“Der bleiche König” (orig. The Pale King) – der totale literarische Gegenentwurf zu „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace hat mich viele Wochen lang begleitet und tiefe Eindrücke hinterlassen. Es ist ebenjener David Foster Wallace, der am Ende seiner Kraft, gezeichnet vom unerträglichen Leidensdruck seiner Depressionen und nach unzähligen vergeblichen Therapieversuchen seinem Leben am 12. September 2008 ein Ende setzte und sang- und grablos von der großen Bühne der Weltliteratur verschwand.
Es ist jener David Foster Wallace, der unvollendet aus seinem Leben schied. Er ließ neben seiner geliebten Frau und seinen beiden Hunden eine ganze Garage voller Manuskript-Fragmente zurück, die erst nach sehr intensiver und umfassender Sichtung durch Experten einem neuen Werk zugeordnet werden konnten. Es sind seine allerletzten Worte als Schriftsteller. Es sind mehr als große Worte und sie stellen sein literarisches Vermächtnis dar. In den USA avancierte der Roman “The Pale King” zum viel bejubelten Bestseller, wurde sogar für den Pulitzer-Preis nominiert und selbst schärfste Foster Wallace-Kritiker strecken inzwischen reihenweise ihre Waffen.
David Foster Wallace hat mit seinem großen Lebenswerk meinen Lebensweg verändert, so wie seine legendäre College-Abschlussrede „Das hier ist Wasser – Eine Anstiftung zum Denken„ das Leben junger Schulabgänger verändert hat. Seinen letzten Roman lesend, wurde mir jedoch schnell klar, dass ich dieses große Fragment-Puzzle nicht rezensieren kann, wie einen in sich geschlossenes Roman. Ich habe meinen Weg in seinen Etappen für mich festgehalten und veröffentliche meine Gefühle, Assoziationen und Erlebnisse als Leser von „Der bleiche König“ (Kiepenheuer und Witsch). Aber auch dieses Mosaik ergibt ein Bild – Das Bild meines Lesens!
Vielleicht kann ich auch Euch verführen – und wenn nicht, dann warne ich vor den Büchern von David Foster Wallace… Im Folgenden könnt ihr sehen, was sie mit ihrem Leser anstellen. Lasst uns einfach beginnen:
Emotional wird „Der bleiche König“ für mich bereits im Vorwort des Autors. Er tritt erstmals in einem seiner Bücher persönlich auf und spricht mich an. Nach einem langen gemeinsamen Lesensweg, und um das tragische Ende seines Lebensweges wissend, ist dies ein Moment, der sich tief ins Herz eingräbt:
„Aber das bin ich jetzt als echter Mensch, David Wallace, vierzig Jahre alt… und ich wende mich an sie, um ihnen mitzuteilen: Dies ist alles wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr.“
HALLO DAVID, SCHÖN DICH ZU LESEN. Ich lasse mich auf Dein Spiel ein… jetzt.
Was für ein wundervolles Spiel… was für eine einzigartige Verwirrung… was für eine Konfusion, die mich schon zu Beginn des Romans beschleicht:
„Die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse sind fiktiv!“
Diesen Haftungsausschluss kennt man ja schon. Was aber, wenn der Autor eines Romans eigenhändig auf Seite 73 auftaucht (und damit natürlich auch wieder als fiktiv zu bewerten ist) und behauptet: „Dies ist alles wahr“ (was natürlich demnach ebenfalls fiktiv ist). Umschlossen vom Haftungsausschluss liest man diese fiktiven Zeilen und taucht tief in der Welt eines David Foster Wallace…
Aber er wäre nicht er, wenn er nicht für helle Aufregung sorgen würde, indem er still und leise behauptet, dass das einzige fiktive Element des Romans der vorgebrachte Haftungsausschluss im Impressum des Buches sei.
Damit hebt er den Roman selbst auf die Ebene eines Sachbuches, ja, gar einer Autobiografie und wir dürfen nur zweifeln, ob er das auch wirklich so meint, wie er es schreibt. Denn wenn dem so sein sollte, dann ist der Haftungsausschluss der kürzeste Roman der Literaturgeschichte und ist doch nur Einleitung für ein eigenständiges biografisches Werk.
