dafür verantwortlich, dass alle Neuankömmlinge fotografiert werden. Drei Porträt-Aufnahmen von jedem Opfer. Mit Kopfbedeckung im Profil. Ohne Kopfbedeckung im Profil und frontal in die Kamera schauend. Eine Karte im Bild, auf der man Haftgrund, Nummer und den Namen des KZs erkennen kann.
Lückenlose Nazi-Bürokratie erfordert lückenlose Dokumentation und gute Bildqualität unter unsäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen bei täglicher Todesangst. Brasse wird zum Zeugen der Massenvernichtung (nicht nur) jüdischen Lebens. Er wird Zeuge der Erniedrigung von Menschen, die durch das dichte Raster der braunen Machthaber gefallen sind. Behinderte, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, politisch Andersdenkende. Wilhelm Brasse hat zu funktionieren. Nur drei Minuten pro Bildserie. Drei Minuten pro Opfer, von denen er genau weiß, dass sie unrettbar verloren sind. Drei Einstellungen als letztes Lebenszeugnis.
Er blickt ihnen in die Augen. Bannt ihren verunsicherten Blick für immer auf die Bilder, die nur zum internen Gebrauch gedacht waren. Helfen konnte er keinem einzigen Opfer. Es hätte sein Leben gekostet. Einzig diese drei Minuten blieben ihm, um die Menschen zu beruhigen. Ihnen ein kurzes Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Seine Arbeit jedoch verändert sich im Laufe der Jahre. Bald werden Juden nicht mehr fotografiert und registriert, da sie sofort nach ihrem Eintreffen im Konzentrationslager vergast werden. Die Menschenversuche Mengeles erfordern ebenfalls eine saubere Dokumentation und Brasse sieht und fotografiert, was kein Mensch anschauen oder fotografieren könnte.
Kurz vor der Befreiung des Lagers durch die Sowjetarmee am 27. Januar 1945 erhält er den Befehl, alle Beweise zu vernichten und die Bilder zu verbrennen. Brasse lehnt sich auf. Er wird zum Kämpfer für das Erinnern und rettet einen Großteil der Fotos, die er selbst gemacht hat. Er rettet die Geschichten vieler einzelner Opfer. Er rettet die Identitäten und liefert unbestechliche Beweise für die unmenschlichen Verbrechen in Auschwitz. Zehntausende Gesichter überleben als Fotos mit Wilhelm Brasse den Holocaust und werden zu den wichtigsten Zeitzeugnissen. Augenzeugen im wahrsten Sinne des Wortes.
Wenn man heute über Wilhelm Brasse spricht oder schreibt, dann muss man sich vor Augen halten, was diese Zeit im KZ Auschwitz aus ihm gemacht hat. Er hat die Gesichter der Todgeweihten nicht nur für immer festgehalten, sie haben sich auch in seinem Inneren eingebrannt, weil er nicht helfen konnte. Seine Mission begann später. Er sprach über die Opfer, gab den Gesichtern ihre unverfälschten Geschichten zurück und legte Zeugnis ab, um das Erinnern zu ermöglichen. Wer heute über den Mann schreibt, der die Menschen vor seinem Objektiv in den Fokus rückte und sich selbst dabei im Hintergrund hielt, der muss in besonderer Weise darauf achten, neben dem Fotografen auch den Opfern von einst gerecht zu werden.
Reiner Engelmann schrieb über Wilhelm Brasse. „Der Fotograf von Auschwitz – Das Leben des Wilhelm Brasse“ (cbj) schildert diesen einzigartigen Augenzeugen, der uns zu Augenzeugen macht, ohne jegliche Fiktionalisierung oder Ausschmückung, ohne zusätzliche Dramatisierung oder Heroisierung. Engelmann hat sehr präzise recherchiert, Gespräche mit Wilhelm Brasse geführt und sich selbst vor Ort in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz einen Überblick verschafft, was Brasse täglich sehen konnte und versucht, ein Gefühl für diesen besonderen Menschen zu entwickeln, der am 23.10 2012 verstarb. Es blieben seine Bilder, Aufzeichnungen und die veröffentlichten Videos seiner Interviews. Es blieben die Porträts, die ihm wichtiger waren, als seine eigene Geschichte.
