Günter Grass – Fundsachen für Nichtleser – Aquadichte

Fundsachen für Nichtleser - Günter Grass

Fundsachen für Nichtleser – Günter Grass

Wie gehen große Schriftsteller damit um, wenn eines ihrer Werke nicht nur heftig diskutiert, sondern von der breiten Öffentlichkeit und dem Feuilleton regelrecht zerfetzt wird? Es gibt wohl unterschiedliche Wege, ein solches Desaster zu verarbeiten. Vom Selbstmord über eine gezielte Gegenoffensive bis hin zur Auszeit auf einer einsamen Insel reichen die Alternativen. Jeder dieser Wege erfordert Kraft und Mut – nicht jeder Weg führt zurück zum Erfolg.

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Günter Grass musste 1995 erleben, was es heißt, wie eine literarische Sau durch das noch nicht wiedervereinigte Deutschland getrieben zu werden. Sein Roman „Ein weites Feld“ wurde nicht nur zu einem der meist diskutierten Bücher dieses Jahres, nein, es wurde im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft zerrissen. Und dies nicht nur symbolisch oder mit Worten!

Niemand Geringerer als der Godfather der Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, ließ sich unter der Überschrift „Mein lieber Günter Grass, ich muss sie erneut belehren“ auf dem Cover des Spiegel Magazins dabei zeigen, wie er das grass`sche Werk in Stücke zerreißt. Dem fast siebzigjährigen Nobelpreisträger Grass war das zu viel – und ehrlich… kennt man heute einen aktuellen Schriftsteller, dem dieses Spiegel-Cover am buchigen Hintern vorbeigegangen wäre? Ich nicht!

Fundsachen für Nichtleser - Günter Grass

Fundsachen für Nichtleser – Günter Grass

Von der Kritik nicht immer verwöhnt, oft selbst verschuldet gesellschaftlich teilweise dauerhaft im Abseits herumlaufend und trotzdem zu den ganz Großen der Weltliteratur gehörend, entschied sich Günter Grass für einen Rückzug aus der Öffentlichkeit, nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass „Ein weites Feld“ mit dem „Hans-Fallada-Preis“ geehrt wurde, und besann sich auf seine Fähigkeiten, die seit seinem Studium brach gelegen hatten.

Grass griff zu seinen Aquarellfarben und Pinseln und begab sich in die freie Natur. Aus dem Wortmenschen wurde wieder der alte Bildmensch, der so lange untergetaucht war. Sein eigener Garten, Dänemark und Portugal wurden zu den Reservaten der verletzten Seele und in den weit über 100 Aquarellen finden sich viele Spuren der Verbitterung, aber man erkennt auch deutlich wie sich der Geist zu befreien scheint, der Blick ungetrübter wird und die Schönheit scheinbarer Belanglosigkeiten eine ganz besondere Strahlkraft erhält.

Die Therapie beginnt zu wirken und in der Rückschau berichtet Günter Grass, wie sich seine Wahrnehmung neu fokussierte:

„Und auf einmal begann ich Farben zu sehen, die vielen Grün im Grün zu entdecken, des Himmels blau zu differenzieren, Zitronen Gelb in Gelb, Kirschen Rot in Rot zu malen. Es war, als wollte ich nun, abseits vom Reichtum der Grauwerte, die Welt neu entdecken.“

Fundsachen für Nichtleser - Günter Grass

Fundsachen für Nichtleser – Günter Grass

In dieser ruhigen Zeit entstanden wundervolle Landschaftsgemälde, aber auch die sogenannten „Fundsachen für Nichtleser“, das wohl zufälligste Erfolgsprojekt des großen Literaten, das nun in einer wundervollen sechsten Auflage im Steidl Verlag erschienen ist. Auf 117 Aquarellen findet zusammen, was zusammengehört. Wort und Bild gehen eine tiefe poetische und doch alltägliche Symbiose ein, die den Leser und Betrachter zum Nachdenken, Schmunzeln und Entschleunigen bringt.

„Alle Bleistifte angespitzt,
Wörter auf Abruf.
Und doch wird ein Rest
ungesagt bleiben.“

Aus scheinbar unwichtigen Alltagsgegenständen, wie Handschuhen, Reisetaschen, Schreibutensilien, Mausefallen, einer Olivetti-Schreibmaschine und sehr vielen weiteren Fundsachen aus Haus und Garten werden einfache Kunstwerke, die durch Gedichte und Aphorismen, die Günter Grass mit sanftem Pinselstrich in die Aquarelle hineinmalt mehrdimensionale Botschaften von zeitlosem Charakter.

Fundsachen für Nichtleser - Günter Grass

Fundsachen für Nichtleser – Günter Grass

Es sind wortwörtliche Einfälle, die sich zur Schau stellen und zeigen, was jenseits der Buchstaben ins Auge fällt“. Und Günter Grass wäre nicht Günter Grass, hätte er nicht auch noch einen Namen für diese Wortbildschöpfungen, die untrennbar miteinander verschmolzen sind. „AQUADICHTE“ hat er geschaffen. Gedichte die über die Aquarelle seiner Eindrücke fließen, sie ummanteln, sich einschmeicheln und sanft einrahmen. Worte, die neue Deutungen zulassen, aber eben auch Worte, die ohne die Aquarelle im Meer der bildlosen Geschöpfe versinken würden.