Herrlich – traue nie einer Verpackung, lasse dich in den Inhalt treiben und dort warten die wahren Überraschungen. Wie im Leben ereilt den Leser auch hier die Erkenntnis an einer Stelle im weit fortgeschrittenen Flickenteppich eines prachtvollen Gobelins aus meisterlicher Feder. Im Vorwort des Autors… auf Seite 73 unmittelbar nach Kapitel (§) 8!!!
Anmerkung [1]: Diese Zeilen von mir sind nicht fiktional… Absolut nicht… Nur ich selbst bin inzwischen fiktiv, womit sich ein Haftungsausschluss völlig erübrigt…
David zu lesen ist für mich immer noch eine Mischung aus purem Vergnügen und harter geistiger Betätigung. Es erschöpft und befreit zugleich. Und dabei ändert jede Zeile die Selbsteinschätzung und den tiefen Glauben an die absolute Perspektive in einer großen Geschichte… Entschuldigung, ich beginne wieder abzuschweifen, aber es geht nicht anders…. Absentiertes Lesen führt zu isolierten Bildwelten…..
Es geht nur langsam… Das Lesen unter intensiven Bedingungen… immer mal ein paar Seiten. Aber wenn ich dann in den ruhigen Minuten in „Der bleiche König“ von David Foster Wallace eintauche, dann komme ich genau in diesen Minuten in einer eigenen Welt an und betrete eine einsame Insel.
Protagonisten fliegen an mir vorbei und hinterlassen dauerhafte Spuren. Die kleine Toni Ware, ein junges Mädchen, dessen Leben von Missbrauch gekennzeichnet ist und unter dem Motto „Im einen Auto gezeugt – im anderen geboren“ steht. Ein junger Mann, der so gut und warmherzig ist, dass er seine Umgebung mit seinem Gutmenschentum in den Wahnsinn treibt und ein junges Pärchen, dem der Mut zur Liebe fehlt, was einem ungeborenen Leben das ungeliebte Leben kosten wird.
Es geht langsam – das Lesen – aber jedes Wort auf dieser einsamen Insel erinnert mich an vieles und weckt Gefühle, die ich kenne, wenn ich mich in David verliere. Es ist ein abstinentes Lesen, da man anderen Büchern für lange Zeit entsagen muss. Es ist ein weitgehend einsames Lesen, da man kaum auf Menschen trifft, die David in der Hand halten.
Es ist ein einzigartiges Lesen, da es einzig ist und bleibt. Während vieles andere verschwimmt und sich entgrenzt… David ist und bleibt David…
Nachdem man schier verzweifelt auf der Suche nach dem eigentlichen Protagonisten des Romans ein wenig unschlüssig über der Druckfahne liegt, beginnt sich die Einsicht mit Donnerhall seinen Weg zu bahnen…
In zeitlosen Rückblenden und Zeitsprüngen von Schicksal zu Schicksal zeigt sich die eigentliche Dynamik der Handlung. Wenn eine starre Steuerbehörde als Institution den Kern des Buches bildet, dann sind alle Individuen die eigentlichen Protagonisten und wir erfahren, dank David Foster Wallace, mehr von ihnen, als uns lieb sein kann. Sie purzeln an uns vorbei, aber sie hinterlassen bleibende Eindrücke.
Es handelt sich nicht um Abziehbilder ihrer Selbst… Sie sind greifbar mit all ihren Schwächen und der einzigartigen Vita, die jedem Charakter zugrunde liegt. Erst so können wir uns vorstellen, welche Einzelschicksale sich in der Behörde versammelt haben, um ihrem langweiligen Job nachzugehen…
Nehmen wir David Cusk, dem es in seiner Jugend eigentlich ganz gut geht. Wäre da nicht ein Leiden, das ihn – in sich und in seinem Umfeld – zum Außenseiter werden lässt. Er schwitzt. Er transpiriert nicht, nein, er schwitzt wie ein Schwein und das in den unmöglichsten Situationen. Der Schweiß fließt ihm in endlosen Sturzbächen über das verzweifelte Gesicht und er versucht unzählige Tricks, um sein Leiden zu besiegen.