Reiner Engelmann gelingt mit seinem Buch, was Brasse mit den Fotos gelang. Der Autor zieht sich weit zurück. Man fühlt ihn kaum. Er wird zum Chronisten eines Lebens und vermittelt die ungeschönten Wahrheiten vor und hinter der Kamera. Im Fokus von Reiner Engelmann verschwimmen weder Opfer noch Täter. Er zeichnet Wilhelm Brasses Leben nach, führt die Nazi-Schergen ins helle Licht und gedenkt der Opfer, deren Bilder so oft für sich selbst sprechen. Diesen Raum lässt er ihnen.
Engelmann schreibt kein Wort zu viel. Er interpretiert und fantasiert nicht, sondern liefert für diejenigen Leser, die sich bereits intensiv mit dem Thema beschäftigt haben zusätzliche Informationen, die auf einer mehr als fundierten Recherche und einer klaren Methodik im Vorgehen basieren. Dabei widmet er sich den kurzen, jedoch intensiven Episoden und Schlaglichtern, die Wilhelm Brasse hinter der Kamera erleben musste, in ebensolcher Knappheit. Drei Minuten blieben Brasse pro Bild. Drei bis vier Seiten benötigt Engelmann für die Beschreibung einzelner Kapitel des Grauens. Er muss nicht mehr schreiben. Diese Struktur wird den Opfern gerecht. Ebenso, wie demjenigen, der sie nur zu fotografieren hatte. Dieses Album ist ein Blick in den realen Abgrund.
Reiner Engelmann legt ein der Wahrheit verpflichtetes Buch vor, das besonders auch für junge Leser immer nachvollziehbar und nah bleibt. Er ordnet Fakten präzise ein und bringt das Auschwitz-Album in einen klaren zeitlichen Bezug zur Zwangsarbeit von Wilhelm Brasse. Wir werden Zeuge der Begegnung zwischen dem Fotografen und dem Mädchen, von dem nur diese Momente blieben. Czeslawa Kwoka, über die ich einen emotionalen Artikel des Aufschreis geschrieben habe, weil ein anderes aktuelles Buch über den Fotografen von Auschwitz die Fakten so sehr verfälschte, dass die Erinnerung an Czeslawa beschädigt wurde. (Siehe Artikel)
Danke Reiner Engelmann für diese Kapitel in Ihrem Buch. Danke, dass dieses Buch dem wahren Erinnern an die Opfer des Holocaust keinen Filter vor die Linse hält, der alles verzerrt. Der klarsichtige Blick wird der Bedeutung der Fotografie, der Bedeutung eines Menschenlebens und der Hoffnung, dass sich die Geschichte niemals wieder in solcher Dimension wiederholen kann, gerecht. Hier liegt endlich der Beweis in meinen Händen, der die Kritik an der Publikation zweier italienischer Autoren bestätigt.
Wenn man sich für das Leben des Fotografen von Auschwitz interessiert und die Gesichter der zum Tode verurteilten verkraftet, dann sollte man auf dieses Buch zurückgreifen. Es ist die wahre Geschichte in all ihren Facetten und realen Dramen. Eine große Autorenleistung, die einen Menschen in den Vordergrund stellt, der sich dort nie gesehen hat. Der Fotograf von Auschwitz wird uns durch unser gemeinsames Projekt „Gegen das Vergessen“ als konstantes Schwerpunktthema begleiten. Es ist der mehr als gelungene journalistische Versuch, eine unfassbare Geschichte aus der geheimen Dunkelkammer des Nationalsozialismus ans Licht zu bringen und sie den Menschen zu erzählen, die heute nicht mehr glauben können, was damals geschehen ist.
Reiner Engelmann hat das Negativ von Wilhelm Brasse entwickelt, damit wir uns heute ein Bild von diesem mutigen Mann machen können, ohne den diese Fotos niemals überdauert hätten. Im Lebensalbum dieses Buches hat Reiner Engelmann nicht nur Czeslawa Kwoka, sondern auch uns allen etwas Verlorenes zurückgegeben. Ihr die Würde des Erinnerns und uns den Glauben an aufrechten Journalismus.
Ich danke Peggy Steike für den beharrlichen Rückhalt, die unglaublich intensive Wegbegleitung und den gemeinsamen Schritt in die Zukunft unseres Projekts. Wir werden wohl nie vergessen, wie viele Tränen beim Malen und Schreiben über die Bücher zu Wilhelm Brasse geflossen sind…
Nachtrag: Eine wichtige Stimme zu diesem Buch ist absolut lesenswert. Anja Schmidt rezensiert auf ihrem Literaturblog Zwiebelchens Plauderecke mit Gefühl und Spürsinn. Auch zu Reiner Engelmann hat sie umfassend geschrieben. HIER.