Es sind wahrlich wundervolle Fundstücke, die uns zum Denken, Fühlen, Lachen und Sinnieren bringen. Sie verleihen Gegenständen neue Gestalt und erfüllen sie mit Sinn. Ich musste sehr über die Schubkarre lachen, deren Artgenossen ich nun in Gärten meiner Nachbarn immer mit anderen Augen sehe, seit dich dieses Buch in Händen hielt.

„Vorsorglich sollte man eine Schubkarre
im Haus haben.
Plötzlich kommt ein altbekannter Feind
auf Besuch, fällt tot um;
wohin dann mit ihm?“

Grass ist Wortschöpfer, Gestaltgeber und Gestaltwandler. Er ist und bleibt ein großer Geist und den Fundstücken für Nichtleser folgte nur zwei Jahre später „Mein Jahrhundert“ – ein bildgewaltiges Kaleidoskop der deutschen Geschichte – individuell, greifbar und wundervoll aquarelliert.

Fundsachen für Nichtleser - Günter Grass

Fundsachen für Nichtleser – Günter Grass

Ich habe mich viel mit Günter Grass beschäftigt, hatte die Ehre ihm persönlich zu begegnen, besitze ein handsigniertes Exemplar der Blechtrommel und habe mich von den „Fundsachen für Nichtleser“ finden lassen. Ich kann seinen vielen Kritikern nur empfehlen, sich ebenfalls eine Auszeit zu nehmen, ihm auf die Insel der Aquadichte zu folgen und losgelöst vom Alltag, ebenjenen aus seiner Sicht und mit seinen Worten zu genießen

Und wenn dann doch am Ende das Tintenfass umkippt und ich seine Worte dazu lese, dann fühle ich ihn wieder ganz tief, „meinen“ Günter Grass, den ich so sehr verehre für sein Schreiben, den ich sehr kritisierte für sein Schweigen und dem ich noch viele Lebensworte und Aquadichte wünsche. Ihm gelingt, was nicht vielen großen Autoren gelingt… Er vermag es, mich mit ganz wenigen Worten zu verwandeln.

„Zum Abschied
habe ich meine Tinte umgestürzt.
Soll doch jemand der mir nachkleckert,
das Fäßchen auffüllen
und sich die Finger schmutzig machen.
Schreiben färbt ab.“

Fundsachen für Nichtleser - Günter Grass

Fundsachen für Nichtleser – Günter Grass

Ein ungewöhnlicher Weg, neue Kraft zu tanken? Ein Rückzug, der nur wahren Künstlern vorbehalten ist, die es sich leisten können, eine solche Auszeit zu machen? Ich denke nein. Dieses Buch ist ein deutliches Signal, sich seine eigenen Fundsachen zu suchen, den Alltag anders wahrzunehmen und sich unbeirrbar auf den eigenen Weg zu machen. Man kann malen, fotografieren, zeichnen, schreiben, fühlen! Jeder hat eine Begabung, die er längst vergessen glaubte.

Günter Grass zeigt uns, wie es geht. Und in einem zufälligen Vorgespräch zu diesem Artikel bestätigte mir Susi Naschke ganz heimlich „Vielleicht sollte ich meine Staffelei auch wieder hervorholen“ und schickte mir Fotos von den Bildern, die sie gemalt hat, wenn die Welt ihre Farbe verloren hatte. Ich habe aus diesem Buch, den Bildern und dem Gespräch mit Susi gelernt. Was will man denn mehr, wenn man auf „Fundsachen für Nichtleser“ stößt.

Was will man mehr, wenn man „nur“ ein Buch nichtlesen mag…. 😉

fundsachen für nichtleser günter grass spacer

Wenn ich sage „Ein Leserleben lang“, dann trifft dies meine persönliche emotionale Verbindung zu Günter Grass am besten. Seit der Schule bis zum heutigen Tag begleiten mich seine Bücher, Texte und Zeichnungen. Er hat mich beeinflusst. Hier geht es zu weiteren Artikeln aus meiner Feder. Und natürlich zu einer besonderen Begegnung auf der 55. Münchner Bücherschau.Es ist einiges auf unserem Mist gewachsen

Günter Grass auf der 55. Münchner Bücherschau - Hundejahre und mehr

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Und immer weiter mit meinem Herzensautor! Ich bin kritisch verliebt und bleibe es.

Ein Leserleben lang... Mit einem Klick zu meinen Grass-Artikeln...

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Und dann kommt er doch. Der Moment des leisen und trauigen Abschieds.

In memoriam Günter Grass - Die kleine literarische Sternwarte trauert

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Sein Vermächtnis: „Vonne Endlichkeit – Posthum erschienen und für mich viel mehr als nur ein Buch. Er arbeitete bis zuletzt und mit aller Kraft an diesem Werk.

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