Er hält sich von Heizungen fern, geht nur im Hemd durch die winterliche Landschaft oder packt sich in Zwiebelschichten aus Bekleidung ein, um mehr ausziehen zu können, wenn das Wasser fließt. Und das Schlimmste überhaupt… je mehr er an seine Schwäche denkt, desto intensiver wird die Gefahr eines Schweißausbruchs. Es ist wie mit jedem Schicksalsschlag… je mehr Gedanken man verschwendet, desto größer wird die Angst…
Und schon fließen auch dem Leser die ersten zarten Rinnsale den Rücken herunter und man erwischt sich, wie man sich die Stirn immer häufiger abwischt… Im Schweiße meines Angesichts lese ich weiter und versuche dabei absolut erfolglos die Gedanken an Schweißperlen zu verdrängen….
Und noch mehr verdränge ich den Gedanken daran, wie dieser Junge später in feinem Anzug in einer Steuerbehörde überleben kann…. Da läuft mir der kalte Schweiß den Rücken runter….
Jetzt transpiriere ich schon wieder vor mich hin. Es fließt halt einfach so…
Ein Roman, in dessen Mittelpunkt die oberste Steuerbehörde eines Landes steht beschäftigt sich fast zwangsläufig auch mit denjenigen „Kunden“ dieser Institution, die ein lockeres Verhältnis zur geltenden Rechtsauffassung haben.
Und hier ist David so zeitlos und präzise, wie man es sich nur wünscht. Denke ich an einen ganz bestimmten „Steuersünder“ in unserem Land, der kaum verstehen kann, warum eine Selbstanzeige nicht automatisch einen (auch moralischen) Freispruch nach sich zieht, dann empfehle ich die folgenden Zeilen genau zu lesen und sie sich auf der geneigten Steuerzahler-Zunge zergehen zu lassen:
„Wenn Sie die Einstellung eines Menschen zu Steuern kennen, dann können Sie sich einen Begriff von (seiner) ganzen Philosophie machen. Wenn man das Steuerrecht erst einmal durchdrungen hat, umfasst es das ganze Wesen des (menschlichen) Lebens: GIER, POLITIK, MACHT, GÜTE, BARMHERZIGKEIT…“
Diese Zeilen im Kopf ändern meine Perspektive deutlich. David Foster Wallace schickt seine Botschaft auch nach Bayern. Man muss sie nur verstehen, dann versteht man die Maßlosigkeit anders… nämlich als selbst gewähltes Maß der Dinge… Ich denke zu viel in diesen Tagen, aber auch das geht vorbei…
Besonders interessant ist dieser Gedanke, wenn man sich vor Augen hält, dass ebenjener mutmaßliche Maßlose vor Jahren einem nicht ganz namenlosen Fußball-Trainer wegen Drogenkonsums Unzuverlässigkeit in allen Lebenslagen unterstellt hat…. pars pro toto… Nun muss er Ähnliches zu seiner Integrität erdulden… moralisch im Abseits… und die Schiedsrichter haben es bereits gepfiffen…
Wo liegt die wesentliche Stärke eines Jahrhundertromans?
Einerseits sollte er einzigartig sein und andererseits mit völlig neuen Perspektiven aufwarten. Nehmen wir zum Beispiel den komplexen Apparat der US-amerikanischen Steuerbehörde. Fragt man die Bürger des Landes, dann handeln in ebendieser Behörde absolut gesichtslose Akteure, die im System so sehr aufgegangen sind, dass sie ihre Identität nur noch an der eigenen Steuernummer festmachen.
Und nun kommt ein Autor, der nicht nur den Blick hinter die Kulissen wagt, sondern sich selbst in die Rolle eines dieser kleinen Institutions-Rädchen versetzt. Er erzählt aus seiner Sicht und verleiht den bleichen Schicksalen der Behörde eine ungeahnte Tiefe. Wer sich auch immer verzweifelt auf die Suche begeben mag, wer denn nun der wahre „Held“ des Romans ist, der wird sich schnell mit dem Gedanken anfreunden, dass die Suche nach dem Ganzen den Blick auf das Mosaiksteinchen schärft und es auf diese Weise gelingt, jedes noch so kleine Steinchen zum Hauptdarsteller mutieren zu lassen.
Allein die Vorstellung, dass man am Ende des Buchs nicht nur unfassbar viele Akteure mehr als gut kennt, versteht und nicht beneidet.. Man hat ihren Weg verfolgt und liest sich in ein System hinein, das nicht ansatzweise so komplex ist, wie jeder einzelne seiner Mitarbeiter.
David Foster Wallace gelingt wirklich ein großer literarischer Wurf... Er spiegelt einen Roman in Richtung seiner Leser, denn wer von uns hatte noch nie das Gefühl, nur anonymer Teil einer Masse zu sein… unterzugehen im System und schließlich auch ersetzbar durch das nächste willfährige Rädchen, das sich frisch geschmiert in Rotation versetzen lässt?
Ein gesellschaftspolitisches Meisterstück, weil man gar nicht merkt, dass es eines ist. Indirektes Lesen… das Verständnis kommt ungezügelt genau dann, wenn man es am wenigsten erwartet… Und so macht er den Protagonisten seines Romans das schönste Geschenk: er verleiht ihnen Identität; Kontur; Ecken und Kanten…. sie leben….Und weil sie leben, beginnen auch die Leser des Romans wieder zu leben… aufzuatmen und sich nicht mit dem System abzufinden… großartig
David Foster Wallace ist kafkaesk….
Was er aber mit Franz Kafka gemeinsam hat? Ein Versuch der Annäherung:
Kafka gehört zu den größten, aber auch umstrittensten deutschen Autoren. Von Schülern gleichermaßen ungern gelesen, zutiefst gehasst und verflucht, da sie sich der Deutungshoheit der allwissenden Lehrkörper zu unterwerfen haben. Doch Kafka trifft keine Schuld.
Kafka hatte testamentarisch die Veröffentlichung seiner fragmentarischen Romane untersagt. Er wollte nicht, dass sie gelesen, gedeutet, zerfleddert oder kritisiert werden. Kafka muss genau gewusst haben, was mit seinen Unvollendeten passiert. David Foster Wallace nahm sich das Leben, bevor „Der bleiche König“ beendet war. In der Garage fand man die Manuskriptseiten, ordnete sie und veröffentlichte sie in der Hoffnung, dem Fragment einen Sinn gegeben zu haben.
Er konnte sich nicht dagegen wehren und falls heute jemandem dieses Buch nicht gefällt… immer daran denken… es ist kafkaesk, weil unvollendet und es lag nicht in der Absicht des Verfassers es so veröffentlicht zu sehen. Dies sollte man bedenken, wenn man leichtfertig schreibt… „unverständlich… unlesbar… was soll das…“
Davids Fragment ist ein fast fertiges Mosaik... ein gewaltiges Bild, auf und in dem man sich bewegen kann. Ein Kunstwerk – ich bin froh, dass man ein Buch daraus gemacht hat! Sehr froh… Franz Kafka und David Foster Wallace – Fragmentaristen auf der Suche nach dem großen Ganzen…
Nun hatte er endlich seinen schillernden ersten Auftritt. Der bleiche König, derjenige, der im undurchschaubaren System der US-amerikanischen Steuerbehörde alles, aber auch wirklich alles zu durchschauen scheint. Ja, die ultimative graue Eminenz Glendenning lässt im Gespräch mit ahnungslosen Mitarbeitern Weisheiten vom Stapel, die den Kern jeder modernen Demokratie im Kern erschüttern.
„Frag nicht was dein Land für dich tun kann… frag dich, was du für dein Land tun kannst!“ Diesen legendären Ausspruch von John F. Kennedy als roten Faden in der Hand haltend erteilt uns David Foster Wallace aus der klaren Perspektive Glendennings einen staatsbürgerlichen Unterricht allererster Güte.
David knüpft hier an die unfassbare Tiefe seiner legendären College-Abschlussrede „Das hier ist Wasser – eine Anstiftung zum Denken„ an, die in ihrem genialen Perspektivwechsel Generationen junger Studenten beeinflusst und spiegelt dabei seine Haltung gegenüber Regierungen und Regierenden auf den Leser zurück.
Allein dieses Kapitel macht das gesamte Werk mehr als lesenswert.
Die Individualisierung des Menschen, der ständig wachsende Ich-Bezug und die Kritik am gewählten System sind Ursachen für die Wurzeln des Übels einer Demokratie. Nicht mehr das Gemeinwohl zählt… nein… durch Votum bei einer Wahl überträgt man diese sozialen Aufgaben dem Staat. Nur um dann genau gegen diese gesellschaftlich übertragenen Aufgaben zu rebellieren.
Steuerhinterziehung, Umweltverschmutzung und Kriminalität... Symptome einer kranken Gesellschaft, in der jeder nur noch auf sich schaut, aber doch voll berechtigtes Mitglied einer Gesellschaft sein möchte, wenn es darum geht, Sozialleistungen zu empfangen…Man sollte David zuhören… er spricht nicht nur von den USA… ein unfassbar facettenreiches Buch…!
Es tut nicht weh!!!!!!!
Kaum kümmert sich das Feuilleton um den letzten Roman von David, kaum werden intellektuelle Leseschleifen angelegt, da entsteht auch schon der bleibende Eindruck, dass man es mit einem Buch für die literarische Elite unseres Landes zu tun hat. Vergleiche und Interpretationsansätze scheinen bezwecken zu wollen, dass der jeweilige Kritiker mit seinen jeweiligen Ergüssen signalisiert, dem Werk gewachsen und damit auch würdig zu sein.
DIESES BUCH IST NICHT ELITÄR!
Ich selbst gehöre definitiv nicht zur geistigen Elite dieses Landes – ich lese gerne ganz normale Romane und vertiefe mich in leicht greifbare Stoffe. Ich lese David Foster Wallace so leidenschaftlich gerne, weil ich ihn verstehe und er mich anspricht. Nicht gefährlich ist dieses Buch – wie man auf dem Bild sieht, man kann es sogar anfassen, ohne dass es dem Leser die Hand verbrennt. Es ist keine obskure Scharlatanerie, die hier betrieben wird und es ist in sich verständlicher als manch leicht zugängliches Werk.
ABER: Es verankert sich tief im Gedächtnis, es haftet sich fest, nistet sich ein und in den alltäglichsten Situationen wird man von Bildern angesprungen, die man eben noch gelesen hat. Das ist nicht elitär. Man ist auch niemand Besonderes, wenn man sich mit der Aura dieses Romans umgibt. Es ist letztlich nur ein Buch. Eines in einer ganz besonderen Art und von unfassbar seltener Struktur. Nicht der Autor gibt den Weg des Verstehens vor. Der Leser darf dies ganz alleine bewerkstelligen. Man legt sein eigenes Mosaik und ist Herr der eigenen Deutungshoheit.
WANN HAT MAN DAS SCHON?
Ich habe es angefasst und lege genau diese Hand für David Foster Wallace ins Feuer.
„Wobei ich ja finde, ab einem gewissen Punkt sollte man einfach die Zähne zusammenbeißen und das Blatt, das man vom Leben erhalten hat, nach bestem Wissen und Gewissen ausspielen.“
Chris Fogle im 22. und absolut längsten Kapitel des Romans.
Die Annäherung an diesen jungen und rebellischen Mann fällt nicht leicht. Es ist umständlich, ihm durch Drogenkonsum und hunderte verpasste Lebenschancen, von Schulabbruch zu Schulabbruch zu folgen und sich dabei selbst als Spielball seiner Eltern sehend. Wir hätten ihn der sogenannten 68er Generation zugeordnet. Rebellisch und sich gegen Autoritäten auflehnend und trotzdem wie die Made im Speck im Hause der Eltern lebend. Ein Kampf gegen das System – aus dem System heraus. Bequem eben.
Und dann steuert dieses Kapitel mit Vater und Sohn in einen U-Bahnschacht… man ist in Eile… die Bahn muss erreicht werden, doch der Sohn lässt sich in stillem Protest ein bisschen zuviel Zeit. Vater wartet eine Sekunde zu lange. Eine Tür schließt sich. Ein Arm des Vaters im Wagen, der Rest des Vaters auf dem Bahnsteig. Langsame Abfahrt. Langsames Laufen. Doch bei ganz genau 87 km/h kann man das Laufen nicht mehr als solches bezeichnen.
Der Tod kommt rasend schnell und doch in einer literarischen Genialität verfasst, dass man eigentlich fliegt und doch in Zeitlupe zuschaut. Der Tod kommt unfassbar brutal. Ebenso brutal wie jahrelange Rechtstreite mit Bahnbetreibern und Gutachtern. Verantwortungskultur in Reinform.
Der Schuldige….? Nun, er muss damit leben, einen kleinen Moment zu lange zu still und zu langsam gegen den Vater protestiert zu haben. Eine tragische und tödliche Sekunde, die alles verändert.
An manchen Lesetagen verfestigen sich Zitate aus dem großen letzten Buch unseres Lieblingsautors. Sätze wie Donnerhall, die eigentlich dem Schauplatz des Romans gelten: der amerikanischen Steuerbehörde und ihren Eigenarten als Institution nach innen und außen. Die Rolle der Mitarbeiter? Ganz klar auf den Punkt gebracht in einem Schlagwort, und genau diese Zeilen nimmt man mit in den Alltag. Fragend und zweifelnd – lachend wenn es nicht so ist, aber doch wachsam. Denn wehret den Anfängen:
„Wir suchen Zahnräder – keine Zündkerzen!“
Menschen in der aberwitzigen Welt unmenschlicher Großraumbüros:
„Das Auffallendste daran war die Stille. In dem Saal saßen mindestens 150 Männer und/oder Frauen, allesamt hoch konzentriert bei der Arbeit, und doch war der Saal so still, dass man eine Unregelmäßigkeit in der Türangel hören konnte… An die Stille erinnere ich mich am meisten, weil sie gleichzeitig sinnlich und unstimmig war…“
Auf der Suche nach meinem Highlight des Lesens werde ich bei „Der bleiche König“ sehr schnell fündig. Zurückgezogen und allein gelesen… intensiv inhaliert und täglich neu verarbeitet… tausende von Eindrücken gespeichert und eine unglaubliche Vielzahl von Inspirationen auslösend. Fühlend, riechend, schmeckend, schwitzend und rasend bin ich dem Roman gefolgt – und er mir.
DER BLEICHE KÖNIG von David Foster Wallace ist ein Buch, das auf den ersten Blick wie eine uneinnehmbare Festung wirkt, die aber beim intensiven Blick in jeden einzelnen Raum des Komplexes ganz neue Perspektiven gestattet und eine Welt voller Emotionen zeigt. Mit David hat für mich vieles begonnen. Seine Bücher haben mir die Augen geöffnet.
„Unendlicher Spaß“ war für mich Zeichen meines persönlichen Aufbruchs in eine Zeit an der literarischen Seite eines besonderen Menschen. „Der bleiche König“ stellt, wie ein sich schließender Kreis, den Schlusspunkt dieses Weges dar. Alles begann mit David und alles endet fünf Jahre später mit ihm. Was nicht endet, ist mein Weg an seiner Seite, denn ich hinterließ keine Garage voller Manuskripte. Ich trage sie immer bei mir. Auch wenn der letzte Satz geschrieben und das letzte Wort gesagt ist. Mein Lebenszitat aus seiner Feder wird zeitlos bleiben:
„Sie hat das Gesicht eines weiblichen Engels, weniger sexy als engelhaft, als hätte sich das Licht der ganzen Welt verdichtet und Gesichtsform angenommen. Oder so.“
Danke David – für alles…
„Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte – David Foster Wallace – Ein Leben„ von Daniel T. Max – Verlag Kiepenheuer & Witsch
Was ist, wenn man einen Schriftsteller vorbehaltlos verehrt? Was, wenn man fast alle seine Bücher und Essays gelesen hat? Was, wenn er Selbstmord begeht? Was, wenn euch dann jemand in einer Biografie diesen Menschen näherbringen möchte?
Ich hatte große Angst davor, dass diese Biofgrafie meine Bilder zerstört und mit Eindrücken überlagert, die ich niemals gewinnen wollte.
Warum ich die Angst verlor….